Logen-Blog [196]: Eine zutrauliche Beata wird missverstanden
Es gibt auf wenigen Zeilen gleich mehrere köstliche Dinge: Amandus wird da als ein schlechter Psychologe bezeichnet[1]. Jean Paul findet für diese Unkenntnis, dieses Auseinanderklaffen zwischen Wirklichkeit und Anspruch, Realität und Realisiertem, eine schöne Sentenz: „Er hatte Delikatesse genug in seinen eignen Handlungen, aber nicht genug in den Vermutungen, die er von fremden hegte.“ Das macht: die Tatsache, dass Beata „zutraulich“ zu ihm war, als sie einmal krank darniederlag, was, so meint der Dichter, typisch sei für kranke Mädchen: es ist alles nicht so ernst gemeint. Zudem missdeutete er einen Brief, den Beata als Übersetzungsübung aufs Papier geworfen hatte. Das Schreiben an St. Preux, ausgezogen aus Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse[2], animiert ihn zu vergeblichen Hoffnungen. Sinnigerweise aber ist St. Preux jener Hauslehrer, der die junge Julie d'Étanges liebt, die ihn wiederum liebt.
Und wer erzählt die Geschichte von Beata? Eben.
Fatalerweise aber endet Rousseaus Geschichte nicht glücklich, sondern unglücklich. Der Hinweis auf St. Preux aber scheint mir zu verbürgen, dass auch diese Stelle nicht zufällig gewählt wurde. Nicht nur Amandus ist in einen Liebhaber vertiert – auch der Erzähler kann, gespiegelt, über seine Vertierung, seine Umwendung (in St. Preux nämlich) berichten.
Und Gustav? Er ist verwirrt, oder schöner: in seinem wogenden Kopf brach endlich die Nacht an, die außer ihm vortrat. Der Kosmos spiegelt sich wieder im Menschen, die Natur ist eine Menschennatur, die alles zusammenbindet: die Erdenwesen und die Sterne, die Elemente und die Nervenfasern. Amandus aber hasst plötzlich seinen Freund. Wäre er, sagt Jean Paul, nicht neben, sondern vor ihm gegangen, hätte die Liebe gesiegt – weil ein Menschenrücken durch den Schein von Abwesenheit mehr Mitleiden und weniger Haß mitteilt als Gesicht, Brust und Bauch. Das ist wirklich gut: Man kann die Menschen gar nicht oft genug von hinten sehen. Dieses Prinzip des Mitleids, das sich an eher zufällige Menschenansichten knüpft – es hat etwas Wahres, weil es sich emanzipiert von den Bedingtheiten eines subjektiven Stand-Punkts, von dem aus der Andere immer nur einseitig beurteilt werden kann.
Was für eine Beobachtungskunst! Und welch ein Unterschied zu armen Geschöpfen wie Amandus, die so schlechte Psychologen sind – freilich aus Leidenschaft. Und also muss auch der Leser ihm, mit Blick auf St. Preux und Julies Leidenschaft, Verzeihung gewähren.
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[1] Man hat leider fast täglich mit diesen zeitraubenden Leuten zu tun.
[2] Womit wir fast wieder an den Anfang zurückgekehrt sind.
Logen-Blog [196]: Eine zutrauliche Beata wird missverstanden>
Es gibt auf wenigen Zeilen gleich mehrere köstliche Dinge: Amandus wird da als ein schlechter Psychologe bezeichnet[1]. Jean Paul findet für diese Unkenntnis, dieses Auseinanderklaffen zwischen Wirklichkeit und Anspruch, Realität und Realisiertem, eine schöne Sentenz: „Er hatte Delikatesse genug in seinen eignen Handlungen, aber nicht genug in den Vermutungen, die er von fremden hegte.“ Das macht: die Tatsache, dass Beata „zutraulich“ zu ihm war, als sie einmal krank darniederlag, was, so meint der Dichter, typisch sei für kranke Mädchen: es ist alles nicht so ernst gemeint. Zudem missdeutete er einen Brief, den Beata als Übersetzungsübung aufs Papier geworfen hatte. Das Schreiben an St. Preux, ausgezogen aus Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse[2], animiert ihn zu vergeblichen Hoffnungen. Sinnigerweise aber ist St. Preux jener Hauslehrer, der die junge Julie d'Étanges liebt, die ihn wiederum liebt.
Und wer erzählt die Geschichte von Beata? Eben.
Fatalerweise aber endet Rousseaus Geschichte nicht glücklich, sondern unglücklich. Der Hinweis auf St. Preux aber scheint mir zu verbürgen, dass auch diese Stelle nicht zufällig gewählt wurde. Nicht nur Amandus ist in einen Liebhaber vertiert – auch der Erzähler kann, gespiegelt, über seine Vertierung, seine Umwendung (in St. Preux nämlich) berichten.
Und Gustav? Er ist verwirrt, oder schöner: in seinem wogenden Kopf brach endlich die Nacht an, die außer ihm vortrat. Der Kosmos spiegelt sich wieder im Menschen, die Natur ist eine Menschennatur, die alles zusammenbindet: die Erdenwesen und die Sterne, die Elemente und die Nervenfasern. Amandus aber hasst plötzlich seinen Freund. Wäre er, sagt Jean Paul, nicht neben, sondern vor ihm gegangen, hätte die Liebe gesiegt – weil ein Menschenrücken durch den Schein von Abwesenheit mehr Mitleiden und weniger Haß mitteilt als Gesicht, Brust und Bauch. Das ist wirklich gut: Man kann die Menschen gar nicht oft genug von hinten sehen. Dieses Prinzip des Mitleids, das sich an eher zufällige Menschenansichten knüpft – es hat etwas Wahres, weil es sich emanzipiert von den Bedingtheiten eines subjektiven Stand-Punkts, von dem aus der Andere immer nur einseitig beurteilt werden kann.
Was für eine Beobachtungskunst! Und welch ein Unterschied zu armen Geschöpfen wie Amandus, die so schlechte Psychologen sind – freilich aus Leidenschaft. Und also muss auch der Leser ihm, mit Blick auf St. Preux und Julies Leidenschaft, Verzeihung gewähren.
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[1] Man hat leider fast täglich mit diesen zeitraubenden Leuten zu tun.
[2] Womit wir fast wieder an den Anfang zurückgekehrt sind.