„Greece“. Eine Kurzgeschichte von Jana Jähnig
Jana Jähnig besuchte das Luisengymnasium München und hielt sich nach mehreren Auslandsaufenthalten und Minijobs in einem agrotouristischem Betrieb in Griechenland auf. Von 2018 bis 2019 besuchte sie die Berufsschule für Holztechnik und Innenausbau, danach ließ sie sich zur Schreinerin ausbilden. Freiberufliche Tätigkeiten als Barista, Rikschafahrerin und Schreinerin. Von 2022 bis 2023 hospitierte sie im Bereich Ausstattung/Bühnenbild im Theater Bremen für das Stück Das achte Leben. Jana Jähnig lebt in München.
Mit der folgenden Kurzgeschichte beteiligt sich Jana Jähnig an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge finden Sie HIER.
*
„Wohin fahren Sie?“, fragte sie mich auf Deutsch. Mit einem Gesichtsausdruck, der mir verriet, dass sie sich nicht sicher war, ob sie diesem alten, komischen Kauz vor sich überhaupt etwas zu sagen hatte. Dabei war ich doch nach Griechenland auf diesen Campingplatz gefahren, um meinem deutschen Alltag, einfach allem, zu entfliehen.
Ich war zufrieden gewesen, da ich keine heimatlichen Laute bemerkte und die Autos zwar unsympathisch wirkenden Franzosen und Italienern zu gehören schienen, die mich aber aufgrund sprachlicher Hindernisse wohl kaum anquatschten konnten. Ab und an erntete ich herablassend-mitleidige Blicke, da ihre Wohnmobile vierfach so groß waren, wie mein kleiner Renault Kangoo, in den eine Matratze, mein ganzes Zeug und überflüssigerweise, da ich alleine unterwegs war, zwei Menschen reinpassten.
Nun, nachdem mich diese junge Frau angesprochen hatte, schien sie ihren Fauxpas bemerkt zu haben und wies mich darauf hin, dass ich nun mal ein deutsches Kennzeichen hätte.
Sie war mir sofort unsympathisch, wie sie da vor mir stand in ihrer aufreizenden Kleidung und dem fragenden Blick. Deutsche ließen einen offensichtlich nie in Ruhe, egal wo man war. Ein fast durchsichtiger Rock bedeckte nur teilweise ihre Beine, aber immerhin ihren Po. Dann kam ein kleiner Spalt, der ihren Bauch durchblitzen ließ; gefolgt von einem T-Shirt, unter dem die Umrisse ihrer spitzen Brüste deutlich hervorstachen, da sie keinen BH trug. Ihr Haar war unordentlich und erinnerte mich deutlich an die Fellfarben eines Straßenköters aus Belgien, der mir einst beim Zelten zugelaufen war. Auch er kam damals ungebeten.
Keine Schuhe schützten ihre Füße vor den pinkelnden Ameisen, den Spinnen und Skorpionen, die auf dem Boden herumlungern konnten und trotzdem wirkte sie durch ihre harten Gesichtszüge keineswegs wie ein leichtsinniger Hippie. Es schien sie wenig zu kümmern, wie sie aussah. Weder gegenüber Fremden, noch gegenüber dem jungen Menschen, der sich im Hintergrund in einer Hängematte fläzte und unsere Zusammenkunft mit gespannten Augen beobachtete. Ich wusste nicht, ob es ihr egal war oder ob sie nie bemerkt hatte, dass sie in diesem Aufzug von jedem zweiten männlichen Wesen als Nutte abgestempelt werden könnte. Andererseits erntete sie an diesem Ort wohl eher nur abschätzige Blicke von spießigen Wohnmobilbesitzern. Genau wie ich. Unserer erste Gemeinsamkeit.
Plötzlich, meinen wirren Gedankenstrom unterbrechend, den ihre Erscheinung in mir auslöste, ging mir auf, dass ich alt geworden war und mich überkam eine Art Selbstekel.
Wer war ich schon, dass ich über jemanden urteilen konnte, der wahrscheinlich 35 Jahre jünger war als ich.
Letzte Nacht hatte ich sie beim Sex belauschen müssen. Jetzt erinnerte ich mich kurz an die Zeit, als ich in ihrem Alter gewesen war und schämte mich. Es war wohl das, was ich einfach nicht mehr verstehen konnte. Diese scheinbare Unbeschwertheit, die sie mir vom ersten Augenblick an unsympathisch machte. Sofort versuchte ich sie mit anderen Augen zu sehen. Aber es gelang mir nicht wirklich die Überlegenheit, die das Alter mit sich bringt, abzulegen.
Am Tag nach meinem 63. Geburtstag war ich losgefahren. Irgendwann fiel mir auf, dass die Person, die meine Selbstzweifel gerade so rasant angekurbelt hatte, immer noch vor mir stand und auf eine Antwort wartete; nun mit leicht hochgezogenen Augenbrauen und einem arroganten Zug um die Lippen. Ich fragte mich, was sie sich von einer Antwort auf diese Frage erhoffte und gleich danach, warum ich ihr diese Frage nicht direkt stellte. Stattdessen antwortete ich, dass ich es selbst nicht genau wüsste und beschloss insgeheim, am nächsten Tag abzureisen.
Sie antworte mit immer noch komisch hochgezogenen Mundwinkeln, die wohl ein verschmitztes Grinsen andeuten sollten, dass ich ihnen ja Bescheid geben könnte, falls ich Richtung Kalamata in den Süden fahren würde. Vielleicht könnte ich sie dann ein Stück mitnehmen.
Am nächsten Tag schwamm ich ein letztes Mal im Meer, duschte mich kurz mit Süßwasser ab, band meine lang gewordenen, grauen Haare zu einem Zopf im Nacken zurück, und fuhr los. Als ich an der Kreuzung zur Hauptstraße hielt, um rechts und links nach Autos Ausschau zu halten, stockte ich kurz. Ich war in völlige Überstürzung geraten, um bloß mit keinen anderen Menschen näheren Kontakt zu haben. Tatsächlich hatte ich mir extra einen Wecker gestellt, um so wenig anderen Gästen wie möglich, und natürlich vor allem meinen zwei ZeltnachbarInnen nicht, zu begegnen. Der Plan war aufgegangen. Die zwei schliefen wohl noch, denn ich konnte ein leises Schnarchen ausmachen, als ich an ihrem Zelt vorbeilief.
Was war aus mir geworden? Früher hätte ich freudestrahlend „Ja“ gesagt, wenn ich selbst kein Ziel gehabt hätte. Meine Mitfahrer und ich könnten uns gegenseitig inspirieren und Erfahrungen austauschen, hätte ich mir gedacht. Kurz hielt ich inne und dachte ernsthaft darüber nach meine Entscheidung zu revidieren, zurückzufahren und zu warten, bis die zwei Tramper aufgewacht waren. Ich könnte einen Kaffee währenddessen trinken. Hier verkauften sie ihn nur kalt, obwohl ich mal gelesen hatte, dass in den meisten heißeren Ländern traditionell warme Getränke serviert werden, um den Körper zu animieren seine Temperatur herabzusetzen. Sie würden sich dann zu mir setzen, mit mir einen Freddo Cappuccino trinken, und mir unangenehme Fragen stellen. So machten Tramper das. Meistens war das als nette Geste gemeint, um die angespannte Stille zu unterbrechen, die entstand, wenn fremde Menschen sich gegenseitig nicht einschätzen konnten. Nicht wussten, worüber der Andere lachen wird und was er über politische Themen dachte. Die Verlockung wäre durchaus groß, sich als jemand Anderer auszugeben.
Ich könnte erzählen, dass ich ein berühmter Tennisspieler sei oder meine Identität so verschleiern, dass mein Gegenüber denken musste, dass ich eine geheime Mission zu erfüllen habe.
So hätte ich eine Möglichkeit zu vergessen, dass ich graue Haare hatte, im Prinzip inzwischen ein langweiliges, eintöniges Leben in einer Kleinstadt führte, gerade meine Freundin und langjährige Begleiterin verloren hatte und niemals darüber hinwegkommen würde.
Aber je länger ich darüber nachdachte, desto irrwitziger kam es mir vor mit Menschen, die halb so viel Leben gelebt hatten wie ich, über den Tod zu reden. Geschweige denn darüber, dass sie freiwillig gegangen war. Was würden diese jungen Leute davon verstehen? Wie sollten sie verstehen, dass jemand den Tod dem Leben vorzieht, wo sie das ihrige noch fast zur Gänze vor sich hatten? Und dieses Thema in einem Gespräch zu umgehen, das ich nicht nur mit mir selbst führte, war schlicht unmöglich, da es doch zurzeit meinen Geist völlig vereinnahmte, denn ich hatte die Reise doch angetreten, um auf andere Gedanken zu kommen.
Ein Stich durchbohrte meinen Magen, den Rücken, und ergriff mein Herz hinterrücks, schmerzhaft. Das passierte mir öfter, wenn ich in einem angreifbaren, labileren Zustand unterwegs war. Mein psychisches Leid berührte meinen Körper. Ich schüttelte meinen Kopf, um das Gefühl loszuwerden, erwachte kurz aus meinen Gedanken und verstand, dass ich immer noch mitten auf der Straße stand. Bis jetzt schien kein Auto vorbeigefahren zu sein, das hätte ich bemerkt. Trotzdem entschied ich mich, den Warnblinker anzuschalten und mich an den rechten Straßenrand zu stellen, um nicht im Weg zu stehen, falls doch eines kommen würde.
Doch sofort schweiften meine Gedanken zurück zu der Tramperin und ihrer Frage. Ich wusste nicht, warum ausgerechnet dieses Gesicht, dieser Moment sich so in meinen Gedanken festgesogen hatte. Was hatte es damit auf sich? Gab es irgendetwas, was mich mit dieser Person verbinden könnte? Ich stellte mir nochmals ihre komische Grimasse vor, als sie mich aufforderte ihr Bescheid zu sagen, wenn ich in den Süden fahren sollte. Was sonst hielt mich an diesem Blick fest? Ich sah etwas in dem Blick dieser Person, was ich in mir selbst auch innewohnen hatte. Vielleicht eine innere Zerrissenheit? Traurigkeit? Nichts zu Benennendes, ein Schatten ...
Ich sollte umkehren und herausfinden, was es damit auf sich hatte. Ich würde mich langsam rantasten. Und wenn ich dieses Etwas in ihrem Gesichtsausdruck nicht wiederfand, würde ich schnellstens weiterfahren. Vielleicht verstand sie diesen plötzlichen Sturm an hereinbrechenden Gefühlen, nahe an dem Zustand, den andere als Panikattacke kannten. Vielleicht kannte sie, ebenso wie ich, jede W-Frage auswendig und hatte jede Einzelne einer Person gestellt, die nicht mehr existierte. Wahrscheinlich hatte sie sogar diese Aussetzer, in denen man sich seinem Gedankenstrom beugen und es aushalten musste, um nicht zu zerbrechen. Ich denke, ich befand mich gerade in einer solchen Situation. Einfach warten, bis es vorbei war. Mitmachen. Viel Wut und unendliche Traurigkeit. Sie musste das auch kennen. Sie war in dem Moment eine Verbündete von mir.
Als mir das klar wurde, musste ich mich einfach dazu entscheiden, umzudrehen. Das tat ich. Während des Wendens in der viel zu engen Straße bemerkte ich allerdings schon, dass meine Schlussfolgerung Quatsch war. Sofort nahmen wieder andere Zweifel in meinem Kopf Gestalt an. Alles nur Einbildung, Irreführungen eines verwirrten Geistes, zu füllende Leere.
Ich stockte. Jetzt war ich durchgedreht. Alles wirbelte in meinem Kopf. Ich hatte mir tatsächlich eingeredet, dass mich jemand versteht. Und ausgerechnet sie. Als ich schon fast an der Einfahrt des Campingplatzes angekommen war, besann ich mich, bog mit quietschenden Reifen in die Einfahrt von dem benachbarten Haus ein, drehte um, fuhr zurück zur kreuzenden Hauptstraße, setze den Blinker rechts und raste Richtung Kalamata davon.
Jetzt bin ich wieder ganz bei mir. Ich bin die Person, die in ihrer Hängematte auf dem Campingplatz den unruhig umherwandelnden älteren Herren von nebenan beobachtet und sich am nächsten Tag wünschen wird, die Frau hätte ihn tatsächlich gefragt, ob er sie zu ihrem nächsten Ziel mit seinem kleinen, blauen Renault Kangoo mitnehmen könnte. Ich hatte mir innerhalb von fünf Minuten ein komplettes Persönlichkeitsbild und vier verschiedene Geschichten zu einer Person ausgedacht, mit der ich bis dato kein einziges Wort gewechselt hatte.
Er zieht an meiner Hängematte vorbei Richtung Waschhäuschen. Er sieht mich an, hebt grüßend die Hand und sagt „Hallo“. Ich grüße auf Deutsch zurück. Es beschäftigte mich noch länger, was diesen Menschen mit seinem nachdenklichen Gesichtsausdruck wohl umtrieb.
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Jana Jähnig besuchte das Luisengymnasium München und hielt sich nach mehreren Auslandsaufenthalten und Minijobs in einem agrotouristischem Betrieb in Griechenland auf. Von 2018 bis 2019 besuchte sie die Berufsschule für Holztechnik und Innenausbau, danach ließ sie sich zur Schreinerin ausbilden. Freiberufliche Tätigkeiten als Barista, Rikschafahrerin und Schreinerin. Von 2022 bis 2023 hospitierte sie im Bereich Ausstattung/Bühnenbild im Theater Bremen für das Stück Das achte Leben. Jana Jähnig lebt in München.
Mit der folgenden Kurzgeschichte beteiligt sich Jana Jähnig an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge finden Sie HIER.
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„Wohin fahren Sie?“, fragte sie mich auf Deutsch. Mit einem Gesichtsausdruck, der mir verriet, dass sie sich nicht sicher war, ob sie diesem alten, komischen Kauz vor sich überhaupt etwas zu sagen hatte. Dabei war ich doch nach Griechenland auf diesen Campingplatz gefahren, um meinem deutschen Alltag, einfach allem, zu entfliehen.
Ich war zufrieden gewesen, da ich keine heimatlichen Laute bemerkte und die Autos zwar unsympathisch wirkenden Franzosen und Italienern zu gehören schienen, die mich aber aufgrund sprachlicher Hindernisse wohl kaum anquatschten konnten. Ab und an erntete ich herablassend-mitleidige Blicke, da ihre Wohnmobile vierfach so groß waren, wie mein kleiner Renault Kangoo, in den eine Matratze, mein ganzes Zeug und überflüssigerweise, da ich alleine unterwegs war, zwei Menschen reinpassten.
Nun, nachdem mich diese junge Frau angesprochen hatte, schien sie ihren Fauxpas bemerkt zu haben und wies mich darauf hin, dass ich nun mal ein deutsches Kennzeichen hätte.
Sie war mir sofort unsympathisch, wie sie da vor mir stand in ihrer aufreizenden Kleidung und dem fragenden Blick. Deutsche ließen einen offensichtlich nie in Ruhe, egal wo man war. Ein fast durchsichtiger Rock bedeckte nur teilweise ihre Beine, aber immerhin ihren Po. Dann kam ein kleiner Spalt, der ihren Bauch durchblitzen ließ; gefolgt von einem T-Shirt, unter dem die Umrisse ihrer spitzen Brüste deutlich hervorstachen, da sie keinen BH trug. Ihr Haar war unordentlich und erinnerte mich deutlich an die Fellfarben eines Straßenköters aus Belgien, der mir einst beim Zelten zugelaufen war. Auch er kam damals ungebeten.
Keine Schuhe schützten ihre Füße vor den pinkelnden Ameisen, den Spinnen und Skorpionen, die auf dem Boden herumlungern konnten und trotzdem wirkte sie durch ihre harten Gesichtszüge keineswegs wie ein leichtsinniger Hippie. Es schien sie wenig zu kümmern, wie sie aussah. Weder gegenüber Fremden, noch gegenüber dem jungen Menschen, der sich im Hintergrund in einer Hängematte fläzte und unsere Zusammenkunft mit gespannten Augen beobachtete. Ich wusste nicht, ob es ihr egal war oder ob sie nie bemerkt hatte, dass sie in diesem Aufzug von jedem zweiten männlichen Wesen als Nutte abgestempelt werden könnte. Andererseits erntete sie an diesem Ort wohl eher nur abschätzige Blicke von spießigen Wohnmobilbesitzern. Genau wie ich. Unserer erste Gemeinsamkeit.
Plötzlich, meinen wirren Gedankenstrom unterbrechend, den ihre Erscheinung in mir auslöste, ging mir auf, dass ich alt geworden war und mich überkam eine Art Selbstekel.
Wer war ich schon, dass ich über jemanden urteilen konnte, der wahrscheinlich 35 Jahre jünger war als ich.
Letzte Nacht hatte ich sie beim Sex belauschen müssen. Jetzt erinnerte ich mich kurz an die Zeit, als ich in ihrem Alter gewesen war und schämte mich. Es war wohl das, was ich einfach nicht mehr verstehen konnte. Diese scheinbare Unbeschwertheit, die sie mir vom ersten Augenblick an unsympathisch machte. Sofort versuchte ich sie mit anderen Augen zu sehen. Aber es gelang mir nicht wirklich die Überlegenheit, die das Alter mit sich bringt, abzulegen.
Am Tag nach meinem 63. Geburtstag war ich losgefahren. Irgendwann fiel mir auf, dass die Person, die meine Selbstzweifel gerade so rasant angekurbelt hatte, immer noch vor mir stand und auf eine Antwort wartete; nun mit leicht hochgezogenen Augenbrauen und einem arroganten Zug um die Lippen. Ich fragte mich, was sie sich von einer Antwort auf diese Frage erhoffte und gleich danach, warum ich ihr diese Frage nicht direkt stellte. Stattdessen antwortete ich, dass ich es selbst nicht genau wüsste und beschloss insgeheim, am nächsten Tag abzureisen.
Sie antworte mit immer noch komisch hochgezogenen Mundwinkeln, die wohl ein verschmitztes Grinsen andeuten sollten, dass ich ihnen ja Bescheid geben könnte, falls ich Richtung Kalamata in den Süden fahren würde. Vielleicht könnte ich sie dann ein Stück mitnehmen.
Am nächsten Tag schwamm ich ein letztes Mal im Meer, duschte mich kurz mit Süßwasser ab, band meine lang gewordenen, grauen Haare zu einem Zopf im Nacken zurück, und fuhr los. Als ich an der Kreuzung zur Hauptstraße hielt, um rechts und links nach Autos Ausschau zu halten, stockte ich kurz. Ich war in völlige Überstürzung geraten, um bloß mit keinen anderen Menschen näheren Kontakt zu haben. Tatsächlich hatte ich mir extra einen Wecker gestellt, um so wenig anderen Gästen wie möglich, und natürlich vor allem meinen zwei ZeltnachbarInnen nicht, zu begegnen. Der Plan war aufgegangen. Die zwei schliefen wohl noch, denn ich konnte ein leises Schnarchen ausmachen, als ich an ihrem Zelt vorbeilief.
Was war aus mir geworden? Früher hätte ich freudestrahlend „Ja“ gesagt, wenn ich selbst kein Ziel gehabt hätte. Meine Mitfahrer und ich könnten uns gegenseitig inspirieren und Erfahrungen austauschen, hätte ich mir gedacht. Kurz hielt ich inne und dachte ernsthaft darüber nach meine Entscheidung zu revidieren, zurückzufahren und zu warten, bis die zwei Tramper aufgewacht waren. Ich könnte einen Kaffee währenddessen trinken. Hier verkauften sie ihn nur kalt, obwohl ich mal gelesen hatte, dass in den meisten heißeren Ländern traditionell warme Getränke serviert werden, um den Körper zu animieren seine Temperatur herabzusetzen. Sie würden sich dann zu mir setzen, mit mir einen Freddo Cappuccino trinken, und mir unangenehme Fragen stellen. So machten Tramper das. Meistens war das als nette Geste gemeint, um die angespannte Stille zu unterbrechen, die entstand, wenn fremde Menschen sich gegenseitig nicht einschätzen konnten. Nicht wussten, worüber der Andere lachen wird und was er über politische Themen dachte. Die Verlockung wäre durchaus groß, sich als jemand Anderer auszugeben.
Ich könnte erzählen, dass ich ein berühmter Tennisspieler sei oder meine Identität so verschleiern, dass mein Gegenüber denken musste, dass ich eine geheime Mission zu erfüllen habe.
So hätte ich eine Möglichkeit zu vergessen, dass ich graue Haare hatte, im Prinzip inzwischen ein langweiliges, eintöniges Leben in einer Kleinstadt führte, gerade meine Freundin und langjährige Begleiterin verloren hatte und niemals darüber hinwegkommen würde.
Aber je länger ich darüber nachdachte, desto irrwitziger kam es mir vor mit Menschen, die halb so viel Leben gelebt hatten wie ich, über den Tod zu reden. Geschweige denn darüber, dass sie freiwillig gegangen war. Was würden diese jungen Leute davon verstehen? Wie sollten sie verstehen, dass jemand den Tod dem Leben vorzieht, wo sie das ihrige noch fast zur Gänze vor sich hatten? Und dieses Thema in einem Gespräch zu umgehen, das ich nicht nur mit mir selbst führte, war schlicht unmöglich, da es doch zurzeit meinen Geist völlig vereinnahmte, denn ich hatte die Reise doch angetreten, um auf andere Gedanken zu kommen.
Ein Stich durchbohrte meinen Magen, den Rücken, und ergriff mein Herz hinterrücks, schmerzhaft. Das passierte mir öfter, wenn ich in einem angreifbaren, labileren Zustand unterwegs war. Mein psychisches Leid berührte meinen Körper. Ich schüttelte meinen Kopf, um das Gefühl loszuwerden, erwachte kurz aus meinen Gedanken und verstand, dass ich immer noch mitten auf der Straße stand. Bis jetzt schien kein Auto vorbeigefahren zu sein, das hätte ich bemerkt. Trotzdem entschied ich mich, den Warnblinker anzuschalten und mich an den rechten Straßenrand zu stellen, um nicht im Weg zu stehen, falls doch eines kommen würde.
Doch sofort schweiften meine Gedanken zurück zu der Tramperin und ihrer Frage. Ich wusste nicht, warum ausgerechnet dieses Gesicht, dieser Moment sich so in meinen Gedanken festgesogen hatte. Was hatte es damit auf sich? Gab es irgendetwas, was mich mit dieser Person verbinden könnte? Ich stellte mir nochmals ihre komische Grimasse vor, als sie mich aufforderte ihr Bescheid zu sagen, wenn ich in den Süden fahren sollte. Was sonst hielt mich an diesem Blick fest? Ich sah etwas in dem Blick dieser Person, was ich in mir selbst auch innewohnen hatte. Vielleicht eine innere Zerrissenheit? Traurigkeit? Nichts zu Benennendes, ein Schatten ...
Ich sollte umkehren und herausfinden, was es damit auf sich hatte. Ich würde mich langsam rantasten. Und wenn ich dieses Etwas in ihrem Gesichtsausdruck nicht wiederfand, würde ich schnellstens weiterfahren. Vielleicht verstand sie diesen plötzlichen Sturm an hereinbrechenden Gefühlen, nahe an dem Zustand, den andere als Panikattacke kannten. Vielleicht kannte sie, ebenso wie ich, jede W-Frage auswendig und hatte jede Einzelne einer Person gestellt, die nicht mehr existierte. Wahrscheinlich hatte sie sogar diese Aussetzer, in denen man sich seinem Gedankenstrom beugen und es aushalten musste, um nicht zu zerbrechen. Ich denke, ich befand mich gerade in einer solchen Situation. Einfach warten, bis es vorbei war. Mitmachen. Viel Wut und unendliche Traurigkeit. Sie musste das auch kennen. Sie war in dem Moment eine Verbündete von mir.
Als mir das klar wurde, musste ich mich einfach dazu entscheiden, umzudrehen. Das tat ich. Während des Wendens in der viel zu engen Straße bemerkte ich allerdings schon, dass meine Schlussfolgerung Quatsch war. Sofort nahmen wieder andere Zweifel in meinem Kopf Gestalt an. Alles nur Einbildung, Irreführungen eines verwirrten Geistes, zu füllende Leere.
Ich stockte. Jetzt war ich durchgedreht. Alles wirbelte in meinem Kopf. Ich hatte mir tatsächlich eingeredet, dass mich jemand versteht. Und ausgerechnet sie. Als ich schon fast an der Einfahrt des Campingplatzes angekommen war, besann ich mich, bog mit quietschenden Reifen in die Einfahrt von dem benachbarten Haus ein, drehte um, fuhr zurück zur kreuzenden Hauptstraße, setze den Blinker rechts und raste Richtung Kalamata davon.
Jetzt bin ich wieder ganz bei mir. Ich bin die Person, die in ihrer Hängematte auf dem Campingplatz den unruhig umherwandelnden älteren Herren von nebenan beobachtet und sich am nächsten Tag wünschen wird, die Frau hätte ihn tatsächlich gefragt, ob er sie zu ihrem nächsten Ziel mit seinem kleinen, blauen Renault Kangoo mitnehmen könnte. Ich hatte mir innerhalb von fünf Minuten ein komplettes Persönlichkeitsbild und vier verschiedene Geschichten zu einer Person ausgedacht, mit der ich bis dato kein einziges Wort gewechselt hatte.
Er zieht an meiner Hängematte vorbei Richtung Waschhäuschen. Er sieht mich an, hebt grüßend die Hand und sagt „Hallo“. Ich grüße auf Deutsch zurück. Es beschäftigte mich noch länger, was diesen Menschen mit seinem nachdenklichen Gesichtsausdruck wohl umtrieb.