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28.06.2013, 10:22 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [186]: The same old story vom Geschwisterpaar?

Mädchen erraten nichts leichter als Gefallsucht und Eitelkeit, zumal an ihrem Geschlecht, meint der Dichter. Beata und Philippine begegnen sich, obwohl Jean Paul ein paar Seiten zuvor seine Schwester in Sachen  Herzlosigkeit nicht geschont hat, in Freundschaft. Mag sein, dass der Bruder das Verhalten der Schwester vor allem in dem Sinne kritisierte, in dem sie Männern begegnet: als kokette Krebsin.[1]

Dieser Schwester schreibt nun Philippine einen Brief, in dem sie ihr Herz ausschüttet. Weltschmerz total. Richtig interessant aber wird es, wenn sie auf den Bruder zu sprechen kommt, der ihr abhanden kam, und dessen Erinnerung langsam ausgelöscht wird: Ein totes stummes Farbenbild hinter einer Glastür war der ganze Bruder, den ich zu lieben hatte. Sie besaß zwar ein Bild von diesem Bruder, aber auch dies kam ihr abhanden; vielleicht gelangte es zufällig unter die Bücher, die sie, Beata, der Freundin gab. Ein zweites Porträt – „etwas unähnlicher“, sagt sie – wäre einst im Hause Röper gewesen, aber auch dies scheint verschwunden wie der Porträtierte selbst. Natürlich! Denn der alte Röper hatt' es publice versteigert, weil es das von Gustav war.

Potzblitz! Gustav ist also der Bruder Beatas? Was wird dies für eine Geschichte werden? Eine tragische Inzestgeschichte (denn Gustav und Beatas Seelen fühlen sich ja bereits angezogen – und man weiß ja aus Harry und Sally, was es mit der „Freundschaft“ zwischen Männchen und Weibchen auf sich hat[2])? Oder ist hier die Rede von einem Porträt, das eben nur einen ähnlichen Menschen zeigt? Aber ist der ähnliche Mensch nicht deshalb ähnlich, weil er der Bruder derer ist, die eben den ähnlichen Menschen – nein: die Seele des ähnlichen Menschen liebt, mit dem sie fatalerweise verwandt ist? Wird sich hier die Konstellation von Mozarts (zehn Jahre zuvor komponierter, doch unbeendeter) Zaide wiederholen? Da am Ende, gemäß ihrer literarischen Vorlage, der Geliebte sich als Bruder der Titelheldin entpuppt? Was familienzusammenführungsmäßig vielleicht optimal, persönlich aber grausam frustrierend ist? Es sei denn, dass man es so macht wie Siegmund und Sieglinde?[3] Werden Gustav und Beata also einen traumhaften „Wonnemond“ erleben? Oder von der normativen Kraft des Faktischen kaltgestellt werden? Wird die „Vernunft“ einer ins Geleise einer Lösungsdramaturgie geratenen Geschichte siegen – oder die „Unvernunft“ einer wilden Geschichte? Soll man den beiden Helden wünschen, dass ihnen ihre Herkunft für immer unerkannt bleibt? Was, wenn der Roman zuende geführt worden wäre, gewiss nicht der Fall gewesen wäre? Aber sind die beiden überhaupt verwandt?

Bist du Siegmund, / den ich hier sehe: / Sieglinde bin ich, / die dich ersehnt:
die eig'ne Schwester / gewann'st du zueins mit dem Schwert!

The same old story... Siegmund und Sieglinde, Gustav und Beata, Gomatz und Zaide... immer dieselbe alte Geschichte? Die erst kürzlich wieder aus den Tiefen der Theatergeschichte aufgetauchte, in diesen Tagen im Charlottengang der Münchner Residenz ausgestellte Zeichnung zeigt die beiden Wagnerschen Wälsungen, verewigt von Josef Hoffmann, dem ersten Bühnenbildner der Bayreuther Festspiele. Das Cover der sorgfältig und liebevoll gestalteten Plattenedition aus den 1970er Jahren gehört, samt Aufnahme, zu den schönsten Jugenderinnerungen des Bloggers. Wer Zaides unbeschreiblichen Liebesgesang Ruhe sanft, mein holdes Leben einmal in dieser Aufnahme gehört hat, wird wissen, wieso es höchst seltsam anmutet, dieser Oper so selten auf den Bühnen zu begegnen. Außerdem erhält er einen akustischen Blick in die Zeit, da Jean Paul sich noch mit Denk- und Schreibübungen quälte: eine Zeit musikalischer Kostbarkeiten, die der musikempfängliche Dichter so liebte.

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[1] Ansonsten: nichts gegen Krebsinnen! Denn sie wissen mitunter selbst nicht, was sie tun.

[2] Einschränkung: Vielleicht sollte man nicht die sexuellen Kategorien der Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts auf die literarischen Kategorien der Neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts anwenden.

[3] Womit ich gleichzeitig an den zweiten großen Bayreuther Jubilar dieses Jahres erinnere.

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