Auszug aus dem Stück „Anna, die Schwarzbrennerin, und ihre ungezogenen Kinder“
Vitaliy Chenskiy stammt aus Mariupol und wurde 1975 als Sohn eines Ingenieurs des Metallurgischen Kombinats Asow-Stahl geboren. Chenskiy arbeitete selbst sieben Jahre als Ingenieur bei Asow-Stahl, bis er seiner wahren Berufung als Journalist, Schriftsteller und Dramatiker folgte. Derzeit ist er Literaturstipendiat des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg. Mit dem folgenden Auszug aus seinem Stück Anna, die Schwarzbrennerin, und ihre ungezogenen Kinder beteiligt er sich an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Eine kurze Anmerkung des Autors
Das Stück ist inspiriert von Bertolt Brechts berühmtem Theaterstück Mutter Courage und ihre Kinder. Die Figuren wurden in die Donezker Volksrepublik während des Krieges 2014-2022 versetzt. Sie erhielten neue Namen, Charakterzüge und authentische Ansichten. Es scheint eine sehr gute Zeit für Brecht zu sein, wenn die Kunst eingreifen muss, um das Böse zu entlarven und die Welt zu verbessern. Nun, dafür ist immer Zeit, und an Entlarvenden mangelt es zur Zeit nicht. Aber ich will mich nicht in die erste Reihe der Moralapostel stellen. Es wird hier also keine Zufriedenheit geben.
PERSONEN
ANNA, 45 Jahre alt, Schwarzbrennerin, Mutter von drei Kindern.
SCHWARZ, 23 Jahre, Annas ältester Sohn.
MARYLYA, 15 Jahre alt, Annas Tochter.
ZEMA, 10 Jahre alt, Annas jüngster Sohn.
OMA, 70 Jahre alt, Mutter von Annas zweitem Ehemann.
MAMLEY, 45 Jahre alt, ein alter Bekannter von Anna, humpelt auf einem Bein.
UGLOV, 40 Jahre alt, ein Bekannter von MAMLEY, ein ehemaliger Alkoholiker und Wahrheitssucher.
PARTYBOY, 16 Jahre alt, der junge Mann von Marylya.
AMWALT, 40 Jahre alt, der Vater von Major.
FRAU DES ANWALTS, 37 Jahre alt, bzw. die Mutter des Partyboys.
REPORTER/IN, 25 Jahre alt.
MODERATOR (einer Fernsehsendung), 40 Jahre alt.
KOLUMNIST, 40 Jahre alt, Intellektueller.
SCHWIEGERSOHN, Milizionär der Volksrepublik Donezk DNR, Blutsbruder von Schwarz.
SOLDAT der Ukrainischen Streitkräfte ZSU 1 und SOLDAT der ZSU 2.
SOLDAT der DNR 1 und SOLDAT der DNR 2.
POLIZISTEN der DNR und eine SCHWARZBRENNERIN aus einem TV-Beitrag über die Liquidierung der illegalen Produktion.
KURCHAVIN, Erster Stellvertretender Direktor der Sonderabteilung der Präsidialverwaltung.
Das Alter aller Figuren wird mit dem Zeitpunkt ihres ersten Auftritts im Stück angegeben.
Der Ort der Handlung ist Annas Haus in einer Siedlung in der Nähe von Donezk.
[Im Russischen und Ukrainischen ist der Vorname des Vaters Namensbestandteil seines Kindes, der aus drei Namen besteht: Vorname, Vatersname, Familienname. Die OMA heißt z.B. Lisaweta Alexandrowna Starobeschewskaja. Die Anrede Vorname+Vatersname entspricht dem deutschen Frau/Herr+Nachname. – A.d.Ü.]
ERSTER TEIL
Im März 2014, nach dem Euromaidan, wurden im Südosten der Ukraine die Volksrepubliken Donezk und Luhansk gegründet, die sich weigerten, Kiew zu gehorchen. Die Regierung begann einen Krieg gegen die Separatisten. Und Oma wurde klar, warum es so kommen musste.
Omas Zimmer. Es ist Abend.
Wir sehen ein ungemütliches, vermülltes Zimmer mit einem Teppich aus der Sowjetzeit an der Wand. Es gibt auch einen alten Fernseher, der sorgfältig mit einem Tischtuch abgedeckt ist. In der Ecke steht eine große karierte Reisetasche.
In der Mitte des Raumes sitzt OMA mit heruntergelassener Jogginghose auf einem Nachtstuhl.
OMA
[OMA Sie spricht ein Russisch, wie es in den bildungsfernen Schichten im Süden des russischen Sprachgebietes gesprochen wird. Die Darstellerin könnte eine regional gefärbte Aussprache verwenden. – A.d.Ü.]
Ich kann euch schon sagen, wieso der Krieg begann. Weil sie Janukowitsch rausgeworfen haben, verstehst du? Zuerst haben sie ihren Maidan gemacht, und dann haben sie ihn rausgeschmissen. Und wenn sie ihm nur erlaubt hätten, noch solange zu bleiben was ihm noch zustand, dann wäre gar nichts passiert, nichts! Alles wäre normal gewesen. Aber das wollten sie nicht. Das sag' dir ich – Lisaweta Alexandrowna Starobeschewskaja ...
(denkt nach)
Warum hat er denn begonnen, dieser Krieg? Janukowitsch, als er noch hier in der Region Donezk gearbeitet hat, er hat mir soo gut gefallen, soo gut. Ich dachte, wenigstens würden wir eine schönen Mann als Präsidenten der Ukraine bekommen. Ich habe für ihn gestimmt, ja hab ich. Aber ich hätte nie gedacht, dass er soo ein Dieb ist, dass er alles klaut! Versteht ihr? Diese Banderas, sie waren einfach neidisch auf Janukowitsch, sie dachten, wie kann es sein, dass die prorussischen stehlen und wir nicht? Also haben sie ihn rausgeschmissen. Um alles selbst zu plündern. Versteht ihr? Das sagt euch Lisaweta Alexandrowna Starobeshewskaja.
Anna tritt auf.
ANNA
Was quasselst du da, Oma? Welcher Krieg? Der Große Vaterländische Krieg? Warum habe ich dich auf den Stuhl gesetzt? Damit du scheißen kannst. Und du redest von Politik! Von Politik kriegt man Verstopfung. Du sollst scheißen!
OMA
Ich muss nicht.
ANNA
Du musst nicht, soso. Dann bring ich dich wieder ins Bett und du wälzt dich bis zum Abend in deiner eigenen Scheiße. Ich hab eh Besseres zu tun, als hier mit dir rumzuhängen.
OMA
Andrjuscha hat sich besser um mich gekümmert.
ANNA
Dein Andrjuscha ist nach Moskau abgehauen, hat dich längst vergessen.
OMA
Bald wird er kommen und mich holen.
ANNA
Natürlich kommt er. Wenn die Kröte dir ihre Zitze gibt. Pass auf, Oma, reiß dich zusammen und kack endlich.
Anna geht zum Fenster und zündet sich eine Zigarette an.
ANNA
Jetzt ist er dir wieder eingefallen, dein Sohn Andrjuscha, du alte Schachtel?
OMA
Du hast es einfach nicht geschafft, den guten Mann bei dir zu behalten!
ANNA
Wenn er denn ein guter Mann gewesen wäre, hätte ich ihn nie gehen lassen. Aber ich hatte schon viel bessere Männer, hörst du, Lisaweta Petrowna?
OMA
Lisaweta Alexandrowna!
ANNA
(kichert)
Nun, ich hatte drei Ehemänner. Der erste war ein Bandit. Es war lustig mit ihm. Er hat mir einen Sohn gemacht, meinen Ältesten, und er nannte ihn Schwarz – nach Arnold Schwarzenegger, er hat sehr gerne Terminator auf dem Videorekorder geguckt, hat mich gebeten, „mach mir mal, Anja, Terminator auf dem Rekorder an“. Das hat er sich tagaus, tagein reingezogen. Und das war sein Ende. Irgendwann hat er beschlossen, selbst der Terminator zu sein. Er wurde zu frech, zu selbstsicher. Dafür hat man ihn einfach abgeknallt, den Idioten.
(zieht an ihrer Zigarette)
Der zweite Ehemann war ein Schwarzhändler – Andrjuscha, Omis Söhnchen.
OMA
Ja, mein Andrjuscha!
ANNA
Mein Leben mit ihm ... war sehr perspektivreich. Wir haben nicht schlecht gelebt – drei Tage in Polen zum Einkaufen, zwei Tage in Donezk auf dem Markt. Dann wollte er mich überreden, mein Haus zu verpfänden, um einen Kredit zu bekommen, damit er sein Geschäft ausbauen kann. Ich sagte: „Du kannst mich mal!“, und er: „Du bist so dumm, Anja, ich hätte dir einen Pelzmantel und einen Mercedes gekauft. Aber du klammerst dich an deine Bruchbude!“. Ich sagte: „Du bist ein Gauner, Andrej. Dir ist nichts heilig. In diesem Haus ist mein Großvater nach dem Krieg verhungert. Hier hat mein Vater meine Mutter im Suff halb totgeschlagen. Mein Bruder, der in der Mine starb, wurde von hier zum Friedhof gebracht. Und jetzt sollen wir das alles einfach so verschleudern?!“ Unsere Werte passten einfach nicht zusammen. Dann ging er nach Moskau. Zu seinen Leuten – zu den Gaunern. Und seine kranke Mutter hat er dann einfach bei mir gelassen.
OMA
Mich, Lisaweta Alexandrowna Storobeschewskaja!
ANNA
Ja klar, Lisaweta Heinrichowna!
OMA
Lisaweta Alexandrowna!
ANNA
(kichert)
Aber bevor er ging, machte mir dieser Schwarzhändler eine Tochter, die er Maryla nannte. „Zu Ehren des gelobten Landes Polen, dem ich es verdanke, dass ich Businessman geworden bin“, verkündete er. Nun, zu Ehren Polens. Ich wusste nicht, was für ein verräterisches Land das ist. Es stellte sich heraus, dass Maryla der Name einer Hure in Kołobrzeg war, die meinem Ex gefälschtes Parfüm verkaufte. Und natürlich hat er bei ihr gepennt.
(zeigt auf das Fenster)
Und das ist Maryla höchstpersönlich. Guck mal, da galoppiert sie durch den Gemüsegarten, die polnische Prinzessin.
(ruft)
Maryla! Wo willst du denn hin? Du siehst aus wie Chingachgook! Gehst du tanzen?
(für sich)
Ich fürchte, sie wird ein Flittchen.
(ruft wieder)
Dass du mir um zehn zu Hause bist! Und dass dein Macker mir gut auf dich aufpasst! Ich mag diese Mesalliancen nicht. Daraus wird nie was Gutes.
OMA
Auch ich sagte zu Andrjuscha: „Du solltest dir ein besseres Mädchen suchen“.
ANNA
Vielleicht hätte er eine gefunden. Aber mit einer Schwiegermutter wie dir wollte ihn niemand. Wie kommst du voran, Lisaweta Markowna?
OMA
Lisaweta Alexandrowna!
ANNA
(grinst)
Na ja, und der dritte Ehemann – möge der zahnlose Mund unserer Oma seine Erinnerung nicht vergiften – der dritte Ehemann hieß Arsenij Jablokow. Es war so herzerwärmend mit ihm...
Ich weiß noch, einmal, gleich nach dem Standesamt, da sitzen wir bei mir zu Hause, das Dach ist undicht, keine Arbeit, die Kinder schreien. Ein weiteres ist unterwegs. Und ich trinke Artemovsk-Sekt aus der Pulle und lache wie verrückt. Und plötzlich schaut er mich an und sagt: „Weißt du, warum ich dich liebe, Anna?“ – „Warum denn?“ – „Weil du einen krassen Lebensmut hast.“ Ja, genau! Aber was soll ich denn ohne Mut machen? Wie soll ich so ein Leben durchstehen?
OMA
Bin fertig.
ANNA
Und wie weise mein Arsenij war! Er sagte einmal zu mir: „Wenn du einem Mann einen Fisch gibst, isst er einmal und hat dann wieder Hunger. Aber wenn du ihm eine Angel gibst, wird er sein Leben lang satt sein.“ „Was für eine Angel? Warum?“ – dachte ich. Und am nächsten Morgen baute er sich, wie man sagt, aus Scheiße und Stöcken eine Schnapsbrennerei. So kam ich zu meinem Beruf.
Anna singt ein Lied über den Selbstgebrannten.
Hier und im Folgenden sind die wichtigsten Inhalte des Liedes angegeben. In der Wahl der Versform, des Reims und der Melodie ist der Regisseur völlig frei.
ANNA
Schwarzbrand gilt als etwas Ungenießbares, Trübes und Stinkendes.
Man sagt, dass man vom Selbstgebrannten Kopfschmerzen bekommt.
Glaubst du, ich sage dir, dass das nicht stimmt?
Nein, natürlich nicht. Warum sollte ich es auch leugnen, es ist alles wahr. Aber...
Sieh dir das Leben um dich herum an, Kumpel.
Willst du an der Tankstelle malochen, willst du dir auf der Baustelle den Rücken krumm schuften?
Willst du auf dem Markt herumstehen oder bis sechs Uhr abends im Büro schmoren?
Und Whisky oder Cognac mit einem schicken französischen Namen trinken?
Aber das ist doch lächerlich, ha-ha-ha. Das ist heuchlerisch und feige.
Sei deinem Getränk ebenbürtig. Nimm den Geruch an. Akzeptiere den Kopfschmerz. Nimm das Leben an, wie es ist.
Sag ja zu deinem Leben.
Und du wirst die Befreiung spüren.
Du wirst den Mut finden, dieses schwere Leben zu meistern.
Oma versucht, Anna auf sich aufmerksam zu machen.
ANNA
„Hier, Anna“, sagte Arsenj zu mir. – „Dieses Ding wird dich ernähren, auch wenn ich nicht bei dir bin.“ Zuerst hatte ich Angst, dass auch er abhauen wollte.
Aber er tat es nicht, er starb an Krebs. Tja, wie man so schön sagt, genug des Guten.
OMA
Bin fertig, Anja.
ANNA
[ANNA erwähnt zwei Systeme von Destillationsapparaten, den Dampfdestillierer und den Barboteur. Das Schlangenrohr ist Bestandteil vieler Apparate. – Anm.d.Ü.]
Schön für dich, Oma. Bleib sitzen, lass mich zu Ende rauchen. Er war ein Wanderer. Eine heimatlose Seele. Und ein Heimatloser hat keine Wurzeln, keine Herkunft. Solche Leute leben nicht lange. Ich hatte keine Zeit, ihn bei mir zu verwurzeln. Ich erinnere mich, dass Arsenij, kurz bevor er im Krankenhaus starb, die Augen aufschlug und mich bat, näher zu kommen. „Merk's dir, Anna, fürs Leben...“ Und er keuchte. „Was? Was soll ich mir merken?!“ – „Merke dir... ein Dampfdestillierer ist immer besser als ein Barboteur.“ Das war sein Vermächtnis... Und ich habe einen Sohn von ihm, den wir Rory nannten. Das ist die Abkürzung für Schlangenrohr.
OMA
Anya, ich habe gekackt!
ANNA
Ich komm' schon, Oma, du Pechvogel.
Sie drückt ihre Zigarette aus und geht, um sich um Oma zu kümmern.
Deutsch von Boris Borisovich
Auszug aus dem Stück „Anna, die Schwarzbrennerin, und ihre ungezogenen Kinder“>
Vitaliy Chenskiy stammt aus Mariupol und wurde 1975 als Sohn eines Ingenieurs des Metallurgischen Kombinats Asow-Stahl geboren. Chenskiy arbeitete selbst sieben Jahre als Ingenieur bei Asow-Stahl, bis er seiner wahren Berufung als Journalist, Schriftsteller und Dramatiker folgte. Derzeit ist er Literaturstipendiat des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg. Mit dem folgenden Auszug aus seinem Stück Anna, die Schwarzbrennerin, und ihre ungezogenen Kinder beteiligt er sich an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Eine kurze Anmerkung des Autors
Das Stück ist inspiriert von Bertolt Brechts berühmtem Theaterstück Mutter Courage und ihre Kinder. Die Figuren wurden in die Donezker Volksrepublik während des Krieges 2014-2022 versetzt. Sie erhielten neue Namen, Charakterzüge und authentische Ansichten. Es scheint eine sehr gute Zeit für Brecht zu sein, wenn die Kunst eingreifen muss, um das Böse zu entlarven und die Welt zu verbessern. Nun, dafür ist immer Zeit, und an Entlarvenden mangelt es zur Zeit nicht. Aber ich will mich nicht in die erste Reihe der Moralapostel stellen. Es wird hier also keine Zufriedenheit geben.
PERSONEN
ANNA, 45 Jahre alt, Schwarzbrennerin, Mutter von drei Kindern.
SCHWARZ, 23 Jahre, Annas ältester Sohn.
MARYLYA, 15 Jahre alt, Annas Tochter.
ZEMA, 10 Jahre alt, Annas jüngster Sohn.
OMA, 70 Jahre alt, Mutter von Annas zweitem Ehemann.
MAMLEY, 45 Jahre alt, ein alter Bekannter von Anna, humpelt auf einem Bein.
UGLOV, 40 Jahre alt, ein Bekannter von MAMLEY, ein ehemaliger Alkoholiker und Wahrheitssucher.
PARTYBOY, 16 Jahre alt, der junge Mann von Marylya.
AMWALT, 40 Jahre alt, der Vater von Major.
FRAU DES ANWALTS, 37 Jahre alt, bzw. die Mutter des Partyboys.
REPORTER/IN, 25 Jahre alt.
MODERATOR (einer Fernsehsendung), 40 Jahre alt.
KOLUMNIST, 40 Jahre alt, Intellektueller.
SCHWIEGERSOHN, Milizionär der Volksrepublik Donezk DNR, Blutsbruder von Schwarz.
SOLDAT der Ukrainischen Streitkräfte ZSU 1 und SOLDAT der ZSU 2.
SOLDAT der DNR 1 und SOLDAT der DNR 2.
POLIZISTEN der DNR und eine SCHWARZBRENNERIN aus einem TV-Beitrag über die Liquidierung der illegalen Produktion.
KURCHAVIN, Erster Stellvertretender Direktor der Sonderabteilung der Präsidialverwaltung.
Das Alter aller Figuren wird mit dem Zeitpunkt ihres ersten Auftritts im Stück angegeben.
Der Ort der Handlung ist Annas Haus in einer Siedlung in der Nähe von Donezk.
[Im Russischen und Ukrainischen ist der Vorname des Vaters Namensbestandteil seines Kindes, der aus drei Namen besteht: Vorname, Vatersname, Familienname. Die OMA heißt z.B. Lisaweta Alexandrowna Starobeschewskaja. Die Anrede Vorname+Vatersname entspricht dem deutschen Frau/Herr+Nachname. – A.d.Ü.]
ERSTER TEIL
Im März 2014, nach dem Euromaidan, wurden im Südosten der Ukraine die Volksrepubliken Donezk und Luhansk gegründet, die sich weigerten, Kiew zu gehorchen. Die Regierung begann einen Krieg gegen die Separatisten. Und Oma wurde klar, warum es so kommen musste.
Omas Zimmer. Es ist Abend.
Wir sehen ein ungemütliches, vermülltes Zimmer mit einem Teppich aus der Sowjetzeit an der Wand. Es gibt auch einen alten Fernseher, der sorgfältig mit einem Tischtuch abgedeckt ist. In der Ecke steht eine große karierte Reisetasche.
In der Mitte des Raumes sitzt OMA mit heruntergelassener Jogginghose auf einem Nachtstuhl.
OMA
[OMA Sie spricht ein Russisch, wie es in den bildungsfernen Schichten im Süden des russischen Sprachgebietes gesprochen wird. Die Darstellerin könnte eine regional gefärbte Aussprache verwenden. – A.d.Ü.]
Ich kann euch schon sagen, wieso der Krieg begann. Weil sie Janukowitsch rausgeworfen haben, verstehst du? Zuerst haben sie ihren Maidan gemacht, und dann haben sie ihn rausgeschmissen. Und wenn sie ihm nur erlaubt hätten, noch solange zu bleiben was ihm noch zustand, dann wäre gar nichts passiert, nichts! Alles wäre normal gewesen. Aber das wollten sie nicht. Das sag' dir ich – Lisaweta Alexandrowna Starobeschewskaja ...
(denkt nach)
Warum hat er denn begonnen, dieser Krieg? Janukowitsch, als er noch hier in der Region Donezk gearbeitet hat, er hat mir soo gut gefallen, soo gut. Ich dachte, wenigstens würden wir eine schönen Mann als Präsidenten der Ukraine bekommen. Ich habe für ihn gestimmt, ja hab ich. Aber ich hätte nie gedacht, dass er soo ein Dieb ist, dass er alles klaut! Versteht ihr? Diese Banderas, sie waren einfach neidisch auf Janukowitsch, sie dachten, wie kann es sein, dass die prorussischen stehlen und wir nicht? Also haben sie ihn rausgeschmissen. Um alles selbst zu plündern. Versteht ihr? Das sagt euch Lisaweta Alexandrowna Starobeshewskaja.
Anna tritt auf.
ANNA
Was quasselst du da, Oma? Welcher Krieg? Der Große Vaterländische Krieg? Warum habe ich dich auf den Stuhl gesetzt? Damit du scheißen kannst. Und du redest von Politik! Von Politik kriegt man Verstopfung. Du sollst scheißen!
OMA
Ich muss nicht.
ANNA
Du musst nicht, soso. Dann bring ich dich wieder ins Bett und du wälzt dich bis zum Abend in deiner eigenen Scheiße. Ich hab eh Besseres zu tun, als hier mit dir rumzuhängen.
OMA
Andrjuscha hat sich besser um mich gekümmert.
ANNA
Dein Andrjuscha ist nach Moskau abgehauen, hat dich längst vergessen.
OMA
Bald wird er kommen und mich holen.
ANNA
Natürlich kommt er. Wenn die Kröte dir ihre Zitze gibt. Pass auf, Oma, reiß dich zusammen und kack endlich.
Anna geht zum Fenster und zündet sich eine Zigarette an.
ANNA
Jetzt ist er dir wieder eingefallen, dein Sohn Andrjuscha, du alte Schachtel?
OMA
Du hast es einfach nicht geschafft, den guten Mann bei dir zu behalten!
ANNA
Wenn er denn ein guter Mann gewesen wäre, hätte ich ihn nie gehen lassen. Aber ich hatte schon viel bessere Männer, hörst du, Lisaweta Petrowna?
OMA
Lisaweta Alexandrowna!
ANNA
(kichert)
Nun, ich hatte drei Ehemänner. Der erste war ein Bandit. Es war lustig mit ihm. Er hat mir einen Sohn gemacht, meinen Ältesten, und er nannte ihn Schwarz – nach Arnold Schwarzenegger, er hat sehr gerne Terminator auf dem Videorekorder geguckt, hat mich gebeten, „mach mir mal, Anja, Terminator auf dem Rekorder an“. Das hat er sich tagaus, tagein reingezogen. Und das war sein Ende. Irgendwann hat er beschlossen, selbst der Terminator zu sein. Er wurde zu frech, zu selbstsicher. Dafür hat man ihn einfach abgeknallt, den Idioten.
(zieht an ihrer Zigarette)
Der zweite Ehemann war ein Schwarzhändler – Andrjuscha, Omis Söhnchen.
OMA
Ja, mein Andrjuscha!
ANNA
Mein Leben mit ihm ... war sehr perspektivreich. Wir haben nicht schlecht gelebt – drei Tage in Polen zum Einkaufen, zwei Tage in Donezk auf dem Markt. Dann wollte er mich überreden, mein Haus zu verpfänden, um einen Kredit zu bekommen, damit er sein Geschäft ausbauen kann. Ich sagte: „Du kannst mich mal!“, und er: „Du bist so dumm, Anja, ich hätte dir einen Pelzmantel und einen Mercedes gekauft. Aber du klammerst dich an deine Bruchbude!“. Ich sagte: „Du bist ein Gauner, Andrej. Dir ist nichts heilig. In diesem Haus ist mein Großvater nach dem Krieg verhungert. Hier hat mein Vater meine Mutter im Suff halb totgeschlagen. Mein Bruder, der in der Mine starb, wurde von hier zum Friedhof gebracht. Und jetzt sollen wir das alles einfach so verschleudern?!“ Unsere Werte passten einfach nicht zusammen. Dann ging er nach Moskau. Zu seinen Leuten – zu den Gaunern. Und seine kranke Mutter hat er dann einfach bei mir gelassen.
OMA
Mich, Lisaweta Alexandrowna Storobeschewskaja!
ANNA
Ja klar, Lisaweta Heinrichowna!
OMA
Lisaweta Alexandrowna!
ANNA
(kichert)
Aber bevor er ging, machte mir dieser Schwarzhändler eine Tochter, die er Maryla nannte. „Zu Ehren des gelobten Landes Polen, dem ich es verdanke, dass ich Businessman geworden bin“, verkündete er. Nun, zu Ehren Polens. Ich wusste nicht, was für ein verräterisches Land das ist. Es stellte sich heraus, dass Maryla der Name einer Hure in Kołobrzeg war, die meinem Ex gefälschtes Parfüm verkaufte. Und natürlich hat er bei ihr gepennt.
(zeigt auf das Fenster)
Und das ist Maryla höchstpersönlich. Guck mal, da galoppiert sie durch den Gemüsegarten, die polnische Prinzessin.
(ruft)
Maryla! Wo willst du denn hin? Du siehst aus wie Chingachgook! Gehst du tanzen?
(für sich)
Ich fürchte, sie wird ein Flittchen.
(ruft wieder)
Dass du mir um zehn zu Hause bist! Und dass dein Macker mir gut auf dich aufpasst! Ich mag diese Mesalliancen nicht. Daraus wird nie was Gutes.
OMA
Auch ich sagte zu Andrjuscha: „Du solltest dir ein besseres Mädchen suchen“.
ANNA
Vielleicht hätte er eine gefunden. Aber mit einer Schwiegermutter wie dir wollte ihn niemand. Wie kommst du voran, Lisaweta Markowna?
OMA
Lisaweta Alexandrowna!
ANNA
(grinst)
Na ja, und der dritte Ehemann – möge der zahnlose Mund unserer Oma seine Erinnerung nicht vergiften – der dritte Ehemann hieß Arsenij Jablokow. Es war so herzerwärmend mit ihm...
Ich weiß noch, einmal, gleich nach dem Standesamt, da sitzen wir bei mir zu Hause, das Dach ist undicht, keine Arbeit, die Kinder schreien. Ein weiteres ist unterwegs. Und ich trinke Artemovsk-Sekt aus der Pulle und lache wie verrückt. Und plötzlich schaut er mich an und sagt: „Weißt du, warum ich dich liebe, Anna?“ – „Warum denn?“ – „Weil du einen krassen Lebensmut hast.“ Ja, genau! Aber was soll ich denn ohne Mut machen? Wie soll ich so ein Leben durchstehen?
OMA
Bin fertig.
ANNA
Und wie weise mein Arsenij war! Er sagte einmal zu mir: „Wenn du einem Mann einen Fisch gibst, isst er einmal und hat dann wieder Hunger. Aber wenn du ihm eine Angel gibst, wird er sein Leben lang satt sein.“ „Was für eine Angel? Warum?“ – dachte ich. Und am nächsten Morgen baute er sich, wie man sagt, aus Scheiße und Stöcken eine Schnapsbrennerei. So kam ich zu meinem Beruf.
Anna singt ein Lied über den Selbstgebrannten.
Hier und im Folgenden sind die wichtigsten Inhalte des Liedes angegeben. In der Wahl der Versform, des Reims und der Melodie ist der Regisseur völlig frei.
ANNA
Schwarzbrand gilt als etwas Ungenießbares, Trübes und Stinkendes.
Man sagt, dass man vom Selbstgebrannten Kopfschmerzen bekommt.
Glaubst du, ich sage dir, dass das nicht stimmt?
Nein, natürlich nicht. Warum sollte ich es auch leugnen, es ist alles wahr. Aber...
Sieh dir das Leben um dich herum an, Kumpel.
Willst du an der Tankstelle malochen, willst du dir auf der Baustelle den Rücken krumm schuften?
Willst du auf dem Markt herumstehen oder bis sechs Uhr abends im Büro schmoren?
Und Whisky oder Cognac mit einem schicken französischen Namen trinken?
Aber das ist doch lächerlich, ha-ha-ha. Das ist heuchlerisch und feige.
Sei deinem Getränk ebenbürtig. Nimm den Geruch an. Akzeptiere den Kopfschmerz. Nimm das Leben an, wie es ist.
Sag ja zu deinem Leben.
Und du wirst die Befreiung spüren.
Du wirst den Mut finden, dieses schwere Leben zu meistern.
Oma versucht, Anna auf sich aufmerksam zu machen.
ANNA
„Hier, Anna“, sagte Arsenj zu mir. – „Dieses Ding wird dich ernähren, auch wenn ich nicht bei dir bin.“ Zuerst hatte ich Angst, dass auch er abhauen wollte.
Aber er tat es nicht, er starb an Krebs. Tja, wie man so schön sagt, genug des Guten.
OMA
Bin fertig, Anja.
ANNA
[ANNA erwähnt zwei Systeme von Destillationsapparaten, den Dampfdestillierer und den Barboteur. Das Schlangenrohr ist Bestandteil vieler Apparate. – Anm.d.Ü.]
Schön für dich, Oma. Bleib sitzen, lass mich zu Ende rauchen. Er war ein Wanderer. Eine heimatlose Seele. Und ein Heimatloser hat keine Wurzeln, keine Herkunft. Solche Leute leben nicht lange. Ich hatte keine Zeit, ihn bei mir zu verwurzeln. Ich erinnere mich, dass Arsenij, kurz bevor er im Krankenhaus starb, die Augen aufschlug und mich bat, näher zu kommen. „Merk's dir, Anna, fürs Leben...“ Und er keuchte. „Was? Was soll ich mir merken?!“ – „Merke dir... ein Dampfdestillierer ist immer besser als ein Barboteur.“ Das war sein Vermächtnis... Und ich habe einen Sohn von ihm, den wir Rory nannten. Das ist die Abkürzung für Schlangenrohr.
OMA
Anya, ich habe gekackt!
ANNA
Ich komm' schon, Oma, du Pechvogel.
Sie drückt ihre Zigarette aus und geht, um sich um Oma zu kümmern.
Deutsch von Boris Borisovich