„Katalog des Kopfens“. Von Carola Gruber
Ob hastig, konspirativ, irrtümlich oder heimlich: Es gibt verschiedene Arten des Klopfens. Carola Grubers Katalog zählt einige davon auf. Der Text entstand für eine künstlerische Zusammenarbeit mit der Pianistin Mabel Yu-ting Huang, dem Licht- und Soundkünstler Dawid Liftinger und dem Fotografen Ole-Kristian Heyer.
Mit dem folgenden Text Katalog des Klopfens beteiligt sich Carola Gruber an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Klopf.
Klopf, klopf?
Klopf? (Klopf?)
Klopf! Klopf-Klopf!!
Klopf-klopf-klopf!!!
Klopf-klopf.
Klopf.
*
Fürs Klopfen braucht man drei Dinge.
Ein Ding, das klopft oder mit dem man klopft.
Ein anderes Ding, auf das geklopft wird.
Schließlich den Impuls, zu klopfen.
*
Hastiges Klopfen sagt: Ich bin schon spät dran. Darf ich trotzdem noch herein?
Selbstbewusstes Klopfen dagegen lässt keinen Zweifel daran, dass sich jemand erwünscht, ja, erwartet fühlt. Denkt, gleich werde die Tür aufgerissen, Arme ausgebreitet und geflüstert: Endlich bist du da.
Ermahnendes Klopfen, an einer Bürotür etwa, klingt so: Solltest du nicht arbeiten? Schau dich doch an. Du siehst aus dem Fenster, siehst dem Regen beim Fallen und den Wolken beim Wandern zu, du träumst. Klopf. Du solltest etwas leisten, wertvoll sein für andere – dadurch, dass du etwas herstellst, vorbereitest, zuarbeitest. Klopf-klopf. Du solltest nicht ziellos im Internet surfen, keine Artikel in Boulevard-Medien lesen, dich nicht „informieren“, wessen Schönheits-Operation missglückt ist, wer sich trennt, wer zugenommen hat und wer als zu dünn gilt, und natürlich solltest du auch keine Privatgespräche führen. Klopf-klopf-klopf. Die Person hinter der beklopften Tür wird ins Hier und Jetzt zurückgeholt: an den Schreibtisch, zu den Pflichten, zu der Tätigkeit, für die sie bezahlt wird (und die sie langweilt). Klopf-klopf-klopf-klopf.
Konspiratives Klopfen folgt einem Code. Sein Rhythmus ist ein geheimer Identitätsnachweis. Passt zu einer Erwartung auf der anderen Seite. Wie der Schlüssel in den Zylinder. Öffnet ein Schloss, eine Tür, ein Ohr, ein Herz.
Einseitig verschlüsseltes Klopfen folgt zwar auch einem Code, aber dieser ist nur für die empfangende Seite klar; die sendende Seite verwendet den Code unbewusst. (Diese Art des Klopfens kommt oft in hierarchischen Beziehungen vor, etwa zwischen Vorgesetzter und Angestelltem.) Die empfangende Seite hat gelernt, das Klopfen zu deuten, daraus eine Stimmung, einen Gedanken oder auch die Dringlichkeit eines Anliegens herauszulesen. Das Klopfen ist zu einer vertrauten Sprache geworden, wobei die empfangende Seite die Sprache versteht, ohne sie selbst zu sprechen, und die sendende Seite die Sprache spricht, ohne sie verstehen zu müssen.
Heimliches Klopfen soll paradoxerweise gehört und nicht gehört werden. Hören soll es am besten nur die Person, für die es bestimmt ist. Nicht hören sollen es alle anderen. Sie sollen weder gestört noch zu Fragen angeregt werden, die lauten könnten: Ach, du hier? Arbeitest du nicht eigentlich gerade an etwas anderem? Was haben Sie mit der Kollegin zu besprechen? Vermieden werden sollen – neben jenen Fragen, die direkt ins Gesicht gestellt werden – auch solche, die unter der Oberfläche laufen und sich anderswo Bahn brechen, etwa im Gespräch mit Dritten: Hast du gesehen, neulich klopfte Person A an die Tür von Person B? Wusstest du, dass die beiden, wie sage ich das, zusammenarbeiten, wenn du weißt, was ich meine? Ist A nicht verheiratet? Ist B nicht ein bisschen jung für A? Hättest du das gedacht? Und so weiter. Heimliches Klopfen lässt sich mit → konspirativem Klopfen kombinieren, ist aber anders ausgerichtet: Während sich konspiratives Klopfen grundsätzlich dazu bekennt, ein Klopfen zu sein, jedoch einem geheimen Pattern folgt, wäre heimliches Klopfen am liebsten gar nicht als Klopfen erkennbar – außer für die Person, die es angeht.
Rücksichtsvolles Klopfen ist mit → heimlichem Klopfen verwandt. Nur birgt es kein Geheimnis. Rücksichtsvolles Klopfen existiert aus Höflichkeit, wäre aber am liebsten gar nicht da. Deshalb ist es sehr leise. Niemand soll sich erschrecken oder beim abrupten Hochfahren aus einer schreibenden oder werkelnden Tätigkeit das, woran gerade gearbeitet wird, beschädigen oder sich selbst derart abgelenkt finden, dass es schwer wäre, die eben noch durchgeführte konzentrierte Tätigkeit wieder aufzunehmen. (Klopf, klopf.)
Pro-forma-Klopfen erfolgt im gleichen Moment wie das Öffnen der Tür. Die Aufforderung einzutreten wird nicht abgewartet. Die klopfende Person weiß, dass sie eintreten darf (oder sie findet, dass die Person auf der anderen Seite nichts zu melden hat). Durch das sofortige Aufreißen der Tür spart man Zeit – diese wiederum fehlt der Person auf der anderen Seite. Sie hat keine Gelegenheit, den Bürostuhl zurechtzurücken, eine angemessene Arbeitshaltung einzunehmen und sich darauf einzustellen, jemanden zu empfangen. Sie muss improvisieren oder sich ständig bereithalten. Letzteres empfiehlt sich vor allem dann, wenn es ihre berufliche Position erfordert. (Wie das → einseitig verschlüsselte Klopfen ist das Pro-forma-Klopfen oft in hierarchischen Beziehungen anzutreffen.) Pro-forma-Klopfen ist nicht höflich, es markiert die Stelle, wo Platz für Höflichkeit gewesen wäre. Routiniert wie die Berufspendlerin, die einen Sekundenbruchteil, bevor sie einem anderen Metro-Fahrgast in voller Absicht auf den Fuß tritt, bereits rhetorisch Pardon! ausruft (was in dem Fall keine Bitte um Verzeihung ist, sondern die Kurzform für: du dummer Tourist, was stehst du im Weg herum, verdammt noch mal?), in etwa so routiniert funktioniert das Pro-forma-Klopfen mit der einen Hand, während die andere schon die Klinke drückt. Es ist eine sparsame Erinnerung an elementarste Regeln, die man wie eine hauchdünne Schicht Puderzucker über die rohe Eile des Alltags streut: Wenn man jemandem auf den Fuß tritt, dann entschuldigt man sich; wenn man ein Büro betritt, klopft man. Oder (dies nicht nur ein Gebot der Höflichkeit, sondern auch der Straßenverkehrsordnung): Wenn man abbiegt, blinkt man. Wie so oft macht Timing den Unterschied.
Neugieriges oder auch erkundendes Klopfen fragt: Wie klingst Du, lieber Tisch, liebes Holz, liebes Geländer, wie klingst Du, wenn Du schwingen darfst? Vielleicht fragt dieses Klopfen, darunterliegend, vor allem: Ist da etwas? Ein kleiner Widerstand? Etwas, das mich fühlen lässt, dass ich nicht allein bin?
Diagnostisches Klopfen ist seinerseits mit → neugierigem Klopfen verwandt, allerdings weniger ergebnisoffen. So bittet die Ärztin, einmal tief einzuatmen, während ihr Finger auf dem zu untersuchenden Körper entlang gleitet und ein zweiter Finger auf den ersten klopft, den Körper in ein Instrument verwandelt und somit hörbar macht, was von außen, ohne Bild gebendes Verfahren, ohne Strahlen und ohne Schnitt in die Haut, nicht zu sehen ist: Wie dicht, wie kompakt ist der Körper an dieser und jener Stelle, ist dort alles ausgefüllt oder ist da ein Resonanzraum?
Dringliches Klopfen sagt zum Beispiel: Lass mich rein, ein letztes Mal. Diesmal wird alles anders, versprochen. Ich werde mich benehmen, werde nicht laut und auch nicht handgreiflich, denn ich weiß, dass du das nicht verdient hast. Du sollst gut behandelt werden, und das will ich dir bieten, gute Behandlung, glaub mir, ich werde mich zusammenreißen, auch wenn du versuchen wirst, mich auf die Palme zu bringen mit deinen kleinen Eigenheiten, deinen Vorwürfen, deiner Art, mir das Leben zur Hölle zu machen. Ich werde standhaft sein, denn ich kann mich beherrschen (im Gegensatz zu dir). Nun lass mich schon rein, ein letztes Mal, lass es mich dir beweisen. Jetzt mach schon auf, verdammt noch mal, mach endlich auf, bevor ich mich vergesse.
Hilfesuchendes Klopfen ist bei Verschütteten anzutreffen. Ein Haus ist eingestürzt. Es besteht plötzlich aus kleineren Teilen als zuvor, nun, besteht genau genommen gar nicht mehr, darum geht es ja. Einzelne Teile aber, Mauerstücke, Rohre, Balken, ragen aus den Bergen kleinerer, gründlicher zerstörter Teile hervor, aus dem Dreck und dem Staub, und sie versprechen, akustische Schwingungen zu leiten, bieten sich als mögliche Verlängerung des Hilferufs an: Klopfe hier, und ich leite dein Signal weiter, nach draußen, nach oben, weg von hier, dorthin, wo den Menschen keine Trümmerteile auf dem Brustkorb liegen, dorthin, wo der Staub und die verbrauchte Luft einem das Atmen nicht schwer machen, dorthin, wo man sich frei bewegen kann, dorthin, wo nach dir gesucht wird.
Genügsames Klopfen dagegen will nirgendwohin. Es will durch keine Tür und aus keinem Trümmerhaufen heraus. Es will keine Rettung rufen. Nicht einmal erkunden will es und es braucht auch kein akustisches Feedback. Es ist einfach nur da. Klopf-klopf. Das Herz, das seine Arbeit macht.
Beifall-Klopfen ist insofern mit → genügsamem Klopfen verwandt, als es auch nirgendwohin will. Trotzdem gehört es zur großen Gruppe des kommunikativen Klopfens: Klopfen, das (mindestens) ein Gegenüber im Blick hat und mit ihm in Kontakt treten möchte. Beifall-Klopfen ist oft ein doppeltes Klopfen. Mit ihm kann man eine vortragende Person zu ihrer intellektuellen Leistung beglückwünschen. Zugleich aber beglückwünscht sich die Beifall spendende Person auch selbst dazu, zum exklusiven Kreis derjenigen zu gehören, die sich solcher Gesten des studentischen Brauchtums bedienen. Die also die Verabredung kennen, dass Anerkennung durch das Klopfen der Knöchel auf den Tisch anzuzeigen ist (und eben nicht durch das schnöde, plebejische Aufeinanderschlagen der Handflächen). Und dann dieses Hochgefühl, Teil eines Brausens und Trappelns zu sein, das durch den Saal geht. Die eigenen Hände zu Hufe des galoppierenden studentischen Körpers zu machen. Heißa!
Nervöses Klopfen wird oft begleitet von anderen unwillkürlichen Bewegungen, ein Wippen mit dem Fuß, ein Schnippen mit dem Finger, ein Nesteln am Etikett einer Bierflasche, ein Zurechtzuppeln einer Tischdecke. Nervöses Klopfen will vermeintlich auch nirgendwohin, es bittet nicht um Einlass, ermahnt niemanden, fordert nichts, und doch will es irgendwie weg, will darauf hinwirken, dass die Situation, in der es entsteht, aufhört, dieses angespannte Warten, dieses unangenehme Gespräch, diese Stille nach einem Witz oder nach einer wichtigen Frage oder einfach dieses Missgeschick. Nur weg von hier.
Klopfen auf Holz findet manchmal nur in Worten statt, in anderen Fällen folgt ihm genau diese Tätigkeit; seltener wird zuerst auf Holz geklopft und dann die Redewendung ausgesprochen. Sollte kein Holz zur Hand sein, so kann auf etwas zurückgegriffen werden, das aus Holz sein könnte und, je nach ästhetischem Empfinden, es vielleicht auch sein sollte, etwa ein Tisch. Besonders geeignet sind Dinge, die klingen und aussehen wie Holz. Alternativ kann auf etwas anderes geklopft werden, das den nötigen Widerstand bietet, um einen Klang zu erzeugen.
Irrtümliches Klopfen liegt vor, wenn beispielsweise aus Gewohnheit an einer Tür geklopft wird, obwohl an ebendieser oder zumindest an dieser Seite nicht zu klopfen ist, etwa beim Verlassen des Vorstandsbüros oder auch des eigenen Büros zum Gang hin, wenn man gerade in die Teeküche oder zu den Toiletten gehen möchte. Oder auch beim verspäteten Betreten eines Raums, in dem eine Sitzung abgehalten wird, der man sich unauffällig anschließen möchte. Die klopfende Person weiß grundsätzlich, dass Klopfen in diesen Situationen unnötig, sozial nicht erwünscht oder sogar störend ist. Dass sie trotzdem klopft, liegt daran, dass sie mit den Gedanken gerade woanders ist: ob sie auf dem Gang gleich Person C oder Person D begegnen könnte (was Anlass für eine überschwängliche Begrüßung, für ein schüchternes Nicken oder auch für den betont freundlichen Austausch von Floskeln sein könnte), ob der Rock oder die Hose richtig sitzt und der Person, die eigentlich nicht klopfen sollte, beim Verlassen des Raums auch in der Rückenansicht zu einer guten Figur verhilft, ob sie auf dem Tisch des Vorstands ein Blatt hat liegen lassen (auf dessen Rückseite eine kompromittierende, offenkundig private Notiz zu finden ist), ob der heute Morgen geleerte Wasserkocher in der heimischen Küche tatsächlich ausgeschaltet wurde, ob die Kinderbetreuung für den heutigen Nachmittag lückenlos organisiert wurde und so weiter.
Konventionelles, klassisches oder auch neutrales Klopfen gibt es nicht. Zwar besagen hartnäckige Gerüchte das Gegenteil. Dies jedoch ist weniger ein Beweis für die Existenz eines solchen Klopfens als vielmehr Ausdruck des Wunschs, ja, der Sehnsucht, einfach nur zu klopfen. Zu klopfen, ohne dass dies gleich etwas bedeute, aussage oder sonst wie gefärbt sei. Ein solches Klopfen wurde bisher jedoch nicht beobachtet.
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Carola Gruber, geb. 1983, lebt als freie Autorin, Redakteurin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. Promovierte in Neuerer deutscher Literatur in München. Mehrere literarische Stipendien und Preise. Zwei Prosabände, Alles an seinem Platz und Stoffelhoppels Untergang, sowie eine literaturwissenschaftliche Monografie, Ereignisse in aller Kürze. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften, darunter Am Erker, Blumenfresser, erostepost, Literaturportal Bayern, miromente, oda, poet/poetin und Signum.
„Katalog des Kopfens“. Von Carola Gruber>
Ob hastig, konspirativ, irrtümlich oder heimlich: Es gibt verschiedene Arten des Klopfens. Carola Grubers Katalog zählt einige davon auf. Der Text entstand für eine künstlerische Zusammenarbeit mit der Pianistin Mabel Yu-ting Huang, dem Licht- und Soundkünstler Dawid Liftinger und dem Fotografen Ole-Kristian Heyer.
Mit dem folgenden Text Katalog des Klopfens beteiligt sich Carola Gruber an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
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Klopf.
Klopf, klopf?
Klopf? (Klopf?)
Klopf! Klopf-Klopf!!
Klopf-klopf-klopf!!!
Klopf-klopf.
Klopf.
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Fürs Klopfen braucht man drei Dinge.
Ein Ding, das klopft oder mit dem man klopft.
Ein anderes Ding, auf das geklopft wird.
Schließlich den Impuls, zu klopfen.
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Hastiges Klopfen sagt: Ich bin schon spät dran. Darf ich trotzdem noch herein?
Selbstbewusstes Klopfen dagegen lässt keinen Zweifel daran, dass sich jemand erwünscht, ja, erwartet fühlt. Denkt, gleich werde die Tür aufgerissen, Arme ausgebreitet und geflüstert: Endlich bist du da.
Ermahnendes Klopfen, an einer Bürotür etwa, klingt so: Solltest du nicht arbeiten? Schau dich doch an. Du siehst aus dem Fenster, siehst dem Regen beim Fallen und den Wolken beim Wandern zu, du träumst. Klopf. Du solltest etwas leisten, wertvoll sein für andere – dadurch, dass du etwas herstellst, vorbereitest, zuarbeitest. Klopf-klopf. Du solltest nicht ziellos im Internet surfen, keine Artikel in Boulevard-Medien lesen, dich nicht „informieren“, wessen Schönheits-Operation missglückt ist, wer sich trennt, wer zugenommen hat und wer als zu dünn gilt, und natürlich solltest du auch keine Privatgespräche führen. Klopf-klopf-klopf. Die Person hinter der beklopften Tür wird ins Hier und Jetzt zurückgeholt: an den Schreibtisch, zu den Pflichten, zu der Tätigkeit, für die sie bezahlt wird (und die sie langweilt). Klopf-klopf-klopf-klopf.
Konspiratives Klopfen folgt einem Code. Sein Rhythmus ist ein geheimer Identitätsnachweis. Passt zu einer Erwartung auf der anderen Seite. Wie der Schlüssel in den Zylinder. Öffnet ein Schloss, eine Tür, ein Ohr, ein Herz.
Einseitig verschlüsseltes Klopfen folgt zwar auch einem Code, aber dieser ist nur für die empfangende Seite klar; die sendende Seite verwendet den Code unbewusst. (Diese Art des Klopfens kommt oft in hierarchischen Beziehungen vor, etwa zwischen Vorgesetzter und Angestelltem.) Die empfangende Seite hat gelernt, das Klopfen zu deuten, daraus eine Stimmung, einen Gedanken oder auch die Dringlichkeit eines Anliegens herauszulesen. Das Klopfen ist zu einer vertrauten Sprache geworden, wobei die empfangende Seite die Sprache versteht, ohne sie selbst zu sprechen, und die sendende Seite die Sprache spricht, ohne sie verstehen zu müssen.
Heimliches Klopfen soll paradoxerweise gehört und nicht gehört werden. Hören soll es am besten nur die Person, für die es bestimmt ist. Nicht hören sollen es alle anderen. Sie sollen weder gestört noch zu Fragen angeregt werden, die lauten könnten: Ach, du hier? Arbeitest du nicht eigentlich gerade an etwas anderem? Was haben Sie mit der Kollegin zu besprechen? Vermieden werden sollen – neben jenen Fragen, die direkt ins Gesicht gestellt werden – auch solche, die unter der Oberfläche laufen und sich anderswo Bahn brechen, etwa im Gespräch mit Dritten: Hast du gesehen, neulich klopfte Person A an die Tür von Person B? Wusstest du, dass die beiden, wie sage ich das, zusammenarbeiten, wenn du weißt, was ich meine? Ist A nicht verheiratet? Ist B nicht ein bisschen jung für A? Hättest du das gedacht? Und so weiter. Heimliches Klopfen lässt sich mit → konspirativem Klopfen kombinieren, ist aber anders ausgerichtet: Während sich konspiratives Klopfen grundsätzlich dazu bekennt, ein Klopfen zu sein, jedoch einem geheimen Pattern folgt, wäre heimliches Klopfen am liebsten gar nicht als Klopfen erkennbar – außer für die Person, die es angeht.
Rücksichtsvolles Klopfen ist mit → heimlichem Klopfen verwandt. Nur birgt es kein Geheimnis. Rücksichtsvolles Klopfen existiert aus Höflichkeit, wäre aber am liebsten gar nicht da. Deshalb ist es sehr leise. Niemand soll sich erschrecken oder beim abrupten Hochfahren aus einer schreibenden oder werkelnden Tätigkeit das, woran gerade gearbeitet wird, beschädigen oder sich selbst derart abgelenkt finden, dass es schwer wäre, die eben noch durchgeführte konzentrierte Tätigkeit wieder aufzunehmen. (Klopf, klopf.)
Pro-forma-Klopfen erfolgt im gleichen Moment wie das Öffnen der Tür. Die Aufforderung einzutreten wird nicht abgewartet. Die klopfende Person weiß, dass sie eintreten darf (oder sie findet, dass die Person auf der anderen Seite nichts zu melden hat). Durch das sofortige Aufreißen der Tür spart man Zeit – diese wiederum fehlt der Person auf der anderen Seite. Sie hat keine Gelegenheit, den Bürostuhl zurechtzurücken, eine angemessene Arbeitshaltung einzunehmen und sich darauf einzustellen, jemanden zu empfangen. Sie muss improvisieren oder sich ständig bereithalten. Letzteres empfiehlt sich vor allem dann, wenn es ihre berufliche Position erfordert. (Wie das → einseitig verschlüsselte Klopfen ist das Pro-forma-Klopfen oft in hierarchischen Beziehungen anzutreffen.) Pro-forma-Klopfen ist nicht höflich, es markiert die Stelle, wo Platz für Höflichkeit gewesen wäre. Routiniert wie die Berufspendlerin, die einen Sekundenbruchteil, bevor sie einem anderen Metro-Fahrgast in voller Absicht auf den Fuß tritt, bereits rhetorisch Pardon! ausruft (was in dem Fall keine Bitte um Verzeihung ist, sondern die Kurzform für: du dummer Tourist, was stehst du im Weg herum, verdammt noch mal?), in etwa so routiniert funktioniert das Pro-forma-Klopfen mit der einen Hand, während die andere schon die Klinke drückt. Es ist eine sparsame Erinnerung an elementarste Regeln, die man wie eine hauchdünne Schicht Puderzucker über die rohe Eile des Alltags streut: Wenn man jemandem auf den Fuß tritt, dann entschuldigt man sich; wenn man ein Büro betritt, klopft man. Oder (dies nicht nur ein Gebot der Höflichkeit, sondern auch der Straßenverkehrsordnung): Wenn man abbiegt, blinkt man. Wie so oft macht Timing den Unterschied.
Neugieriges oder auch erkundendes Klopfen fragt: Wie klingst Du, lieber Tisch, liebes Holz, liebes Geländer, wie klingst Du, wenn Du schwingen darfst? Vielleicht fragt dieses Klopfen, darunterliegend, vor allem: Ist da etwas? Ein kleiner Widerstand? Etwas, das mich fühlen lässt, dass ich nicht allein bin?
Diagnostisches Klopfen ist seinerseits mit → neugierigem Klopfen verwandt, allerdings weniger ergebnisoffen. So bittet die Ärztin, einmal tief einzuatmen, während ihr Finger auf dem zu untersuchenden Körper entlang gleitet und ein zweiter Finger auf den ersten klopft, den Körper in ein Instrument verwandelt und somit hörbar macht, was von außen, ohne Bild gebendes Verfahren, ohne Strahlen und ohne Schnitt in die Haut, nicht zu sehen ist: Wie dicht, wie kompakt ist der Körper an dieser und jener Stelle, ist dort alles ausgefüllt oder ist da ein Resonanzraum?
Dringliches Klopfen sagt zum Beispiel: Lass mich rein, ein letztes Mal. Diesmal wird alles anders, versprochen. Ich werde mich benehmen, werde nicht laut und auch nicht handgreiflich, denn ich weiß, dass du das nicht verdient hast. Du sollst gut behandelt werden, und das will ich dir bieten, gute Behandlung, glaub mir, ich werde mich zusammenreißen, auch wenn du versuchen wirst, mich auf die Palme zu bringen mit deinen kleinen Eigenheiten, deinen Vorwürfen, deiner Art, mir das Leben zur Hölle zu machen. Ich werde standhaft sein, denn ich kann mich beherrschen (im Gegensatz zu dir). Nun lass mich schon rein, ein letztes Mal, lass es mich dir beweisen. Jetzt mach schon auf, verdammt noch mal, mach endlich auf, bevor ich mich vergesse.
Hilfesuchendes Klopfen ist bei Verschütteten anzutreffen. Ein Haus ist eingestürzt. Es besteht plötzlich aus kleineren Teilen als zuvor, nun, besteht genau genommen gar nicht mehr, darum geht es ja. Einzelne Teile aber, Mauerstücke, Rohre, Balken, ragen aus den Bergen kleinerer, gründlicher zerstörter Teile hervor, aus dem Dreck und dem Staub, und sie versprechen, akustische Schwingungen zu leiten, bieten sich als mögliche Verlängerung des Hilferufs an: Klopfe hier, und ich leite dein Signal weiter, nach draußen, nach oben, weg von hier, dorthin, wo den Menschen keine Trümmerteile auf dem Brustkorb liegen, dorthin, wo der Staub und die verbrauchte Luft einem das Atmen nicht schwer machen, dorthin, wo man sich frei bewegen kann, dorthin, wo nach dir gesucht wird.
Genügsames Klopfen dagegen will nirgendwohin. Es will durch keine Tür und aus keinem Trümmerhaufen heraus. Es will keine Rettung rufen. Nicht einmal erkunden will es und es braucht auch kein akustisches Feedback. Es ist einfach nur da. Klopf-klopf. Das Herz, das seine Arbeit macht.
Beifall-Klopfen ist insofern mit → genügsamem Klopfen verwandt, als es auch nirgendwohin will. Trotzdem gehört es zur großen Gruppe des kommunikativen Klopfens: Klopfen, das (mindestens) ein Gegenüber im Blick hat und mit ihm in Kontakt treten möchte. Beifall-Klopfen ist oft ein doppeltes Klopfen. Mit ihm kann man eine vortragende Person zu ihrer intellektuellen Leistung beglückwünschen. Zugleich aber beglückwünscht sich die Beifall spendende Person auch selbst dazu, zum exklusiven Kreis derjenigen zu gehören, die sich solcher Gesten des studentischen Brauchtums bedienen. Die also die Verabredung kennen, dass Anerkennung durch das Klopfen der Knöchel auf den Tisch anzuzeigen ist (und eben nicht durch das schnöde, plebejische Aufeinanderschlagen der Handflächen). Und dann dieses Hochgefühl, Teil eines Brausens und Trappelns zu sein, das durch den Saal geht. Die eigenen Hände zu Hufe des galoppierenden studentischen Körpers zu machen. Heißa!
Nervöses Klopfen wird oft begleitet von anderen unwillkürlichen Bewegungen, ein Wippen mit dem Fuß, ein Schnippen mit dem Finger, ein Nesteln am Etikett einer Bierflasche, ein Zurechtzuppeln einer Tischdecke. Nervöses Klopfen will vermeintlich auch nirgendwohin, es bittet nicht um Einlass, ermahnt niemanden, fordert nichts, und doch will es irgendwie weg, will darauf hinwirken, dass die Situation, in der es entsteht, aufhört, dieses angespannte Warten, dieses unangenehme Gespräch, diese Stille nach einem Witz oder nach einer wichtigen Frage oder einfach dieses Missgeschick. Nur weg von hier.
Klopfen auf Holz findet manchmal nur in Worten statt, in anderen Fällen folgt ihm genau diese Tätigkeit; seltener wird zuerst auf Holz geklopft und dann die Redewendung ausgesprochen. Sollte kein Holz zur Hand sein, so kann auf etwas zurückgegriffen werden, das aus Holz sein könnte und, je nach ästhetischem Empfinden, es vielleicht auch sein sollte, etwa ein Tisch. Besonders geeignet sind Dinge, die klingen und aussehen wie Holz. Alternativ kann auf etwas anderes geklopft werden, das den nötigen Widerstand bietet, um einen Klang zu erzeugen.
Irrtümliches Klopfen liegt vor, wenn beispielsweise aus Gewohnheit an einer Tür geklopft wird, obwohl an ebendieser oder zumindest an dieser Seite nicht zu klopfen ist, etwa beim Verlassen des Vorstandsbüros oder auch des eigenen Büros zum Gang hin, wenn man gerade in die Teeküche oder zu den Toiletten gehen möchte. Oder auch beim verspäteten Betreten eines Raums, in dem eine Sitzung abgehalten wird, der man sich unauffällig anschließen möchte. Die klopfende Person weiß grundsätzlich, dass Klopfen in diesen Situationen unnötig, sozial nicht erwünscht oder sogar störend ist. Dass sie trotzdem klopft, liegt daran, dass sie mit den Gedanken gerade woanders ist: ob sie auf dem Gang gleich Person C oder Person D begegnen könnte (was Anlass für eine überschwängliche Begrüßung, für ein schüchternes Nicken oder auch für den betont freundlichen Austausch von Floskeln sein könnte), ob der Rock oder die Hose richtig sitzt und der Person, die eigentlich nicht klopfen sollte, beim Verlassen des Raums auch in der Rückenansicht zu einer guten Figur verhilft, ob sie auf dem Tisch des Vorstands ein Blatt hat liegen lassen (auf dessen Rückseite eine kompromittierende, offenkundig private Notiz zu finden ist), ob der heute Morgen geleerte Wasserkocher in der heimischen Küche tatsächlich ausgeschaltet wurde, ob die Kinderbetreuung für den heutigen Nachmittag lückenlos organisiert wurde und so weiter.
Konventionelles, klassisches oder auch neutrales Klopfen gibt es nicht. Zwar besagen hartnäckige Gerüchte das Gegenteil. Dies jedoch ist weniger ein Beweis für die Existenz eines solchen Klopfens als vielmehr Ausdruck des Wunschs, ja, der Sehnsucht, einfach nur zu klopfen. Zu klopfen, ohne dass dies gleich etwas bedeute, aussage oder sonst wie gefärbt sei. Ein solches Klopfen wurde bisher jedoch nicht beobachtet.
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Carola Gruber, geb. 1983, lebt als freie Autorin, Redakteurin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. Promovierte in Neuerer deutscher Literatur in München. Mehrere literarische Stipendien und Preise. Zwei Prosabände, Alles an seinem Platz und Stoffelhoppels Untergang, sowie eine literaturwissenschaftliche Monografie, Ereignisse in aller Kürze. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften, darunter Am Erker, Blumenfresser, erostepost, Literaturportal Bayern, miromente, oda, poet/poetin und Signum.