Ruhestörung. Eine Erzählung von Franziska Sperr

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(c) privat

Die Autorin, Journalistin und Übersetzerin Franziska Sperr engagiert sich neben ihren eigenen literarischen Tätigkeiten auch für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in ihren Heimatländern verfolgt werden.  

Mit der folgenden Erzählung beteiligt sich Franziska Sperr an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Bei Föhn ist die Wetterlage tückisch: blauer Himmel, fulminante Fernsicht, die Sonne penetrant grell, die Alpenkette rückt immer näher, und irgendwann meint man, auf den Hängen der zum Greifen nahe gerückten Zugspitze die einzelnen Skifahrer zu erkennen. Paradies auf Erden, vor allem in Bayern. Föhnland. Doch: Der Kopf brummt vor schlechter Laune und die Ungeduld erreicht auf der Nervositätsskala den Höchststand. Nur der leichte Wind scheint die Ruhe weg zu haben und schiebt kaum spürbar geduldig die Wärme aus dem Süden vor sich her.

„Ruhe in Frieden“ spricht der Pfarrer. Er hat heute rote Wangen und sagt den Satz anders als sonst. Fast schleudert er ihn in das ausgehobene Erdloch hinein. Kleine Schweißperlen haben sich auf seiner Stirn festgesetzt und funkeln im Sonnenlicht.

Der Pfarrer blickt sich auf seine rechte Schulter, klopft sie ab, danach die linke. Sein Blick ist flackernd, er wirkt heute nicht so souverän und ruhig wie noch ein paar Tage zuvor bei der Urnenbeisetzung der Frau Gschwendner. Was könnte die Ursache sein für seine plötzliche Nervosität? Irgendetwas sitzt ihm im Genick, und das können nicht bloß die bemoosten Risse in der Friedhofsmauer sein und der Gedanke daran, dass er dringend den Maurer bestellen muss. Es sieht eher danach aus, als beunruhige ihn die bevorstehende Rede. Schon allein die Frage, wie gerecht man dem Menschen werden kann an seinem offenen Grab. Irgendwie läuft es immer auf eine Beurteilung der gesamten Person hinaus. Was kann man oder sollte man weglassen? Welche der guten Eigenschaften ist hervorzuheben? Wie kann man einer Person überhaupt gerecht werden? Die Nachdenklichkeit in den Gesichtern der Anwesenden zeigt, dass auch sie sich gerade mit solchen Fragen beschäftigen.

Der Verstorbene ist hier allen bekannt; den meisten als streitsüchtig und aufbrausend. Sie haben ihre Erfahrungen mit ihm gemacht, und die kann man an manchem scheuen Blick erkennen.

Der, um den heute getrauert wird, der in Frieden ruhen soll, ist den Anwesenden als zwiespältige Person bekannt: Als einer, der sein Leben lang ein anstrengender Querulant war, dem man am besten aus dem Weg ging. Wer Streit mit ihm wollte, brauchte nicht lange zu suchen, denn Streit mit ihm konnte es wegen jeder Kleinigkeit geben; am schlimmsten war es, wenn er erkannte, dass er an einem Misslingen ganz offensichtlich selbst schuld war. Etwa wenn er vergessen hatte, Öl für die Heizung zu bestellen und die Liefertermine ausgebucht waren. Auch wenn aus dem Nachbarhaus eine auf der Violine gekratzte immer gleiche Etüde zu ihm herüberdrang, versetzte es ihn in Raserei. An solchen Tagen stieg ihm der Blutdruck auf glatte 200 und der Wutanfall war im ganzen Viertel zu hören. Manchmal genügten schon dunkle Regenwolken am Himmel, wenn er das Wetter anders erwartet hatte. Tanzte der Himmel nicht nach seiner Pfeife, konnte er richtig sauer werden. Er galt als penibel, leicht störbar und extrem dünnhäutig. Vielleicht auch als einer, der alles zu genau nahm und nichts dem Zufall überlassen konnte. Angespannte Gesichtszüge, der Mund ein Strich.

Kalle Kalmbach hatte aber noch eine andere Seite: großherzig und hilfsbereit, galant zu den Damen; da wirkte er allerdings etwas hölzern in seinen Gesten, wie ein Mann aus bestem Hause. Wann immer jemand in der näheren Umgebung ein echtes Problem hatte, er kam, telefonierte, fuhr mit seinem Auto hierhin, dorthin, um zu helfen. Man musste gar nicht eng mit ihm befreundet sein, es genügte schon die Nachbarschaft, und wenn man sich traute, ihn um etwas zu bitten, dann konnte seine Antwort unerwartet freundlich und besorgt sein. Ja, auch dafür war er bekannt: immer bereit zu helfen, beizustehen, wenn es brenzlig wurde.

Heute, am Tag seiner Beerdigung ist alles still und die Sonne lacht vom blauen Himmel, ganz in seinem Sinn: bestellt und hat geklappt. Die trauernde Dorfgemeinde eng beieinander. Eine Herde schwarz gekleideter Schafe in heiliger Eintracht. Niemand spricht, keiner bewegt sich. Man guckt nach unten, betrachtet die verstaubten Schuhspitzen, manche haben die Hände gefaltet und scheinen zu beten. Und wenn sie nicht beten, sind die Hände in dieser Haltung gut aufgehoben. Fast ist es, als erinnerte man sich gemeinsam an die letzten Auseinandersetzungen, die noch vor kurzem lautstark über die Gartenzäune hinweg die Richtung wechselten. Jetzt, in diesem stillen Moment, geht man in sich und fragt sich, wie es mit dem Streitlustigen auch hätte anders, friedlicher, leichter gehen können und wie schwer wohl das eigene Versagen wog, wenn er wieder einmal ausgerastet war. Jetzt ist eine Reparatur des Verhältnisses nicht mehr möglich. Wie so oft taucht der Gedanke daran erst auf, da alles vorbei und nicht mehr zu ändern ist.

Vielleicht ist das auch der Grund für die spürbare Unruhe, die sich hier breitmacht: manche schieben den Ärmel am Handgelenk ein wenig hoch, um heimlich auf die Armbanduhr zu sehen, andere versuchen sich mit einem Blick hinauf zu den kreisenden Vögeln abzulenken. Eine kleine ältere Frau hat sich an die bemooste Mauer gelehnt, als drohte sie in den nächsten Minuten ohnmächtig zu werden. Der Bürgermeister wippt von den Zehenspitzen auf die Hacken, ungeduldig vor und zurück. Frau Melzer muss niesen und für Sekunden weiß keiner, ob sie vielleicht in ihr Taschentuch weint. Herr von Marwitz legt den Kopf in den Nacken und guckt ins endlose Blau des Himmels. Dabei schwankt er ein bisschen. Kommt das von dem einen Schnaps am Morgen, von dessen medizinischer Wirkung auf Gesundheit und langes Leben er überzeugt ist? Oder verspricht er sich von dort oben etwas anderes? Das körperliche Gleichgewicht des alten Herrn von Marwitz scheint nicht mehr richtig intakt und mancher mag denken, dass der alte Herr hier möglicherweise der nächste sein könnte. Aber außer dem Pfarrer will hier auf dem Friedhof über den Tod niemand reden. Über den eventuell nahen nicht und nicht über den noch weit entfernt scheinenden. Auch nicht über den Frieden, in dem man ruhen möge. Eher tauscht man sich aus über Krankheiten und Zipperlein, das Knie, die Hüfte, der Schwindel.

Wer jetzt nicht zu sehr mit sich selbst und seinem Verhältnis zum Verstorbenen beschäftigt ist, dem könnte die kleine weißhaarige Frau an der Mauer auffallen, die niemandem hier bekannt zu sein scheint. Jetzt steht sie schon eine ganze Weile an die Mauer gelehnt, einsam, ein wenig außerhalb der stummen Trauergemeinde. Fahrig nestelt sie an ihren Mantelknöpfen und dem Schnappverschluss ihrer Handtasche herum. Sie schafft es nicht, ruhig dazustehen, sich nur auf das Trauern um den Toten zu konzentrieren. Es sieht aus als sei die Tasche, die sie unter den Arm geklemmt hat, bleischwer. Gebeugt, krumm, mit rundem Rücken und gequälter Miene steht sie da, als könne sie sich kaum aufrecht halten. Manche hier Stehenden scheinen beunruhigt zu sein, der eine oder andere Blick geht in Richtung der gebückten fremden Frau und gleich wieder zurück. Manche zucken mit den Schultern, überrascht und fragend zugleich, suchen den Blick der anderen. Wer ist das? Was will die hier? Darf die überhaupt hier stehen?

Die kleine weißhaarige Frau starrt zu Boden. Auf der Stirn hat sie zwei tief eingekerbte Falten, die von der Nasenwurzel senkrecht nach oben zeigen. „Ein Leben lang muss man für so tiefe Falten arbeiten“, flüstert mir Frau Melzer zu und lächelt komplizenhaft. Die kleine weißhaarige Frau sieht aus, als sei sie im Käfig ihrer Gedanken gefangen; starr und in sich gekehrt, gleichzeitig zappelig und nervös. An ihrer spitzen, weißgepuderten Nase funkelt ein hartnäckiger kleiner Tropfen in der Sonne. Die dunkelrote Krokohandtasche hat sie unter den rechten Arm geklemmt, misstrauisch, resolut und ängstlich zugleich. In ihrer Nähe, einen halben Meter größer, die Ehefrau des Verstorbenen, Ulla Kalmbach. Trittsicher steht sie da, mit selbstbewusst geradem Rücken und einer langstieligen Rose in der Hand. Äußerlich wirkt sie gefasst. Oder ist es Erleichterung, was sie für sich behalten und auf keinen Fall zeigen will? Fast jeder hier hat eine eigene Meinung darüber, wie gut oder schlecht die Ehe der Kalmbachs war.

Da Grab eines bekannten Scheusals, ein Grab, das eigentlich noch keines ist, das eher wirkt wie ein provisorisch ausgehobenes Erdloch. Heute Morgen, bevor der Pfarrer sprach, glaubten die meisten noch, dass kaum jemand zur Beerdigung einer derart schwierigen, umstrittenen Person kommen würde. Jeder dachte, er sei der Einzige, der seine Vorbehalte gegen Kalmbach überwinden konnte. Irrtum! Ein offensichtlich beliebtes Scheusal wird hier zu Grabe getragen, trauernde Bekannte, nahe, ferne Freunde oder Nachbarn, zwischen siebzig und neunzig, man kennt sich und gibt sich im Alter solidarisch.

Ob Kalmbach selbst diese Solidarität gefallen hätte, ob es ihn genervt und zu mehreren Wutanfällen gleichzeitig provoziert hätte, kann keiner wissen. Viele hier haben ihre Erfahrungen mit ihm gemacht, auch positive, sonst wären sie wohl nicht gekommen. Kalmbach war ein gutaussehender Mann und wenn er nicht gerade einen Wutanfall hatte und herumschrie, galt er bei den Damen mit seinen fast achtzig Jahren als begehrenswert und attraktiv. Und so manche stellt sogar noch hier Überlegungen an, ob es sich wohl gelohnt hätte, ihm Avancen zu machen, und was sie gemacht hätte, wenn er darauf eingegangen wäre. Keine möchte bei solchen Überlegungen hier erwischt werden.

Der Himmel ist jetzt nicht mehr ganz so leuchtend blau wie noch vor einer Stunde. Föhnwolken, schmale, langgezogene Schleier, die noch keine richtigen Wolken sind, ziehen vorbei. Ein schwarzes Eichhörnchen springt vom Stamm der Kastanie auf den Boden und hüpft gefährlich nah am Rand des Erdlochs herum. Als wolle es uns zur Erkenntnis zwingen, dass wir alle, die wir hier stehen, dem Abgrund nah sind. Schwer vorstellbar, in Frieden ruhen zu können mit einem Holzdeckel nur wenige Zentimeter über Stirn und Nase, beobachtet von einem klugen, schwarzen Eichhörnchen. Da hilft es auch nicht, wenn die Stimme des Pfarrers bei der Wiederholung des immer gleichen Satzes Ruhe in Frieden jetzt etwas weicher klingt. Seine Stimme ist auf einmal sanft und glatt, sein Gesichtsausdruck konzentriert, die roten Wangen sind jetzt nicht mehr so rot. Er hält eine kurze Predigt, in die er Lebenslauf und Ehrungen eingebaut hat. Lasset uns beten.

Auf einmal, in die Stille des Gebets hinein, wie auf Kommando eine Explosion; ein lauter Knall, gefolgt von einer dröhnenden Schallwelle, die über uns Trauernde hinweg rollt; so berstend, so gellend, dass es die Sinne betäubt. Luft und Erde vibrieren, die Trauernden zucken zusammen, das Eichhörnchen springt panisch über den Rand hinunter ins Erdloch, die unbekannte Weißhaarige bekreuzigt sich, Herr von Marwitz hat die Hände auf seine Ohren gelegt. Und ehe wir uns gewahr werden, was los ist und versuchen, mit einem Blick zum Himmel irgendetwas zu erfassen, sind die Düsenkampfjets zwar noch zu hören, aber nicht mehr zu sehen. Verschwunden in Richtung Alpenkette. Die Geräusche werden leiser, verebben bald ganz und dann ist es wieder still über den Gräbern. Der Pfarrer atmet sichtbar tief durch, sein Bauch unter der Soutane wölbt sich leicht nach außen und wirkt friedlich. Er schüttelt langsam und nachdenklich den Kopf. Seine Wangen sind jetzt wieder ein wenig röter, die Schweißperlen halten sich trotz wieder eingekehrter Stille hartnäckig auf seiner Stirn.  

Jetzt tritt als Erste Ulla Kalmbach aus der Trauergemeinde heraus, mit geradem Rücken und langem Hals geht sie an das Erdloch heran und wirft mit übertriebener, weit ausholender Geste die Rose hinein. Ihre Mundwinkel zeigen nach unten, wie zum spöttischen Kommentar über den gerade verebbenden, unheiligen Lärm über ihnen. Kurz blickt auch sie zum Himmel, sieht nicht wonach sie sucht, dann gleich hinunter auf den Sarg im Erdloch. Sie holt Luft und ruft laut und deutlich:

„Friede sei mit dir, Karl. Was du im Leben nicht hattest, möge dir dort oben endlich beschieden sein!“

Abrupt dreht sie sich um und schaut in die Runde. Ihre Gesichtszüge haben sich plötzlich verändert: ruhig, entspannt, wie erlöst.

Alle Trauernden haben sie beim Werfen der Rose beobachtet. Vier Teenager sind verspätet dazugekommen, lässig lehnen sie an der Friedhofsmauer neben der kleinen weißhaarigen Frau. Nachdem sich die Kampfflugzeuge Richtung Alpen verzogen haben, ist das Rauschen der Bäume im Wind wieder gut zu hören. Die zwitschernden Spatzen sind die einzige Konkurrenz. Ansonsten herrscht friedliche, himmlische Stille.

Und dann geschieht etwas Seltsames:

Die kleine Weißhaarige mit der zornigen Stirn befreit ihre Krokodillederhandtasche aus der Achselklemme, öffnet den Schnappverschluss, geht ein paar Schritte in Richtung Erdloch. Dann holt sie ein dickes Bündel grüner Geldscheine aus der Tasche. Sie geht ein wenig in die Knie, um der nun folgenden Bewegung Schwung und Nachdruck zu verleihen. Sie reißt den Arm nach hinten, holt aus und befördert das Bündel in die Luft, dann das nächste Bündel. Der Arm schwingt vor und zurück und im warmen, sanften Wind lösen sich die Scheine voneinander. Es regnet Geld.

„Da hast du, was du immer wolltest, Karl! Manchmal dauert es eben!“

Die Stimme der kleinen Frau ist unerwartet laut und tief. Schließlich überschlägt sie sich und der Satz endet mit einem Krächzen als käme es von einer der Krähen unter den Büschen. Die Handtasche hat sie neben sich abgestellt. Sie hält die Arme weit ausgebreitet, wie befreit von schwerer Last. Erschrockene Gesichter der Trauernden und des Pfarrers, die Blicke wandern nach oben. Eine aufgescheuchte Trauergemeinde, die jetzt nicht mehr ganz so nah beieinander steht, schaut zum Himmel und beobachtet, wie sich grüne Geldscheine voneinander lösen und einzeln in der zum exakt richtigen Moment aufkommenden Windbö segeln. Als hätte Kalmbach in seiner Präzisionssucht bei der Inszenierung mitgewirkt. Die Scheine kleben nicht mehr aneinander, sie flattern munter in der Luft, manche fallen gleich auf dem Boden und bleiben liegen, einige schweben ins Erdloch, ein paar ändern jetzt, im Auftrieb der Bö, die Richtung, fliegen steil nach oben hinauf, fast bis zur Kirchturmspitze, andere landen auf der Wasseroberfläche in der Regentonne. Der Wind lässt nach und schließlich liegen überall grüne Hunderter herum: Geld zu Füßen der Trauernden, auf den Grabsteinen, den kleinen Kiesflächen um die Nachbargräber.

Totenstille. Ernste Mienen. Herr von Marwitz wankt nicht mehr, Frau Melzer hat ihr Taschentuch weggesteckt und Frau Kirner ist das Lächeln vergangen. Ausgerechnet er, Herr von Marwitz, ist jetzt sichtbar versucht, sich zu bücken, fühlt sich beobachtet, kommt wieder hoch, steht aufrecht und schaut sich schuldbewusst um. Manche tun, als hätten sie den Geldregen nicht bemerkt, andere zucken verwundert mit den Schultern, keiner will sich auf die glitschige Spur der Gier begeben und dabei beobachtet werden, ausgerechnet an diesem Ort und zu dieser Stunde. Auch der Pfarrer hält sich zurück, obwohl er die Scheine für Kindergarten und Seniorenheim gut gebrauchen könnte.

„Amen.“

Das Zeichen des Hausherrn, dass jetzt Schluss ist. Der Kiesboden knirscht unter den Schuhsohlen der nun rasch Aufbrechenden.

„Gehet hin in Frieden.“

Manche fallen sich in die Arme, andere geben sich die Hand. Auf Wiedersehen. Bis zum nächsten Mal.