Gedichte von Charlotte Hattendorf
Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg (KLW) wird seit 2019 zwei bis dreimal im Jahr herausgegeben. Eine ihrer Beiträgerinnen ist die in Fürstenfeldbruck lebende Charlotte Hattendorf. Mit der folgenden Auswahl an Gedichten beteiligt sie sich an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Odenwald, barfuß
Wenn ich ankomme
Am Villenave d’Ornon-Platz
Bleibe ich stehen und staune aufs Neue über diesen Namen
Löse meine Sommerriemchen
Setze die Füße frei
Und gehe über die warmen Pflastersteine zu dir
Ich weiß, du wartest an der Tür auf mich
Irrfahrt
Ich verstehe mich dich das nicht
Habe deine Stimme nachts in meine Ohren geritzt
Deine Augen durch den Bildschirm in meine gestanzt
Und das www nach dem letzten LinkedIn-Bild durchforstet
Du mich was und wo passiert hier
Habe dich in Gedichten sterben lassen
Fünf fremde Männer gespürt
Nur damit Du deinen abgeschlagenen Kopf wieder aufsetzt
Und deinen Thron über meiner linken Herzkammer baust
Wie viele, warum und aus welcher Richtung
Von oben sieht man Bankgebäude Lilienstraßen Marktplätze
Wir beide nur Stecknadelköpfe eines riesigen Signalmosaiks
Wahllose Wandler, bedeutungslos
Doch ich und von allen Seiten Du dein Gesicht deine Worte
Plötzlich ihr
Da ist diese Brücke, über die alle nur schlappen
Da ist diese Kasse, an der alle nur nörgeln
Da ist diese Mitnehmkiste, in die alle nur Müll werfen
Da ist dieser Bettler, vor dem wir uns in unseren Kapuzen verstecken
Da ist dieses Gleis, hinter dem nur Werbung für die Bundeswehr hängt
Da ist dieser Schreibtisch, den wir uns nun alle teilen „dürfen“
Und dann seid da ihr auf dem Gleis
Ihr gebt dem Bettler
Ihr wandelt über die Brücke
Ihr kommt in mein Haus
Eure Brillengläser schimmern
Bleiben
Hier möchte ich mein Zelt aufschlagen
Auf diesem Hügel, der so wenig an die schottischen herankommt
Von dem aus Kohlekraft, Windräder und Hundebesitzer
Beileibe nicht verschwinden
Über den die Motorkisten rauschen
Als wäre Krieg und sie die Schutzmacht
Hier möchte ich im Unterholz leben
Wenn es stürmt von nichts als einer Buche geschützt
Tagsüber nichts tun als in den Gräsern lesen
Die Tagespolitik am Stand der Sonne erkennen
Gegen nichts als die Einsamkeit geimpft
Und wenn Hagelkörner so groß wie Tischtennisbälle
Das Wasser bis zum Himmel aufschlagen
Möchte ich nichts tun als hier zu sein
Und hinter mir mein Zelt
Und vor mit die Weite
Vom Stolperstein aus
Weißer Schlehendorn
Traubenhyazinthenähnliche Wicke
Holunder steht nur noch teilweise in Blüte
Blutbuche, so rot
Maifeuer
Nie ganz am Scheit selbst
Immer schwebend
Simulantenumarmung
Mit der Glut kein Zusammenhang
Das ist nicht deine Heimat
Schmarotzertaktik
Hier dort flackernd nicht greifbar
Farbe ändernd
Kohlenstoffwandler
Es ist so mit allem:
Es war etwas, es war Feuer, Lachen, dann
Kalte Asche
Hebt sich behäbig in die Luft
Die Schemen nun
Aschebeflockt
Ar Mor Lux
Ein Winterabend
Die Felsen rufen
Die Gischtflocken fliegen in der Luft
Auf dem Stein wächst gelbes Moos
Eine Katze ruft
Sieht uns an, die Welt, dich, und mich
Ein Winterabend
Die Felsen rufen
Und die hölzernen Fensterläden..
Und die Fischer..
Und das Meer auf das Pier…
Das Ende
Am Abend der Entscheidung
Liegen wir auf dem Badezimmervorleger.
Wenn die Zwölfe abgelaufen,
Jahre der Spaltung,
Sind wir nicht Schritte weiter.
Sind nach vorne
Und wieder nach hinten getrippelt.
Am Vorabend der Entscheidung
War Schreien und Plakate.
Je näher die Katastrophe rückte
Desto stiller wurde die Welt.
Am Abend der Entscheidung
War die Erwärmungsspirale entfesselt
Pole Wälder Gletscher schmelzen
Äquator wird zum Nichtlebensraum
Wir haben versucht uns die Adern aufzuschneiden
Doch das Wasser schwappt an die Wände
Es gab ein neues Erdbeben
Und die Klingel ruft uns an die berstende Tür:
Den einströmenden Wassermassen den Weg zu bereiten
Blick auf den Deister
Die Bücher von der Bib in der Tasche
Das Fahrrad an die Stange gekettet
Um den See, von dessen ‚Ton‘ im Namen keine Spur
Bis auf den knirschenden Kies unter den Sohlen
Weiter: Schrebergärtenpfade, Fahnenstangen mit Fetzenbeflaggung
„Hier geht es nicht weiter,
der Weg verläuft weiter oben am Wald entlang“
Die Frau mit dem wettergegerbten Gesicht streckt die Hand aus:
„Da, in der Ferne, das ist Springe“
Und der Blick auf den Deister heute verstellt, verwolkt.
Das Fahrrad muss warten,
Die Bücher rütteln in der Tasche.
Weg mit Ton und ohne Gebirgsaussicht.
Draußen
Knarren Rattern Stimmgewirr
Tickende Speichen und hallende Brücken
Verhallen
Der Weg schluckt die stampfenden Schritte
Und der Wind trägt unseren Schweiß davon
Der Kuckuck klingt so schön
Weil wir wissen: Es ist ein echter
Die Gräser sind nicht aus Plastik
Und der See gebührend dreckstarrend
Überall ist Weite
Hier herrschen die Gesetze von Licht, Wasser und Sauerstoff
Das Atmen des Bodens
Kann selbst der Motorenlärm von oben
Nicht beeinträchtigen
Charlotte Hattendorf (*1996 in Karlsruhe) hat Germanistik, Romanistik und Literarisches Schreiben (M.A.) in Mainz, Dijon und Hildesheim studiert. Sie schrieb für verschiedene Zeitungen, veröffentlicht in Literaturmagazinen und übersetzt Literatur aus dem Französischen. Sie fühlt sich wohl, wenn die Lichter im Saal ausgehen, sie oben im Projektor-Raum steht und die Staubpartikel im auf die Leinwand projizierten Lichtkegel tanzen.
Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg (KLW) wurde von den Geschwistern Marco und Florian Bötsch gegründet. Neben dem Aufbau eines breiten Netzwerks an Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum möchte sie insbesondere auch diejenigen ansprechen, die sich im klassischen Literaturbetrieb mit seinen Konventionen und (Sach-)Zwängen nicht wiederfinden. Der Fokus liegt auf Untergrundliteratur, junger Literatur und experimentelleren Formen. Die daraus entstehende Zeitung stellt eine Mischung zwischen langen und kurzen, leichten und schweren Texten, solchen von bereits bekannten Schreibenden sowie Neulingen dar.
Gedichte von Charlotte Hattendorf>
Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg (KLW) wird seit 2019 zwei bis dreimal im Jahr herausgegeben. Eine ihrer Beiträgerinnen ist die in Fürstenfeldbruck lebende Charlotte Hattendorf. Mit der folgenden Auswahl an Gedichten beteiligt sie sich an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Odenwald, barfuß
Wenn ich ankomme
Am Villenave d’Ornon-Platz
Bleibe ich stehen und staune aufs Neue über diesen Namen
Löse meine Sommerriemchen
Setze die Füße frei
Und gehe über die warmen Pflastersteine zu dir
Ich weiß, du wartest an der Tür auf mich
Irrfahrt
Ich verstehe mich dich das nicht
Habe deine Stimme nachts in meine Ohren geritzt
Deine Augen durch den Bildschirm in meine gestanzt
Und das www nach dem letzten LinkedIn-Bild durchforstet
Du mich was und wo passiert hier
Habe dich in Gedichten sterben lassen
Fünf fremde Männer gespürt
Nur damit Du deinen abgeschlagenen Kopf wieder aufsetzt
Und deinen Thron über meiner linken Herzkammer baust
Wie viele, warum und aus welcher Richtung
Von oben sieht man Bankgebäude Lilienstraßen Marktplätze
Wir beide nur Stecknadelköpfe eines riesigen Signalmosaiks
Wahllose Wandler, bedeutungslos
Doch ich und von allen Seiten Du dein Gesicht deine Worte
Plötzlich ihr
Da ist diese Brücke, über die alle nur schlappen
Da ist diese Kasse, an der alle nur nörgeln
Da ist diese Mitnehmkiste, in die alle nur Müll werfen
Da ist dieser Bettler, vor dem wir uns in unseren Kapuzen verstecken
Da ist dieses Gleis, hinter dem nur Werbung für die Bundeswehr hängt
Da ist dieser Schreibtisch, den wir uns nun alle teilen „dürfen“
Und dann seid da ihr auf dem Gleis
Ihr gebt dem Bettler
Ihr wandelt über die Brücke
Ihr kommt in mein Haus
Eure Brillengläser schimmern
Bleiben
Hier möchte ich mein Zelt aufschlagen
Auf diesem Hügel, der so wenig an die schottischen herankommt
Von dem aus Kohlekraft, Windräder und Hundebesitzer
Beileibe nicht verschwinden
Über den die Motorkisten rauschen
Als wäre Krieg und sie die Schutzmacht
Hier möchte ich im Unterholz leben
Wenn es stürmt von nichts als einer Buche geschützt
Tagsüber nichts tun als in den Gräsern lesen
Die Tagespolitik am Stand der Sonne erkennen
Gegen nichts als die Einsamkeit geimpft
Und wenn Hagelkörner so groß wie Tischtennisbälle
Das Wasser bis zum Himmel aufschlagen
Möchte ich nichts tun als hier zu sein
Und hinter mir mein Zelt
Und vor mit die Weite
Vom Stolperstein aus
Weißer Schlehendorn
Traubenhyazinthenähnliche Wicke
Holunder steht nur noch teilweise in Blüte
Blutbuche, so rot
Maifeuer
Nie ganz am Scheit selbst
Immer schwebend
Simulantenumarmung
Mit der Glut kein Zusammenhang
Das ist nicht deine Heimat
Schmarotzertaktik
Hier dort flackernd nicht greifbar
Farbe ändernd
Kohlenstoffwandler
Es ist so mit allem:
Es war etwas, es war Feuer, Lachen, dann
Kalte Asche
Hebt sich behäbig in die Luft
Die Schemen nun
Aschebeflockt
Ar Mor Lux
Ein Winterabend
Die Felsen rufen
Die Gischtflocken fliegen in der Luft
Auf dem Stein wächst gelbes Moos
Eine Katze ruft
Sieht uns an, die Welt, dich, und mich
Ein Winterabend
Die Felsen rufen
Und die hölzernen Fensterläden..
Und die Fischer..
Und das Meer auf das Pier…
Das Ende
Am Abend der Entscheidung
Liegen wir auf dem Badezimmervorleger.
Wenn die Zwölfe abgelaufen,
Jahre der Spaltung,
Sind wir nicht Schritte weiter.
Sind nach vorne
Und wieder nach hinten getrippelt.
Am Vorabend der Entscheidung
War Schreien und Plakate.
Je näher die Katastrophe rückte
Desto stiller wurde die Welt.
Am Abend der Entscheidung
War die Erwärmungsspirale entfesselt
Pole Wälder Gletscher schmelzen
Äquator wird zum Nichtlebensraum
Wir haben versucht uns die Adern aufzuschneiden
Doch das Wasser schwappt an die Wände
Es gab ein neues Erdbeben
Und die Klingel ruft uns an die berstende Tür:
Den einströmenden Wassermassen den Weg zu bereiten
Blick auf den Deister
Die Bücher von der Bib in der Tasche
Das Fahrrad an die Stange gekettet
Um den See, von dessen ‚Ton‘ im Namen keine Spur
Bis auf den knirschenden Kies unter den Sohlen
Weiter: Schrebergärtenpfade, Fahnenstangen mit Fetzenbeflaggung
„Hier geht es nicht weiter,
der Weg verläuft weiter oben am Wald entlang“
Die Frau mit dem wettergegerbten Gesicht streckt die Hand aus:
„Da, in der Ferne, das ist Springe“
Und der Blick auf den Deister heute verstellt, verwolkt.
Das Fahrrad muss warten,
Die Bücher rütteln in der Tasche.
Weg mit Ton und ohne Gebirgsaussicht.
Draußen
Knarren Rattern Stimmgewirr
Tickende Speichen und hallende Brücken
Verhallen
Der Weg schluckt die stampfenden Schritte
Und der Wind trägt unseren Schweiß davon
Der Kuckuck klingt so schön
Weil wir wissen: Es ist ein echter
Die Gräser sind nicht aus Plastik
Und der See gebührend dreckstarrend
Überall ist Weite
Hier herrschen die Gesetze von Licht, Wasser und Sauerstoff
Das Atmen des Bodens
Kann selbst der Motorenlärm von oben
Nicht beeinträchtigen
Charlotte Hattendorf (*1996 in Karlsruhe) hat Germanistik, Romanistik und Literarisches Schreiben (M.A.) in Mainz, Dijon und Hildesheim studiert. Sie schrieb für verschiedene Zeitungen, veröffentlicht in Literaturmagazinen und übersetzt Literatur aus dem Französischen. Sie fühlt sich wohl, wenn die Lichter im Saal ausgehen, sie oben im Projektor-Raum steht und die Staubpartikel im auf die Leinwand projizierten Lichtkegel tanzen.
Die Kollektive Literaturzeitschrift Würzburg (KLW) wurde von den Geschwistern Marco und Florian Bötsch gegründet. Neben dem Aufbau eines breiten Netzwerks an Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum möchte sie insbesondere auch diejenigen ansprechen, die sich im klassischen Literaturbetrieb mit seinen Konventionen und (Sach-)Zwängen nicht wiederfinden. Der Fokus liegt auf Untergrundliteratur, junger Literatur und experimentelleren Formen. Die daraus entstehende Zeitung stellt eine Mischung zwischen langen und kurzen, leichten und schweren Texten, solchen von bereits bekannten Schreibenden sowie Neulingen dar.