Necator Rex oder „Der Totschläger“. Von Marco Böhlandt

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Alle Bilder (c) Marco Böhlandt

„Gewalt ist Gegenwart oder nichts.“ – Die Allgegenwärtigkeit von Gewalt, Einsamkeit und einem uneinlösbaren Begehren zwischen Ahnen und Wissen sind die schmerzvollen Fixpunkte des Ich-Erzählers, der in Necator Rex oder „Der Totschläger“ in den halbblinden Winkeln einer Kleinstadt und ihren anarchisch-wilden Flucht- und Revierräumen aufwächst.

Mit diesem Kapitel, einem Auszug aus seinem größeren Romanprojekt Cloaca Mundi, für das der Autor 2013 das Münchner Literaturstipendium erhielt, beteiligt sich Marco Böhlandt an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Die folgenden Tage waren ereignislos geblieben, mit zwei Ausnahmen. Unser Hund war gestorben und ich hatte ein Mädchen geküsst, das mich dafür ins Gesicht geschlagen hatte. Ich hatte die Situation falsch gedeutet; das kam zu häufig vor, in dieser Zeit.

Dann aber war etwas geschehen in unserem Winkel der Welt. Etwas Bemerkenswertes.

Braszek war verschwunden. Braszek, der Totschläger. Braszek, der Reisekaiser, der bereifte Tyrann, der Motormörder. Braszek, der Rasende, der ohne Pause sein rotes Suzuki-Mofa durch unseren Winkel der Welt gelenkt hatte, um seine Ländereien zu inspizieren und sicherzustellen, dass man ihn noch fürchtete.

Und wie es sein soll, bei Gestalten aus düsteren Sagen, lagen die Sichtungen des Totschlägers beängstigend nah beieinander. Braszek tauchte an vielen Orten zu gleichen Zeiten auf; ein Geisterkönig, aber ausgestattet mit einer ganz diesseitigen Gewalt.

In unserem Winkel der Welt war es so: Der ganze Landstrich war für uns, soweit man nur reisen konnte, aufgeteilt in Herzogtümer und Grafschaften.

Im Osten herrschte der „Dachdecker“, ein Skinhead, der die Jugend rund um das Deutsche Eck unter eiserner Faust hielt. Solange, bis er, ein paar Jahre nach dem Sommer, von dem ich erzähle, eine Strafexpedition gegen eine Gruppe Obdachloser unternahm. Im Schutz der Nacht trat er einen Penner tot, was seiner Herrschaft ein abruptes Ende bereitete.

Der Süden, auf den Höhenzügen jenseits unseres Flusses, wurde durch die Brucher-Brüder, Autoschrauber und Gelegenheits-Hehler, verwaltet. Sie waren zu geteilter Fettleibigkeit verdammt, aber wendig und stark, wenn es um die Bestrafung ihrer Vasallen ging. Die Bruchers sperrten ihre Opfer gerne in den Kofferraum eines Opel Rekord, rasten dann stundenlang über holprige Waldwege, bis sie ihre verbeulte Fracht nackt an der nahen Bundesautobahn  entluden. Wer jemals an der „Ralley“ teilnehmen musste, der spurte dauerhaft.

Den Westen unterjochte ein zwielichtiger Metzgergeselle. Von ihm weiß ich nicht viel zu berichten, außer Gerüchte: Der Metzger soll viel Gefallen an kleinen Jungs gehabt haben, hieß es. Allerdings nicht im intimen, sondern im kulinarischen Sinne.

Sehr viel später, mit zu viel Zeit zur Hand, sollte ich versuchen, diese Geschichte im Archiv der Rhein-Zeitung zu überprüfen, wo ich eigentlich wegen anderer, viel weniger interessanter Fragen einige Tage verbringen musste. Es ließ sich am Ende alles nicht nachweisen, auch nicht, dass der Schlächter das Opfer eines undurchsichtigen Unfalls mit dem Bolzenschussapparat geworden sein sollte. Ich ließ die Sache ruhen.      

Unser Herrscher aber hieß Braszek. Und dass die Nachricht von seinem plötzlichen Verschwinden so schnell sein ganzes Reich durchlaufen hatte, zeigt vielleicht, wie gegenwärtig er in unser aller Leben gewesen war.

Denn es ist so: Gewalt ist Gegenwart oder nichts. Das galt. Auch in unserem Winkel der Welt. Die Abwesenheit des „Totschlägers“ bedeutete also, in genau dieser Weise betrachtet, nichts. Aber dann auch, mit dem Anwachsen der Zeitspanne, in der er fort war, sehr viel.

In der seltsamen Geometrie, die unserem Winkel der Welt zu seiner unschlüssigen Form verhalf, war für die, die es betraf, mit dem Totschläger eine ganze Dimension über Nacht verschwunden. Oder anders gesagt: Mit dem Verschwinden des Totschlägers verflachte die Welt für die Untertanen seiner Schreckensherrschaft ins Geradlinige.

Und das brachte ihre tägliche Umdrehung ins Schlingern. Mit seinem unerklärlichen Fortgang hatte sich im Getriebe unserer Weltenmaschine eine faule Schraube nach langem Schleifen endlich wundgedreht und war aus ihrer Bestimmung getrudelt. So verlor die Unwucht, die um dieses grobe Verbindungsstück gekreiselt war, ihren Dreh- und Angelpunkt.

Nun könnte man annehmen, dass niemand, der die bösen Zusammenhänge kannte, durch die der Totschläger zu seinem Ruhm und seinem Namen gelangt war, die Abwesenheit dieses Dreckschweins bedauerte. Und genau das tat auch niemand. Nicht einmal die taten es, die sich dem Verschwundenen durch Geburt oder aus freier Wahl angehörig fühlten.

Aber er fehlte.

Die Unberechenbarkeit des Totschlägers war eine Verbindlichkeit gewesen, eine Konstante in der Gleichung von Exzess und Ordnung. Denn der Totschläger, der ansonsten ohne Zweifel dumm gewesen war, hatte eines gut gelernt: Wahllosigkeit ist eine mächtige Waffe. Deshalb hatte Braszek sich zu einer Naturgewalt gemacht, hatte alle Verbindlichkeiten und Garantien zerschlagen, wurde zur reinen Unberechenbarkeit.

Das Verhalten von Braszek, dem Totschläger, konnte man nur mit vagen Wahrscheinlichkeiten vorhersagen. Er war die Blaupause der Tyrannei. Doch auch wenn sein Zorn fast unterschieds- und pausenlos wütete, verfügte er doch über treue Höflinge. Einige der höher gestellten waren uns sogar dem Namen nach bekannt.

Auch die Insignien des Totschlägers waren uns vertraut: ein Baseballschläger, ein Springmesser, das nach Militär aussah, und seine Fäuste. Sie waren es, die wir am meisten fürchteten. Denn Braszeks Fäuste hingen an zwei drahtigen, von dicken Adern durchzogenen Armen; darauf viele kleine, verschwommene Tätowierungen.

Der Totschläger konnte diese Arme wie Windmühlenflügel nutzen, um Breschen in die Reihen seiner Feinde zu schlagen. Für sich besehen – und die meisten von uns hatten es oft gesehen – machte es einen irrsinnig lächerlichen Eindruck, wenn sich Braszeks Schlaginstrumente langsam in kreisende Bewegung versetzten. Im Sturm des Hasses aber konnte sich ihre Wirkung in eine solch verheerende Höhe schrauben, dass niemand mehr lachen konnte.

Braszek schlug seine Gegner nicht zu Boden – er hackte sie nieder, bis sie fielen wie alte Bäume. Ich glaube dabei nicht einmal, dass der Totschläger besonders kräftig war. Aber beharrlich war er. Und nicht einmal im Lauf vieler Jahre habe ich je angezweifelt, dass der dunkle Beiname des Braszek auf tatsächlichen Begebenheiten beruhte.  

Im Reich des Totschlägers hatte alles seinen Stand, aber nur selten einen Namen gehabt. So war ich selbst für Braszek, wie die meisten Menschen, keiner Bezeichnung würdig. Ich war ein Niemand von Nirgendwo, ein Etwas im Augenwinkel. Für den Braszek war ich einer der zarten, weichen Prinzen, die man von Höfen ferner Königshäuser in eine raue Fremde geschickt hatte, in der Hoffnung, dass sie doch noch zu Männern werden mochten. Durch einen wie mich sah unser böser Herrscher hindurch. Und dafür war ich dankbar.

Denn unser Winkel der Welt war einfach zu weitläufig, als dass man sich aus dem Weg hätte gehen können. Hier war zu viel Platz, um sich darin verstecken zu können. Ich weiß nicht, ob man das verstehen kann, aber man sollte es sich vorstellen wie die großen Eis- und Sandwüsten oder die grüne Unendlichkeit eines Urwalds: überall dort, wo der Raum weit ist, bilden sich die größten Schnittmengen, dort drängt sich das Leben. Deshalb ist man nirgends weniger allein als in den einsamen Gegenden.

So vermischten sich in unserem Winkel der Welt Freund und Feind regelmäßig in Schutzhütten oder in Bierzelten oder in unbewachten Elternhäusern oder an den Straßenecken vor Geschäften. Eine merkwürdige Nähe war das, denn natürlich kam es zu Übergriffen. Allerdings sorgte das selten für größere Aufregung – denn wenn das Krokodil seine Beute geschlagen hatte, soff die Herde umso ruhiger weiter. So will es die Natur, sagte das Fernsehen.

Dass ich kaum ins Beuteschema des Braszek und seiner Helfer passte, bedeutet natürlich nicht, dass ich nicht in Gefahr war. Es gab mir aber eine gewisse, trügerische Zuversicht. Und so kam es, dass ich einmal, ein einziges und letztes Mal, wagte, Hofnarr im Reich des Totschlägers zu sein.

Bevor wir begannen, von den großen Städten zu träumen, von anderen Ländern und anderen Menschen, waren wir oft an den Fluss gekommen. Was uns hinunterzog ins Tal, kann ich nicht mehr sagen. Mag sein, dass es nur die Schwerkraft war und ihre geschenkten Freuden.

Es gab gleich mehrere Wege aus unserer kleinen Stadt auf der Höhe in die Tiefe, aber alle waren gleich steil und kurvig. In jedem Jahr, wenn die warmen Tage endlich kamen, stellten wir die Sättel unserer Fahrräder ein Stückchen höher und ließen uns abwärtsrollen. Wichtig war dabei, nie zu bremsen, bis zum Erreichen der Bundesstraße, die sich unten dicht am Wasser entlang schlängelte, wo das zerrende Rauschen des Fahrtwindes endete, und das gemächliche Brummen des endlosen Verkehrs begann. Mit kaltem Schweiß im Rücken und dem schweren Heimweg reihten wir uns ein.

Hier unten lagen die Dörfer viel näher beisammen, als in der Höhe. Unser Ziel war aber immer das Gleiche, die lang gezogene Biegung des Flusses, in dem der Ort liegt, den man Klein St. Tropez nannte. Und wirklich hatte der Flecken einige Besonderheiten zu bieten, die ihn aus der schönen Lethargie der Umgebung heraushob, und die man mondän hätte nennen können, wäre uns dieses Wort schon ein Begriff gewesen. Für unseren Winkel der Welt gab es hier unerhört viel Eigenheiten, und man sollte wenigstens sechs davon nennen.

Zum Ersten gab es eine Kirche, die für die knapp dreihundert Seelen der Gemeinde viel zu groß war. Irgendwann schien man es für richtig gehalten zu haben, die schöne, kleine Dorfkirche mit ihrem hölzernen Harmonium für nicht mehr funktionsfähig zu erklären; ganz so, als wäre irgendwo eine Telefon-Leitung kaputtgegangen und die Verbindung seitdem unrettbar gestört.

Vielleicht lag es daran, dass es jetzt Faxmaschinen gab und Funktelefone; jedenfalls hatte man beschlossen, einen jungen Architekten aus der Stadt mit einem Neubau zu beauftragen. Den bekam man, in Form einer titanischen Bischofsmütze aus Beton. Gekrönt wurde die von zwei Lautsprechern, aus denen brav zu jeder Stunde und wann immer es Zeit war, fromm zu sein, die Glocken von St. Peter schepperten. Den Innenraum zu gestalten, hatte man vergessen. Oder aber es steckte eine tiefere Botschaft in der eingegossenen Leere, die man im Inneren finden konnte.

Zum Zweiten hatte der Ort einen Schwulen. Der war zudem Stylist; sowas hatte man hier noch nie gehört und das machte die ganze Angelegenheit noch verrückter. Vielleicht blieb Gerd, der Schwule, deshalb unbehelligt, abgesehen von ein paar fortschrittlichen Damen der besseren Dorfgesellschaft, die hier vor Festtagen und Hochzeiten Hand anlegen ließen.

Aber nur bis zu dem Tag, an dem Gerd mit exakt fünfzig Jahren eines unnatürlichen, aber nicht gewaltsamen Todes starb. Das machte ihn noch wunderlicher. Vor allem, weil er noch viel jünger ausgesehen hatte. Jünger waren auch die wechselnden Männer, mit denen er an der Uferpromenade, einem kurzen Streifen bröckeligen Asphalts etwas unterhalb der Straße, hin und her flanierte. Von hier aus führten auch schwimmende Anlegestellen weit hinaus in den Fluss; weit genug, dass man sie als Sprungtürme nutzen konnten, was wir auch taten.

Manchmal sah uns der schwule Gerd dabei zu und machte dabei besorgte, keine anzüglichen Bemerkungen. Ein besonderer Mann sei das gewesen und ein guter, sagte später einmal mein Vater, der ihm nicht lange zuvor hatte mitteilen müssen, dass er an einer neuen Krankheit litt, und das hatte er sehr ungern getan. Man wusste noch nicht allzu viel darüber; für die Meisten passte es deshalb nicht schlecht, dass der ausgefallene Mensch sich etwas so Besonderes hatte einfallen lassen, um daran zu sterben.      

An die dritte Stelle der Besonderheiten des kleinen Ortes gehörte sein Hafen. Ein richtiger Hafen, mit einer gemauerten Mole, auf der wild zusammengestellte Landesfahnen ausbleichten. Ich erinnere mich an Belgien, USA, Italien, Südafrika, Brasilien, Großbritannien, Schweiz und die Niederlande, weil wir immer, wenn wir hier waren, im Vorbeifahren laut die verschiedenen Nationalitäten ausriefen. Rund um den Hafen gab es viele Schilder, die den Schiffverkehr regelten und sich bemühten, amtlich und richtig auszusehen.

Aber es gab noch mehr Weltläufigkeit: Die Anlegestellen nämlich wurden von den Bewohnern unter dem eher sehnsuchtsvollen, als beschreibenden Namen „Yachthafen“ zusammengefasst. Über weite Teile war der Hafen nämlich ein Schiffsfriedhof, ein Zwilling des verwaisten Camping-Platzes auf der flussaufwärts gelegenen Insel, die noch zur Gemeinde gehörte. Dort verrotteten seit Jahren viele Dutzend eingemauerter und herrenloser Wohnwagen. Nicht unwahrscheinlich, dass ihre Besitzer längst verstorben waren, in den kälteren Jahreszeiten. Jetzt waren Kormorane die einzigen Gäste, die Jahr für Jahr zurückkehrten und die Weiden mit ihren rabenschwarzen Federn in Trauerkleider hüllten.

Es gab auch einige ausrangierte Ausflugsschiffe im Yachthafen, die waren aus der Mode gekommen, schon damals. Goldstück hieß eines, Wappen von Mainz ein anderes. Wir kletterten manchmal auf ihnen herum, obwohl das keine Freude machte. Manchmal legten unerschrockene Segler auf Yawls im Yachthafen an, viel zu groß für den Fluss, um mit den Einheimischen Waren zu tauschen oder sie zu fotografieren.

Meistens aber bildeten die Unterbauten der fest vertäuten Schiffe nur ein künstliches Riff, für Neunaugen und Flussforellen.  

Der sechste und eigentliche Grund aber, aus dem wir genau hierher an den Fluss kamen, lag jenseits des Hafens, aber noch knapp vor dem Ortsausgangsschild. Dieses verwies auf das nächste Kaff, ansonsten tat es nichts. Hier, vor dem Ende des Ortes aber, lag Ernie’s Imbiss. Man muss wissen, dass „Ernie“ in unserem Winkel der Welt ein Frauenname ist. Ferner sollte man wissen, dass Ernie tatsächlich existierte und den Imbisswagen am Ende des Dorfes tatsächlich führte und dass Ernie, darin waren wir uns einig, tatsächlich eine Frau war.

Das war nicht ganz leicht festzustellen, denn Ernie war eine Symbiose mit dem schmutzigen Wohnwagen eingegangen, aus dem heraus sie ihre öligen Pommes Frites und trockenen Frikadellen verkaufte. Deshalb war es so: Wenn Ernie ganz stillstand, unbewegt, dann war sie beinahe unsichtbar, mit ihrer fleckig weißen Schürze vor den fleckig weißen Innenwänden ihres Schnellrestaurants. Sie hatte genauso viel Fett aufgesogen wie er, war durch die ständige, unkontrollierte Hitze an manchen Stellen genauso aufgeplatzt wie er, war genauso unbeweglich geworden wie er und rauchte genauso unentwegt wie die rostigen Fritteusen, die das brodelnde Herz des Wohnimbisswagens waren.  

Man kann sich denken, dass wir nicht wegen Ernie hierherkamen, ans Ende des Hafens. Auch nicht wegen ihres Angebots an Speisen und Getränken. Wir hätten wohl nicht einmal verstanden, wer überhaupt an diesen Ort kommen wollte und warum – wenn es den Fettengel nicht gegeben hätte. Der Name, das muss ich schnell sagen, führt wahrscheinlich in die Irre. Denn die, die wir „Fettengel“ nannten, ist, ich möchte Eide darauf schwören, bis zu diesem Augenblick noch Gast in vielen unruhigen Träumen entlang des Flusses.

Die Frau, die sich den Arbeitsraum mit der phlegmatischen Ernie teilte, war, selbst aus erwachsenen Augen, nicht mehr ganz jung; am Ende ihrer Dreißiger, vielleicht ein Stück darüber hinaus. Aber sie war – und blieb das – die Blaupause des Begehrens.

Wie ein Stern, der ans Ende seines Feuers kommt, schien der Fettengel für einige Jahre noch einmal alle Kraft seines Daseins in ein helles Leuchten zu legen. Ihre Haut, ihre Brüste, Ihre Beine, ihr Gesicht, all das war trotzig straff. Entsprechend zeigte sie all das, so schien es, gerne und großzügig. Auf schöne Weise gerötet war sie, durch all die üppige Anspannung. Es war, als würde ihre Jugend durch die engen Poren ihres Äußeren entweichen wollen, sie war eine abgründige Schönheit, zum Zerreißen gespannt.

Was aber auch immer irgendwann geschehen mochte, mit Haut, Brüsten, Beinen und Zügen, eines würde nicht vergehen können: und das waren die zwei eisblauen Funkelsteine, durch die sie in das allgegenwertige Gerümpel blickte, das sie umgab, und manchmal auch auf uns. Ihre heillos blauen Augen schickten jedem eine entsetzliche Botschaft, die sagte, dass man sie haben dürfe, nur nicht jetzt, nur nicht heute.

Ich will gestehen. Ich hoffe, ja, ich bete sogar, dass diese beiden außerirdischen Augen immer noch auf etwas blicken, aus einem alten Gesicht. Ich hoffe, dass sie auf etwas Schönes blicken, und ich hoffe, dass hinter dem Vorhang ihrer langen Erinnerung noch eine winzige Kiste liegt, mit dem wenigen darin, was noch von mir geblieben ist.

Für den Fettengel waren wir, wie alles Männliche, wohl nur Eis in unbarmherziger Hitze; auch wenn Ernies Imbiss immer im Schatten lag. Aber es gab Sonnenschirme; und wann immer wir auf unseren Fahrrädern den schäbigen Wohnwagen besuchten, entspann sich ein Ritual, dessen schwüle Verheißung bis heute Vergleichbares sucht. In keinem Winkel der Welt, den ich später und viel später und überhaupt jemals nach Vergleichbarem durchsucht habe, habe ich etwas auch nur ähnlich Betörendes finden können. Vielleicht liegt das auch daran, dass sich das Ritual vor Ernies Imbiss in so zeitloser Langsamkeit vollzog.

Der Engel verließ für nur wenige Schritte und wenige Handgriffe das brodelnde Inferno der Höllenküche. Aber jeder infinitesimale Bruchteil ihrer Bewegungen war eine Messe. Nicht so ein lauwarmes Heischen der Protestanten mit ihren Wandergitarren und Ohrlöchern und ihrem gebetsmühlenartigen Verständnis, sondern das wahre Programm. Eine erzkatholische Abrechnung, in der sich Weihrauch und Feuersbrunst vermischen, in der ewige Glocken dröhnen, und jedes Wort donnert und hallt von Ewigkeit, Verdammnis und Erlösung. Das Ritual war ein Mysterium aus Schweiß und Blut und Sperma, ein altes Testament, ohne Fortsetzung.               

Ich weiß schon, sie tat eigentlich nichts weiter. Nichts weiter, als Sonnenschirme aufzuspannen. Aber: gerade weil das so sinnlos war, im immerwährenden Schatten um Ernies Imbiss herum, bekamen Details Bedeutung.

Und das wichtigste Detail war der Höhepunkt unseres Rituals, der immer dann gekommen war, wenn sich unser Engel reckte, um den Stift, der den aufgespannten Stoff straff hielt, aus seinem Loch zu ziehen, um den Sonnenschirm in sich zusammensacken zu lassen. In genau diesem Moment war es, dass der Stoff ihres knappen Rocks diesen Bruchteil einer Strecke nach oben rutschte, diesen Bruchteil, der den Unterschied bedeutet, zwischen Wünschen und Wollen. Wir warteten gierig, jedes Mal, nur auf diesen Bruchteil, um uns zu vergewissern, dass der Fettengel in der Sepsis ihrer Tage keine Unterwäsche trug.

Dieser Moment, das ist wichtig, war nie vulgär. Es war vielmehr so, als würde sie ihren Körper auf Millimeter genau kennen, als würde sie ganz genau wissen, wo die Grenze zwischen Ahnen und Wissen liegen könnte. Ihre Nacktheit war immer nur gedacht, nie ausgesprochen. Wir blickten, wenn wir wagten, hinzusehen, wenn wir wagten, am Ritual teilzunehmen, immer nur auf ein dunkles, verborgenes, aber deutliches Nichts.

So war Ernies Imbiss der Himmel, aus dem wir stürzten; jedes Mal, wenn wir uns wenige Meter entfernt, am steinigen Moselufer, wenn der Abend gekommen war, selig einen runterholten, auf unseren Engel. Nie war die nächtliche Luft des Sommers wärmer, voller, klebriger als nach dieser heiligen Pflicht.

Das also war der Ort, an dem ich beinahe unter die rasenden Windmühlenräder des Totschlägers geraten wäre.

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Dr. Marco Böhlandt, Jahrgang 1975, lebt und arbeitet seit 2003 in München. Nach Studienaufenthalten in Freiburg, Köln, London und Berlin nahm der promovierte Wissenschaftshistoriker und Informatiker eine Dozentur am Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte auf, engagierte sich aber schon in dieser Zeit als DJ, Musiker und Veranstalter auch in der freien Kulturszene der bayrischen Landeshauptstadt. 

Unter anderem war Böhlandt Mitbetreiber der künstlerischen Zwischennutzung „Die Repüblik“ in Schwabing, Programmverantwortlicher des Kulturstrands an der Isar und entwickelte schließlich für eine große Münchner Eventagentur das alternative Literaturformat „Hörgang“. 

Als Schriftsteller und Musiker war Böhlandt für einige Jahre auch Teil der Künstlergruppe Konvolut, die szenisch-musikalische Lesungen an Off-Locations wie dem legendären Club „Bahnwärter Thiel“ realisierte. 2013 wurde dann Böhlandt‘s eigenes Romanprojekt Cloaca Mundi mit dem Literaturstipendium der LH München gefördert. Als Gitarrist und Trompeter war und ist er außerdem Teil der Neofolk-Formation „Buco“, die sizilianische Volkssagen und Märchen vertont. 

Heute betreibt Böhlandt in München die kleine Kommunikationsagentur Text&Tat.