Schlechte Sprache. Ein Nachruf und ein Notruf
Anknüpfend an Ingeborg Bachmanns Utopia der Sprache appelliert die Autorin Dagmar Leupold in einem zunehmend dystopischen, gesellschaftspolitischen Klima der Visionsarmut, der Behauptungen und Agitationen an die aufrüttelnden Impulse, an die Visionskraft der Kunst.
Mit ihrem Essay beteiligt sich Dagmar Leupold an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Schlechte Sprache. Ein Nachruf und ein Notruf.
Vor wenigen Wochen jährte sich der Todestag von Ingeborg Bachmann zum fünfzigsten Mal. Ein willkommener Anlass – dafür sind Jahrestage gut –, frühere wichtige Lektüren wiederaufzunehmen und, gleichzeitig, die Texte nach ihrer Brisanz und Aktualität für unsere Gegenwart zu befragen. In einer der Frankfurter Poetikvorlesungen, Mitte der 50er-Jahre gehalten, spricht Bachmann unter dem Titel „Literatur als Utopie“ von der Literatur als tausendfache[m] und mehrtausendjährige[m] Verstoß gegen die schlechte Sprache. Das Leben, fährt sie fort, hat freilich nur diese eine schlechte, und es ist Aufgabe der Literatur ihr ein Utopia der Sprache entgegenzusetzen. Dieses Utopia ist nie gegeben, vielmehr muss sich, wer schreibt, stets im verzweiflungsvollen Unterwegssein auf die Suche danach machen. Gilt dieser Imperativ noch in den zwanziger Jahren des neuen Jahrtausends? Wenn ja, ist er bedroht? Wodurch? Oder ist er pathetisch vorgestrig? Und welches ist die heutige schlechte Sprache? Um es herauszufinden, muss ich ein wenig ausholen:
Kurz nach ihrem Amtsantritt hält die Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Gespräch mit dem Magazin „Kunstforum“ fest: Unsere Demokratie lebt von den aufrüttelnden Impulsen der Kunst. Im weiteren Verlauf des Gesprächs ist auch von Wurzeln für die Zukunft die Rede.
Die Entwicklungen der jüngeren Zeit hingegen lassen Zweifel aufkommen an der Substanz dieser durchaus kernigen Aus- und Zusagen: Wie im Städtebau, ist auch im Bereich von Kunst und Kultur Bestandspflege nicht sonderlich gefragt, darüber hinaus ist die notwendige Voraussetzung für eine Herausbildung von Zukunftswurzeln auch die mutige Investition in eine Gegenwart, in der Kunst und Kultur mehr sind als ein Sedativ für erschöpfte Gesellschaften.
Wir leben in Zeiten multidimensionaler Krisen und Katastrophen, buchstäblich täglich werden wir zu Teilnehmern des Entsetzens, wie Wilhelm Genazino es in seiner Dankesrede zum Kleist-Preis vor einem Jahrzehnt formulierte. Im selben Maße, wie die Bedrohungen zunehmen, verlieren die offenen demokratischen Gesellschaften an Wehrhaftigkeit und Vorbildcharakter. Ein Erosionsprozess, der sich auch einer Aushöhlung der oft beschworenen Werte – darunter Gemeinwohl und Solidarität – verdankt, zugunsten einer neoliberal geprägten Wettbewerbsgesellschaft, in der der Stärkere, der Skrupellosere gewinnt.
Angesichts solcher Verwerfungen müssten Kunst und Kultur eigentlich seitens der Politik als unentbehrliche und in ihrem Bestand nicht zu gefährdende Ressource zur Erhaltung, Pflege und kritischer Spiegelung einer offenen Gesellschaft verteidigt und garantiert werden. Dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft droht jedoch auch heute – noch einmal in Bachmanns Worten – die bewußte Auflösung der stets gefährdeten und darum stets neu zu schaffenden Kommunikation [...]. Ist diese Leitungsfähigkeit nicht gegeben oder wird sie torpediert, ist das, führt Bachmann weiter aus, folgenreich: wenn sich die Gesellschaft der Dichtung entzieht, wo ein ernster und unbequemer, verändernwollender Geist in ihr ist, käme das einer Bankrotterklärung gleich.
Den schönen Worten der Kulturstaatsministerin von den aufrüttelnden Impulsen der Künste nach zu schließen, müssen wir den Bankrott nicht fürchten. Aber wie so häufig bei rhetorischer Aufrüstung, sprechen die Taten eine andere Sprache: Als ein Beispiel seien hier die massiven Kürzungen im Etat des Goethe-Instituts genannt, das mehrere seiner Standorte in Frankreich und in Italien schließt. Aufrüttelnde Impulse sind nicht als Beifang zu haben, sie brauchen einen Resonanzraum statt stillgelegter Frequenzen, und sie brauchen eine Wertschätzung, die die zentrale Bedeutung der Kultur für die Selbstvergewisserung einer Gesellschaft anerkennt.
Doch nicht allein Beschönigungen und hohle Metaphern sind besorgniserregend, auch die Willkür im Umgang mit Fakten ist es. Dreiste Lügen dienen dem Machterhalt, egoistische Vorteilssicherung der persönlichen Bereicherung. Diese Entwicklung löst bestürzender Weise bei großen Teilen der Bürgerinnen und Bürger nicht Entsetzen aus, sondern Bewunderung. Unverfrorenheit wird zur politischen Praxis und erteilt die Lizenz zum Nach- und Mitmachen. Spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten im Jahr 2016, leben wir in einem Zeitalter der Behauptungen. Fake News und alternative Fakten gehören als Coverversionen partikularer Interessen längst zur Tagesordnung. Im gesellschaftspolitischen Kontext sind Behauptungen, ähnlich wie eine Währung, auf Anerkennung ihrer Geltung angewiesen. Diese wird durch kraftvolles Wiederholen eingefordert und eingebläut und entfaltet durch Omnipräsenz eine sowohl sedierende und hypnotische als auch agitatorische Wirkung. Ähnlich dem Effektkanal des Dolby Surround Systems, arbeitet die in Endlosschleife wiederholte Behauptung mit ästhetischer und emotionaler Überwältigung.
Auch ein etwas anderer Typus von Behauptung, der sich in letzter Zeit durchsetzt, kalkuliert mit Überwältigung: Die Behauptung ist nicht falsch im Sinne von kontrafaktisch, aber sie ist leer, sie ist apodiktisch. Und sie ist schlechte Sprache. Fortschrittskoalition, Doppelwumms, Zeitenwende, Deutschlandpakt, Kulturoffensive, Brandmauer, Deutschlandtempo. Hammerschläge – nicht am Schlusspunkt von Überlegungen, Argumentationen oder Analysen, sondern ihr Ersatz, ihre Verhinderung. Im Grimm’schen Wörterbuch der Deutschen Sprache kann man nachlesen, dass behaupten in ländlichen Regionen die Bedeutung hatte, ein mutiges Pferd zu zähmen, indem man ihm das Zaumzeug über das Haupt schlang und es so bezwang. Richtung und Verhalten waren nun vorgegeben.
Eine weitere wortgeschichtliche Bedeutungsnuance ist militärisch: ein Gelände behaupten – im neudeutschen Claim, der den Herrschaftsanspruch als berechtigt ausweisen soll, hat sie einen würdigen Nachfahren. Auffällig ist, dass der Typus der apodiktischen Behauptung im grammatikalischen Modus des Kompositums daherkommt: Fortschrittskoalition etc. Das Kompositum, also ein aus zwei Substantiven zusammengesetztes Wort, bevorzugt das superlativische Register: Wucht anstelle von Überzeugung, Schlagkraft anstelle von Argumentation, Suggestion anstelle von Analyse.
Mark Twains Klage, es sei angenehmer und bekömmlicher sie [die Wahrheit, DL] mit dem Löffel statt mit der Schaufel zu sich zu nehmen, ist mehr als nur eine Pointe. Es geht weniger um präzise, als um griffige Begrifflichkeit. Die einmal in Umlauf gebrachte Behauptung – Anbruch der Zeitenwende, Errichten der Brandmauer – wird in der Folge inflationär wiederholt. Schließlich ersetzt das Zitat die Tat, blockiert die eigentlich in einer Demokratie notwendigen Aushandlungsprozesse. Die apodiktische Behauptung tritt in den politischen Warenhandel ein und zirkuliert als Produkt.
Da die Inhalte sich nicht sonderlich unterscheiden, greift man zur Überbietung und rüstet rhetorisch auf, mit verheerenden Folgen für ein gesellschaftliches Miteinander. Eine weitere schlechte Sprache ist die Folge, und zwar die einer Gewalt bejahenden, extrem ideologisierten und verheerenden Enthemmung. Diese schlechte Sprache lebt von Menschenverachtung und Größenwahn, diese schlechte Sprache ist von der Fäulnis befallen, die Ingeborg Bachmann kannte. Mit Verboten und Ruckreden wird versucht, ihr Einhalt zu gebieten. Der Vollmundigkeit an Rednerpulten entspricht ein Kleinmut, ein Kleinbeigeben im Handeln. Eine Politik der restriktiven Maßnahmen und der großen Worte verschleiert die Kapitulation vor den Demagogen.
Und Worte und Maßnahmen ersetzen keine Vision – zu kurz kommen ideelle Konzepte, gesellschaftspolitische Entwürfe des Möglichen und für eine starke Demokratie Erstrebenswertem, vom Stakkato einer Legislaturperiode befreit. An einem solchen Prozess können Bürgerinnen und Bürger partizipieren, auch durch Widerspruch. Wird Politik dagegen zum Produkt, verkommen die Wähler und Wählerinnen zu bloßen Konsumenten. Bei Missfallen droht Produkten der Konsumverzicht oder der Umstieg auf ein anderes Produkt, um dem vorzubeugen, greift die Politik zu Mogelpackungen und Etikettenschwindel.
In demselben Klima, in dem die Vision einer solidarischen Gesellschaft zugunsten einer Gesellschaft der Singularitäten (ein Begriff des Soziologen Andreas Reckwitz) preisgegeben wird, steht auch das Kerngeschäft der Kunst, die Imagination, zur Disposition. Dem Desinteresse an einer Vision im politisch-gesellschaftlichen Bereich, entspricht die Verwerfung der Imagination, der Fiktion in der Kunst. Der derzeit herrschende Authentizitätsfuror entspringt derselben konsumorientierten Grundhaltung, die der Politik entgegengebracht wird: drin soll sein, was draufsteht. Der Leser, die Leserin ist Kunde, die Kunst, die Kunstwerke werden zur Dienstleistung und zum verfügbaren Produkt.
Der verändernwollende Geist in der Kunst, von dem Bachmann spricht, wird zum Gespenst, zum Spuk. Affirmation ist das Gebot der Stunde, nicht Dissidenz. Die Ablehnung der Imagination ist gleichbedeutend mit der Verwerfung ihres Kerngeschäfts: nämlich mit Hilfe der Vorstellungskraft und der Fähigkeit zur Anverwandlung Möglichkeitsräume zu eröffnen und sichtbar zu machen. Zum Beispiel so:
Böhmen liegt am Meer lautet der Titel eines Gedichts von Ingeborg Bachmann, Mitte der 60er-Jahre entstanden. Eine kühne Behauptung, ohne Zweifel, hier wird geschwindelt, Böhmen liegt nicht am Meer. Und doch fliegt der Schwindel hier ganz anders auf als die Luftnummern der politischen Rhetorik, er gewinnt Lufthoheit, schafft Aufklärung, lässt die Zweifel an der Wahrhaftigkeit stranden, bringt die Voreinstellungen zum Explodieren. Ja, Böhmen liegt am Meer, wenn man von der Kartierung der Welt einmal absieht und das Utopische zulässt. Die poetische „Behauptung“ hat welterschließende Kraft, sie überwältigt nicht, sondern eröffnet, öffnet ein Fenster dort, wo vorher nur Mauer war. Sie suggeriert nicht, sie lädt ein:
Grenzt hier ein Wort an mich, / so laß ich’s grenzen. / Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. / Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich aufs Land. Einer solchen Einladung folgen alle Leserinnen und Leser, die kindlichen wie die erwachsenen, einfach nur, indem sie lesen. Dabei geschieht die wunderbare Einübung in Toleranz spielerisch und nebenbei.
Wir, die Menschen, sind vorstellungsbegabte Wesen, wir können im empirisch nicht Zutreffenden den Möglichkeitsraum erkennen, den Konjunktiv, wir können symbolisch denken. Glaub ich noch ans Meer, dann glaube ich an das Offene, an das Verbindende, an das Unverfügbare – dann sehe ich Land, dann darf ich hoffen.
Lassen wir unsere Fähigkeit zur schöpferischen Anverwandlung dagegen verkümmern, geben wir etwas sehr Wichtiges ohne Not preis: Die Korrektur unserer eingeübten Wahrnehmungskonventionen, unserer gehegten Vorurteile, unserer algorithmisch unterstützten Bequemlichkeit. Das poetisch Imaginierte, der Verstoß gegen die schlechte Sprache sprengt das Faktische auf – aufrüttelnde Impulse! – und erlöst uns aus dem Joch der Frames. Böhmen liegt am Meer, gewiss nicht am Mainstream und auch nicht an einem Gemeinplatz. Es ist vielmehr ein Ort für alle, die auf Verstößen bestehen: als Denkanstoß.
Schlechte Sprache. Ein Nachruf und ein Notruf >
Anknüpfend an Ingeborg Bachmanns Utopia der Sprache appelliert die Autorin Dagmar Leupold in einem zunehmend dystopischen, gesellschaftspolitischen Klima der Visionsarmut, der Behauptungen und Agitationen an die aufrüttelnden Impulse, an die Visionskraft der Kunst.
Mit ihrem Essay beteiligt sich Dagmar Leupold an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
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Schlechte Sprache. Ein Nachruf und ein Notruf.
Vor wenigen Wochen jährte sich der Todestag von Ingeborg Bachmann zum fünfzigsten Mal. Ein willkommener Anlass – dafür sind Jahrestage gut –, frühere wichtige Lektüren wiederaufzunehmen und, gleichzeitig, die Texte nach ihrer Brisanz und Aktualität für unsere Gegenwart zu befragen. In einer der Frankfurter Poetikvorlesungen, Mitte der 50er-Jahre gehalten, spricht Bachmann unter dem Titel „Literatur als Utopie“ von der Literatur als tausendfache[m] und mehrtausendjährige[m] Verstoß gegen die schlechte Sprache. Das Leben, fährt sie fort, hat freilich nur diese eine schlechte, und es ist Aufgabe der Literatur ihr ein Utopia der Sprache entgegenzusetzen. Dieses Utopia ist nie gegeben, vielmehr muss sich, wer schreibt, stets im verzweiflungsvollen Unterwegssein auf die Suche danach machen. Gilt dieser Imperativ noch in den zwanziger Jahren des neuen Jahrtausends? Wenn ja, ist er bedroht? Wodurch? Oder ist er pathetisch vorgestrig? Und welches ist die heutige schlechte Sprache? Um es herauszufinden, muss ich ein wenig ausholen:
Kurz nach ihrem Amtsantritt hält die Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Gespräch mit dem Magazin „Kunstforum“ fest: Unsere Demokratie lebt von den aufrüttelnden Impulsen der Kunst. Im weiteren Verlauf des Gesprächs ist auch von Wurzeln für die Zukunft die Rede.
Die Entwicklungen der jüngeren Zeit hingegen lassen Zweifel aufkommen an der Substanz dieser durchaus kernigen Aus- und Zusagen: Wie im Städtebau, ist auch im Bereich von Kunst und Kultur Bestandspflege nicht sonderlich gefragt, darüber hinaus ist die notwendige Voraussetzung für eine Herausbildung von Zukunftswurzeln auch die mutige Investition in eine Gegenwart, in der Kunst und Kultur mehr sind als ein Sedativ für erschöpfte Gesellschaften.
Wir leben in Zeiten multidimensionaler Krisen und Katastrophen, buchstäblich täglich werden wir zu Teilnehmern des Entsetzens, wie Wilhelm Genazino es in seiner Dankesrede zum Kleist-Preis vor einem Jahrzehnt formulierte. Im selben Maße, wie die Bedrohungen zunehmen, verlieren die offenen demokratischen Gesellschaften an Wehrhaftigkeit und Vorbildcharakter. Ein Erosionsprozess, der sich auch einer Aushöhlung der oft beschworenen Werte – darunter Gemeinwohl und Solidarität – verdankt, zugunsten einer neoliberal geprägten Wettbewerbsgesellschaft, in der der Stärkere, der Skrupellosere gewinnt.
Angesichts solcher Verwerfungen müssten Kunst und Kultur eigentlich seitens der Politik als unentbehrliche und in ihrem Bestand nicht zu gefährdende Ressource zur Erhaltung, Pflege und kritischer Spiegelung einer offenen Gesellschaft verteidigt und garantiert werden. Dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft droht jedoch auch heute – noch einmal in Bachmanns Worten – die bewußte Auflösung der stets gefährdeten und darum stets neu zu schaffenden Kommunikation [...]. Ist diese Leitungsfähigkeit nicht gegeben oder wird sie torpediert, ist das, führt Bachmann weiter aus, folgenreich: wenn sich die Gesellschaft der Dichtung entzieht, wo ein ernster und unbequemer, verändernwollender Geist in ihr ist, käme das einer Bankrotterklärung gleich.
Den schönen Worten der Kulturstaatsministerin von den aufrüttelnden Impulsen der Künste nach zu schließen, müssen wir den Bankrott nicht fürchten. Aber wie so häufig bei rhetorischer Aufrüstung, sprechen die Taten eine andere Sprache: Als ein Beispiel seien hier die massiven Kürzungen im Etat des Goethe-Instituts genannt, das mehrere seiner Standorte in Frankreich und in Italien schließt. Aufrüttelnde Impulse sind nicht als Beifang zu haben, sie brauchen einen Resonanzraum statt stillgelegter Frequenzen, und sie brauchen eine Wertschätzung, die die zentrale Bedeutung der Kultur für die Selbstvergewisserung einer Gesellschaft anerkennt.
Doch nicht allein Beschönigungen und hohle Metaphern sind besorgniserregend, auch die Willkür im Umgang mit Fakten ist es. Dreiste Lügen dienen dem Machterhalt, egoistische Vorteilssicherung der persönlichen Bereicherung. Diese Entwicklung löst bestürzender Weise bei großen Teilen der Bürgerinnen und Bürger nicht Entsetzen aus, sondern Bewunderung. Unverfrorenheit wird zur politischen Praxis und erteilt die Lizenz zum Nach- und Mitmachen. Spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten im Jahr 2016, leben wir in einem Zeitalter der Behauptungen. Fake News und alternative Fakten gehören als Coverversionen partikularer Interessen längst zur Tagesordnung. Im gesellschaftspolitischen Kontext sind Behauptungen, ähnlich wie eine Währung, auf Anerkennung ihrer Geltung angewiesen. Diese wird durch kraftvolles Wiederholen eingefordert und eingebläut und entfaltet durch Omnipräsenz eine sowohl sedierende und hypnotische als auch agitatorische Wirkung. Ähnlich dem Effektkanal des Dolby Surround Systems, arbeitet die in Endlosschleife wiederholte Behauptung mit ästhetischer und emotionaler Überwältigung.
Auch ein etwas anderer Typus von Behauptung, der sich in letzter Zeit durchsetzt, kalkuliert mit Überwältigung: Die Behauptung ist nicht falsch im Sinne von kontrafaktisch, aber sie ist leer, sie ist apodiktisch. Und sie ist schlechte Sprache. Fortschrittskoalition, Doppelwumms, Zeitenwende, Deutschlandpakt, Kulturoffensive, Brandmauer, Deutschlandtempo. Hammerschläge – nicht am Schlusspunkt von Überlegungen, Argumentationen oder Analysen, sondern ihr Ersatz, ihre Verhinderung. Im Grimm’schen Wörterbuch der Deutschen Sprache kann man nachlesen, dass behaupten in ländlichen Regionen die Bedeutung hatte, ein mutiges Pferd zu zähmen, indem man ihm das Zaumzeug über das Haupt schlang und es so bezwang. Richtung und Verhalten waren nun vorgegeben.
Eine weitere wortgeschichtliche Bedeutungsnuance ist militärisch: ein Gelände behaupten – im neudeutschen Claim, der den Herrschaftsanspruch als berechtigt ausweisen soll, hat sie einen würdigen Nachfahren. Auffällig ist, dass der Typus der apodiktischen Behauptung im grammatikalischen Modus des Kompositums daherkommt: Fortschrittskoalition etc. Das Kompositum, also ein aus zwei Substantiven zusammengesetztes Wort, bevorzugt das superlativische Register: Wucht anstelle von Überzeugung, Schlagkraft anstelle von Argumentation, Suggestion anstelle von Analyse.
Mark Twains Klage, es sei angenehmer und bekömmlicher sie [die Wahrheit, DL] mit dem Löffel statt mit der Schaufel zu sich zu nehmen, ist mehr als nur eine Pointe. Es geht weniger um präzise, als um griffige Begrifflichkeit. Die einmal in Umlauf gebrachte Behauptung – Anbruch der Zeitenwende, Errichten der Brandmauer – wird in der Folge inflationär wiederholt. Schließlich ersetzt das Zitat die Tat, blockiert die eigentlich in einer Demokratie notwendigen Aushandlungsprozesse. Die apodiktische Behauptung tritt in den politischen Warenhandel ein und zirkuliert als Produkt.
Da die Inhalte sich nicht sonderlich unterscheiden, greift man zur Überbietung und rüstet rhetorisch auf, mit verheerenden Folgen für ein gesellschaftliches Miteinander. Eine weitere schlechte Sprache ist die Folge, und zwar die einer Gewalt bejahenden, extrem ideologisierten und verheerenden Enthemmung. Diese schlechte Sprache lebt von Menschenverachtung und Größenwahn, diese schlechte Sprache ist von der Fäulnis befallen, die Ingeborg Bachmann kannte. Mit Verboten und Ruckreden wird versucht, ihr Einhalt zu gebieten. Der Vollmundigkeit an Rednerpulten entspricht ein Kleinmut, ein Kleinbeigeben im Handeln. Eine Politik der restriktiven Maßnahmen und der großen Worte verschleiert die Kapitulation vor den Demagogen.
Und Worte und Maßnahmen ersetzen keine Vision – zu kurz kommen ideelle Konzepte, gesellschaftspolitische Entwürfe des Möglichen und für eine starke Demokratie Erstrebenswertem, vom Stakkato einer Legislaturperiode befreit. An einem solchen Prozess können Bürgerinnen und Bürger partizipieren, auch durch Widerspruch. Wird Politik dagegen zum Produkt, verkommen die Wähler und Wählerinnen zu bloßen Konsumenten. Bei Missfallen droht Produkten der Konsumverzicht oder der Umstieg auf ein anderes Produkt, um dem vorzubeugen, greift die Politik zu Mogelpackungen und Etikettenschwindel.
In demselben Klima, in dem die Vision einer solidarischen Gesellschaft zugunsten einer Gesellschaft der Singularitäten (ein Begriff des Soziologen Andreas Reckwitz) preisgegeben wird, steht auch das Kerngeschäft der Kunst, die Imagination, zur Disposition. Dem Desinteresse an einer Vision im politisch-gesellschaftlichen Bereich, entspricht die Verwerfung der Imagination, der Fiktion in der Kunst. Der derzeit herrschende Authentizitätsfuror entspringt derselben konsumorientierten Grundhaltung, die der Politik entgegengebracht wird: drin soll sein, was draufsteht. Der Leser, die Leserin ist Kunde, die Kunst, die Kunstwerke werden zur Dienstleistung und zum verfügbaren Produkt.
Der verändernwollende Geist in der Kunst, von dem Bachmann spricht, wird zum Gespenst, zum Spuk. Affirmation ist das Gebot der Stunde, nicht Dissidenz. Die Ablehnung der Imagination ist gleichbedeutend mit der Verwerfung ihres Kerngeschäfts: nämlich mit Hilfe der Vorstellungskraft und der Fähigkeit zur Anverwandlung Möglichkeitsräume zu eröffnen und sichtbar zu machen. Zum Beispiel so:
Böhmen liegt am Meer lautet der Titel eines Gedichts von Ingeborg Bachmann, Mitte der 60er-Jahre entstanden. Eine kühne Behauptung, ohne Zweifel, hier wird geschwindelt, Böhmen liegt nicht am Meer. Und doch fliegt der Schwindel hier ganz anders auf als die Luftnummern der politischen Rhetorik, er gewinnt Lufthoheit, schafft Aufklärung, lässt die Zweifel an der Wahrhaftigkeit stranden, bringt die Voreinstellungen zum Explodieren. Ja, Böhmen liegt am Meer, wenn man von der Kartierung der Welt einmal absieht und das Utopische zulässt. Die poetische „Behauptung“ hat welterschließende Kraft, sie überwältigt nicht, sondern eröffnet, öffnet ein Fenster dort, wo vorher nur Mauer war. Sie suggeriert nicht, sie lädt ein:
Grenzt hier ein Wort an mich, / so laß ich’s grenzen. / Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. / Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich aufs Land. Einer solchen Einladung folgen alle Leserinnen und Leser, die kindlichen wie die erwachsenen, einfach nur, indem sie lesen. Dabei geschieht die wunderbare Einübung in Toleranz spielerisch und nebenbei.
Wir, die Menschen, sind vorstellungsbegabte Wesen, wir können im empirisch nicht Zutreffenden den Möglichkeitsraum erkennen, den Konjunktiv, wir können symbolisch denken. Glaub ich noch ans Meer, dann glaube ich an das Offene, an das Verbindende, an das Unverfügbare – dann sehe ich Land, dann darf ich hoffen.
Lassen wir unsere Fähigkeit zur schöpferischen Anverwandlung dagegen verkümmern, geben wir etwas sehr Wichtiges ohne Not preis: Die Korrektur unserer eingeübten Wahrnehmungskonventionen, unserer gehegten Vorurteile, unserer algorithmisch unterstützten Bequemlichkeit. Das poetisch Imaginierte, der Verstoß gegen die schlechte Sprache sprengt das Faktische auf – aufrüttelnde Impulse! – und erlöst uns aus dem Joch der Frames. Böhmen liegt am Meer, gewiss nicht am Mainstream und auch nicht an einem Gemeinplatz. Es ist vielmehr ein Ort für alle, die auf Verstößen bestehen: als Denkanstoß.