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12.12.2023, 16:17 Uhr
Katrin Diehl
Literarische Erkundungen
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Katrin Diehl (Foto: Frank Zuber)

Ein Filmdokument aus dem Jahr 1912 zeigt den Münchener Wittelsbacherbrunnen von Adolf von Hildebrand – Literarische Erkundungen (10)

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Gerti aus dem Film beim Weichenstellen. Sie hat die Filmkamera entdeckt. Im Hintergrund der Wittelsbacherbrunnen (Filmstill)

Filmdokumente erzählen noch einmal anders als Fotografien, wie sich frühe Filmer und Filmerinnen nach ganz anderen Motiven umgesehen haben als ihre Kollegen und Kolleginnen vom stehenden Bild. Vor ihrem Objektiv musste sich etwas tun, galt es doch das Auf und Ab, das Hin und Her einzufangen. Besonders berühren Filmaufnahmen, die, statt eine Geschichte zu erzählen, einfach Alltag ablichten, und sei es nur eine dampfende Lok, die völlig lautlos in die Bahnhofhalle hinein prustet und schnaubt. Was aus der Faszination für die neue Technik entstand, liefert uns heute – neben der Aussage über den jeweiligen Stand der Technik – einen Einblick in den Alltag der Menschen. Und ja, sie gingen wie wir, schauten wie wir, machten ihr Ding wie wir. Und doch war vor 100 Jahren alles irgendwie anders.

Ein kleines Filmchen in Endlosschleife, zu sehen im Bereich der Dauerausstellung der Monacensia, erzählt von einer Münchnerin, die mitmischte im regen Münchner Trambahnverkehr. Katrin Diehl hat – für die literarischen Erkundungen – die Dame etwas besser kennengelernt.

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Gerti macht es uns nicht leicht. Aber Gerti gefällt uns, und sie kann nichts für unsere Verwirrung, im Gegenteil: Fast möchten wir uns dafür entschuldigen, dass sie da auf einmal Teil eines Projekts geworden ist, das bis heute andauert, ohne dass man sie je um ihr Einverständnis gefragt hätte. Ein Herr (wahrscheinlich mit hellem Hut) hat sich in etwa sechs Metern Entfernung vor ihr aufgebaut. Er schwenkt einen dieser neuen Filmapparate in ihre Richtung, hält (vor dem Bauch oder auf einem Stativ) direkt auf sie und kurbelt und kurbelt.

Hallo?! Geht’s noch?!

Gerti weiß nicht so recht, was sie davon halten soll. Weiß nicht, ob das, was da passiert, nicht vielleicht auch eine kleine unanständige Komponente besitzt, oder ob so etwas heutzutage einfach dazugehört, wo sich die „modernen Zeiten“ an jeder Ecke ankündigen. Sie – durchaus an dem interessiert, was Elektrizität, Motoren, Strahlen … noch bringen werden –, scheint für Sekunden irritiert. Wo würde sie als eine von der 35-mm Filmkamera mir-nichts-dir-nichts Abgelichtete am Ende landen? Welche Augen würden sie ansehen? Und wie würde sie sich überhaupt machen auf dem schmalen Zelluloidstreifen, gerade einmal ein paar Zentimeter groß, schwarzweiß ihr Gewand, kein bisschen Rot auf den Wangen, alles stumm, ohne jedes Quietschen der Tram neben ihr, ohne jedes Rauschen der Brunnen-Fontänen hinter ihr …?

Aufrecht und mit flottem Schritt

Das alles bringt Gerti kurz aus dem Tritt. Sie geht, den Blick direkt auf die Kamera gerichtet, zwei Schritte in die falsche Richtung, fängt sich und ihre Gedanken wieder ein, macht kehrt und weiß: „Ich hab für so was eigentlich grad keine Zeit und konzentrieren muss ich mich außerdem.“ Kurz überlegt Gerti auch, was schlimmer wäre: wenn wegen ihr eine Tram in die falsche Richtung fahren tät‘, oder wenn nach über hundert Jahren niemand mehr wüsste, dass es sie, die Gerti, in München je gegeben hätt‘, eine Frau, die sich darauf versteht, zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtigen Weichen zu stellen.

Eine Frage, die damals wie heute kein Mensch beantworten kann. Gerti geht. Aufrecht, mit flottem Schritt, sie geht und macht ihre Arbeit.

Die Stadt ist voller Weichen und deshalb dürfen die passenden Eisen und das passende Personal dazu nicht fehlen. (c) Katrin Diehl

Der Filmausschnitt aus dem Jahr 1912, von dem niemand weiß, wer ihn gedreht hat, läuft in der Dauerausstellung der Monacensia. Er läuft in einer Endlosschleife, was ihm etwas ungemein Faszinierendes gibt, auch weil ein Anfang, ein Ende nicht auszumachen ist, alles sich ständig Wiederholende die seltsame Erwartung weckt, dass sich in die Sache dann doch irgendwann, irgendwann einmal eine kleine, unerwartete, unerklärliche Veränderung hineinmogeln wird. Sieh nur genau hin, Mensch!

Im Kontext des Bildhauers Adolf von Hildebrand (1847-1921) und seiner Villa, in der sich heute eben die Monacensia befindet, kann der Filmausschnitt wie ein Ausstellungsobjekt gelesen werden, das sehr zentral, sehr prominent, sehr vor sich hin sprudelnd den Wittelsbacherbrunnen am Lenbachplatz zeigt, ein monumentales neoklassizistisches Werk Hildebrands mit in Stein gehauenen Menschen, Tieren, Fantasiewesen. Das Dokument zeigt den Brunnen zwar in einer fernen Vergangenheit, aber durch das bewegte Bild eben in sehr gegenwärtiger, vitalster Aktion. Es stellt über die Zeitspanne eines Jahrhunderts hinweg eine präsente Verbindung zwischen dem Künstler Adolf von Hildebrand, seinem Kunstwerk und dem betrachtenden Publikum her, das den Wittelsbacherbrunnen ja bis heute mitten in München im wassersprühenden Einsatz weiß, oder dieses Publikum zumindest die Möglichkeit hätte, diesen bis heute (und als hätte er nie aufgehört zu plätschern) mitten in München betrachten zu können.

Ja, ein wirklich prächtiger Brunnen ist das, dieser Wittelsbacherbrunnen!

Im Jahr 1889 schreibt die Stadt München, die ihre Plätze und Straßen weiter aufschmücken will, einen Wettbewerb zur Gestaltung eines Brunnens aus, der die funktionierende Wasserversorgung Münchens mit Wasser aus dem Mangfalltal feiern soll. Hildebrand gewinnt mit seiner Vorschlagsskizze, wobei die Vergabe des Auftrags an ihn – so herrisch wie eigennützig – an die Bedingung geknüpft ist, dass er von Florenz nach München ziehen müsse, was dann auch so geschieht.

Die Brunnen-Pläne von Hildebrand werden verwirklicht. Die Bauzeit dauert von 1893 bis 1895 (Trambahnen gibt’s in der Stadt seit 1876, damals noch von Pferden gezogen).

Bereits am 28. Oktober 1894 lässt der bekannte Kunsttheoretiker Conrad Fiedler (nur ein Jahr vor seinem mysteriösen, tödlichen Sturz aus einem Fenster) Adolf Hildebrands Frau Irene brieflich wissen: „Der Brunnen wird wundervoll; ich war neulich bei einer Wasserprobe und man erhält schon einen vollen Eindruck des Ganzen; es wird ein ganz außergewöhnliches und einzig dastehendes Werk und ich bin überzeugt, daß die Menschen sehr überrascht sein werden, wenn es fertig dasteht.“

Der Film von Gerti, der Tram, dem Brunnen … befindet sich im Original im Stadtarchiv München (Signatur DE-1992-FILM-0063), betitelt mit: „Münchner Originale“. Gerti, der Brunnen, die Tram sind darin nur ein kleiner Ausschnitt. Wie aus den Archivunterlagen hervorgeht, befindet sich auf der Filmrolle, wohl von einem emsigen Chronisten gedreht, außerdem noch: „Blick auf den Turm der St.-Peters-Kirche: Wasserfall an der Isar und Flauchersteg; Angler an der Isar; Lohnkutscher im Gespräch, bei der Pause mit Maßkrügen (Keferloher); im Hofbräuhaus, Innenhof mit Besuchern, Brezlverkäuferin; Marktfrauen am Viktualienmarkt; Kellnerin mit Maßkrug; Radiverkauf (Rettich); Schneidemaschine für Rettich; Schäffler bei der Arbeit mit Fässern; Postkutschen auf der Fahrt durch die Prielmayerstraße; Weichenstellerin für Trambahngleise am Lenbachplatz, vorbeifahrende Linie 12; Trambahnschienenritzenreinigungsdamen bei der Arbeit; Herbeibringen der Brotzeit, Maßkrüge und Essen; Schuhputzer am Karlstor; Sägfeiler.“

Gerti ist also eine Weichenstellerin. Sie ist keine „Trambahnschienenritzenreinigungsdame“, die mit eigener Tracht einem eigenen Berufsstand angehört.

Je länger der Film läuft, je öfter Gerti an einem vorüberzieht, desto genauer will man es wissen. Die eingefangenen Einzelaktionen sind denkbar einfach: Ein Mann mit hellem Hut (es scheint Sommer zu sein) entfernt sich vom Wittelsbacherbrunnen im Hintergrund, er schaut nach unten, als würde er in seinem Portemonnaie nach Kleingeld suchen. Eine Frau mit langer Halbschürze und flachem Hütchen, Gerti eben, in der rechten Hand ein Weichenstelleisen (das Weichenstelleisen hat Vierkantform und oben eine Öse, damit es sich halten und aufhängen lässt), geht hierhin, geht dorthin, stellt die Weiche, geht hierhin, geht dorthin. Eine Tram taucht auf. Ein (anderer) Herr mit hellem Hut läuft, um die Tram noch zu kriegen. Die ist ziemlich gut besetzt mit Männern mit hellen Hüten, und ob unser Läufer sie noch erwischt oder nicht, das findet außerhalb des Spektrums statt.

Keine Weichenstellerin, dafür eine Trambahnschienenritzenreinigungsdame (Seeriederstraße 1, München). (c) Katrin Diehl

Woher genau kommt die Dame eigentlich?

Der mächtige Wittelsbacherbrunnen bildet die Hintergrundkulisse, vor der sich binnen kürzester Zeit die oben beschriebenen Szenen abspielen, bis alles wieder von vorne losgeht. Die Tram, kein Pferd mehr davor, ist die Linie 12, Wagennummer 259, ein einzelner Triebwagen. Was diesen Filmschnipsel so besonders macht, was uns als Betrachter*innen hineinzieht, sind die unmerklichen Schnitte, die die Frage nach der zeitlichen Abfolge der Ereignisse zum Rätsel werden lassen.  Von wo kommt Gerti und wohin geht sie, nachdem sie die Weiche gestellt hat?

Frank Zwintzscher, wissenschaftlicher Mitarbeiter im „Verkehrszentrum“ des Deutschen Museums, bietet eine Lösung an: „Woher die Dame vor dem Weichenstellen kommt, zeigt der Film nicht eindeutig, aber nach dem Stellen geht sie definitiv in Richtung der vorbeigefahrenen Straßenbahn. Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, dass sie zum Fahrzeugpersonal gehörte. Aber die Fahrerin war sie nicht (denn die Tram fuhr ja auch ohne sie) und für eine Schaffnerin würde ich erwarten, dass sie zumindest eine Tasche mit Geldwechsler trägt, was aber nicht der Fall ist. Auch ist mir nicht bekannt, dass Frauen in diesem Beruf bereits vor dem Ersten Weltkrieg gearbeitet haben.“

Wenn Gerti sich jetzt wirklich auf den Weg zu „ihrer“ Tram macht, kann das nur eines bedeuten: Die Tram steht noch da und wartet auf sie, was weiterhin bedeutet, dass der sportliche Herr mit dem hellen Hut sie auch noch erwischt.

Mein Name ist Katrin Diehl, ich bin Journalistin und Autorin, gehöre dem Netzwerk Münchner Theatertexter*innen an und für die Monacensia habe ich etwas übrig.

Die „literarischen Erkundungen in und um die Monacensia“ erscheinen immer am ersten Dienstag eines Monats. Alle Folgen der Kolumne finden Sie im Journal unter Reihen & Kolumnen.