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16.06.2013, 08:44 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [174]: Gerechtigkeit kommt nicht immer und nicht jedem gelegen

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Berühmt-berüchtigte Schmuggler der späten Jean-Paul-Zeit: die Gebrüder Lafitte, gemalt im Jahre 1821, also in dem Jahr, in dem er die Vorrede zur zweiten Auflage der Unsichtbaren Loge schrieb.

Das Röpersche Idyll wird denn doch gestört – durch Gustav. Wir erinnern uns: Der Erzähler lobte gerade die Menschlichkeit des Händlers, die Gattin Luise verschüttete in der Freude des Festtags „einige Beiträge zu seiner Krebs-Daktyliothek“ (also zu seiner Gemmensammlung, denn es gibt Krebse, und er ist „weniger um das Steingut in ihren Köpfen besorgt). Es gibt also Saucentropfen, da muss die Frau wieder mit den Fleckkugeln ran... Was die Sache, den Geburtstag aber übel macht, ist der einbrechende Gustav. Der, tugendhaft bis zum Anschlag, bringt einen Pachter, der einen Kornwagen über die Grenze expedieren wollte, vor den Kommerzienagenten, denn jener hatte zunächst behauptet, dass das Schmuggelgut[1] nicht ihm, sondern dem Händler gehöre. Bestechen lässt sich Gustav nicht, und so stürmt er in das Röpersche Haus: voll Hass „gegen Röperische Betrügereien“, aber wohl eher auf ihn selbst, denn Gustav sieht ja, welcher Widerspruch zwischen dem Mann und seiner schönen, auch moralisch schönen Tochter besteht: Beata, „welche aus der Hofluft, wie andre Blumen aus der mephitischen, nichts eingesogen als zärtere Reize und höhern Schmelz“. Gustav hat Beata schon länger nicht mehr gesehen, nun bricht er in diese Art Idyll ein, die Situation ist komplett konfus, denn der Erzähler bedauert Gustav ob seiner übergroßen Tugendhaftigkeit, „ihn dauerte das Unglück des armen Pachters“ (der dem Pachter eine Schuld zuschiebt, die ihn selbst betrifft), „und Beaten dauerte unsere allseitige Beschämung“. Gustav fühlt, dass sein moralischer Übermut und seine Emotionen ihm da einen bösen Streich gespielt haben: er verlässt eilends das Haus, und dies wohl vor allem deshalb, weil er spürt, dass er Beata ungewollt enttäuscht hat, indem er „die Blumen kindlicher Freude weggebrochen und herabgeschlagen hatte“.

Was aber sollte er auch machen? Und was sollte der Autor anderes machen, um Gustavs Tugendhaftigkeit in Kontrast mit einer verderbten Welt an einem Beispiel zu zeigen? Wie anders hätte er demonstrieren können, dass das Richtige tun noch nicht bedeutet, das Rechte zu machen: wenn damit zugleich äußerlich und innerlich schöne Blumen geknickt werden? Hätte Gustav den Fall auf sich beruhen lassen und sich wie die beiden Husaren bestechen lassen sollen, die den Pachter mit seiner Konterbande hätten laufen lassen? Wäre er dann noch ein „hoher Mensch“ gewesen?

Man sieht: an diesem vergleichsweise banalen Beispiel kann man ansatzweise das Problem des „Gerechten“ erklären, indem man die Frage stellt, was wann und wo „richtig“ ist. Ein „Gerechter“ muss, im Sinne des Judentums, kein moralisch einwandfreier Mensch sein, er muss auch nicht die vielen jüdischen Gesetze einhalten – Gustav ist nicht schon deshalb gerecht, weil er den ungerechten Röper anklagt. Zumindest qualifiziert ihn dies letzten Endes nicht für den Erzähler, der das Tragische der Situation begreift. Er verurteilt Gustav nicht, er bedauert ihn, der gefangen ist in seiner „Tugend-Plethora“[2], er kommentiert seine ungewollte Kränkung Beatas auf keine Weise – aber der Leser spürt, dass hier, sozusagen, „irgend etwas nicht stimmt“.

So holt die Röpersche Familie inmitten dieses Freudentages doch noch die Wirklichkeit einer heillosen Welt ein – die Familie, Gustav und mich, den einsamen Leser, der plötzlich mit Fragen konfrontiert wird, die auch eine Krebs-Daktyliothek nicht beantworten kann.

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[1] Wieder so ein Zu-Fall: gestern sah der Blogger in der Nürnberger Oper die Wiederaufnahme der Carmen, und wer tritt da im zweiten Akt auf? Die Schmuggler.

[2] Plethora: wir hatten das schöne, seltene Wort schon einmal.

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