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28.11.2023, 09:25 Uhr
Katrin Diehl
Literarische Erkundungen
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Katrin Diehl (Foto: Frank Zuber)

Ödön von Horvath: Ein Manuskript ist ein Manuskript. München und die Monacensia – Literarische Erkundungen (9)

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Ödön von Horváth (Archiv Monacensia)

Ödön von Horváth hatte schon etwas Alpenländisches an sich, aber mit seinem hohen, dunklen Herrenhut mit breiter Krempe konnte er schon auch sehr großstädtisch, sehr weltgewandt wirken. Dass er 1938 in Paris im Alter von nur 37 Jahren von einem Ast eines Baumes auf der Champs-Elysees erschlagen wurde, stellt jede Anekdote in den Schatten. Paris selbst reiht sich so traurig wie logisch in die Stationen seiner Fluchtwege ein. Er reiste seinen Stücken nach, die nur noch im Ausland aufgeführt werden durften, geht noch einmal Lebensstationen ab, nicht auf der Suche nach Heimat, sondern auf der Suche nach einer nächsten Bleibe. Im nationalsozialistischen Deutschland ist Horváth unerwünscht. In Bayern, in München, in  Murnau hat er sich für eine Weile recht wohl gefühlt, ist dort zum Literaten geworden, was auch in der Monacensia Spuren hinterlassen hat. 

*

Ödön von Horváth, Murnau und ein Brief von Hans Ludwig Held

Ödön von Horváth (1901-1938) schreibt von Hand. Das geht schneller, und die Schreibmaschine ist noch im Koffer verpackt. Er sitzt am Holztisch, weiß die bayerischen Berge, die er so liebt, vor dem Fenster. Horváth schreibt mit Tinte, gut leserlich, schön, akkurat, schreibt auf einen rautinierten Papierbogen.

Links oben an den Rand platziert er die Datumszeile:

„Murnau, 6. Juni 32“

„Murnau“ unterstreicht er.

Unterstreicht es, wie er später ­– auf dem Couvert dann – München unterstreichen wird, wohin der Brief gehen soll.

Endlich ist er wieder da, zurückgekehrt von Aufenthalten in Berlin, in Leipzig, in München oder sonst wo.

Äste wachsen nach... Am 1. Juni 1938 wurde Ödön von Horváth während eines Gewitters auf den Champs-Élysées von einem herabstürzenden Ast tödlich am Kopf getroffen. Foto: Katrin Diehl

Murnau ist für Horváth eine eigene Welt, mit Menschen, die ihm wie geschaffen dafür scheinen, um sie ­– mit Zuspitzungen, Übertreibungen – in seinen Romanen, den Theaterstücken unterzubringen. Er beobachtet die Murnauer und Murnauerinnen mit Schriftstelleraugen, hört ihnen mit Schriftstellerohren zu, packt sich selbst in bayerische Lederhosen und übernimmt, geradezu genüsslich, auch den oberbayerischen Zungenschlag. Dass er eigentlich aus dem Königreich Ungarn stammt (und deutsch werden lassen, das wird ihm das Murnauer Amt eh nie erlauben), geboren in Fiume, dem heutigen kroatischen Rijek, was soll’s?

In Murnau am Staffelsee lässt sich leben und schreiben.

Als Sommerfrische lieben und schätzen gelernt, hatten Horváths weitgereiste Eltern (Vater Edmund Josef Horváth war Diplomat in ungarischen Diensten) im Jahr 1921 in der oberbayerischen Marktgemeinde Murnau ein wahrhaft stattliches Grundstück erworben. Dann wurde gebaut. Und seit 1924 steht es da, so ziemlich mitten im Ort, das schmucke Landhaus mit dem Familienwappen über dem Erker.

Die Villa wurde zum Lebensmittelpunkt der Familie Horváth, bei allem Kommen und Gehen. Mutter Maria Lulu Hermine (geb. Prehnal), die Großmutter, ein Hausmädchen hielten als ständige Bewohnerinnen die sieben Zimmer warm, ordentlich und bereit. Bis das Jahr 1933 kommt und das politische Klima im Ort der Familie zu braun wird. Sie kehren Murnau den Rücken zu und ziehen fort. Erstmal Richtung Possenhofen.

Immer wenn Ödön von Horváth auf Reisen war, legte die Mutter die Briefe, die an ihn gegangen sind, ordentlich zur Seite. Dieses Mal war einer aus dem nahen München dabei. Absender: Hans Ludwig Held.

Den kannte Horváth. Denn jeder, jede in München, die mit Literatur zu tun hatte oder gar selbst Literatur machte, kannte ihn. Horváth lupft die karierte Decke, holt aus der Tischschublade das Messer, das zum Brotschneiden zu stumpf geworden ist, und öffnet das Couvert. Was will er denn, der „Haluhe“?

Hans Ludwig Held (1885-1954), der 1921 zum ersten Münchner Stadtbibliothekar ernannt worden war, hatte seinen Anteil daran, dass München in jenen Jahren schon ein wenig als Stadt der Avantgarde galt, immer noch und immer wieder „leuchtete“[1].

Held hielt engen Kontakt zu seinen Münchner Dichtern und Dichterinnen, die sich – liebend gern und dicht an dicht – in Schwabing, aber auch in der Maxvorstadt, in Bogenhausen niederließen. So zielstrebig wie engagiert und dem Ideal der „Volksbildung“ verpflichtet, machte er Ernst mit der Idee von den für alle offenen Bücherhäusern, von den für alle zugänglichen Bibliotheken. Der ebenfalls von Held gegründeten Monacensia-Bibliothek, einer Büchersammlung mit München-Bezug, gliederte er 1924 eine Handschriftenabteilung an, aus der später das Literaturarchiv der Monacensia hervorging.

Um seine „Autographensammlung“ auf dem neuesten Stand zu halten, schreibt Held sehr fleißig Münchner Autor*innen an, bittet sie „schenkungsweise“ um „das ein oder andere Ihrer geschätzten Manuskripte“, und offensichtlich fühlen sich die Angeschriebenen durch die Anfrage geehrt, vielleicht auch verpflichtet, denn der Rücklauf ist mit über 6.500 positiven Antworten doch sehr erfreulich. 

Horváth will Held nicht warten lassen und auch er fühlt sich geehrt, fühlt sich wahrgenommen als Münchner Schreiber. Keine Selbstverständlichkeit bei seinem Wanderleben, den sich ständig verschiebenden Grenzen, den Familienbanden in alle Himmelsrichtungen („Ich bin eine typisch-altösterreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch ...“[2]). Aber es stimmte ja schon: Nach München hatte es ihn bereits als Bub und wegen seines Vaters verschlagen, und dann kam er immer wieder. Horváth geht zum Bauernschrank, zieht eine Landkarte aus dem obersten Fach. Misst nochmal nach. Etwa 70, 80 Kilometer sind es von Murnau nach München. Gut, dass die Eltern weiterhin und über die Jahre hinweg ihre Münchner Stadtwohnung (bis 1935) nicht aufgegeben hatten. So konnte er immer, wenn er in München war, gut unterkommen.

Also wird der Vater nach München versetzt und der kleine Ödön 1913/14 eben auch: von der Schule in Budapest ans Wilhelmsgymnasium in der königlichen Isarstadt. In Ödöns erstem Zeugnis steht notiert:

Er beherrscht die deutsche Sprache, soweit, daß er dem Unterricht zu folgen vermochte und in den meisten Fächern bei anerkennenswertem Fleiße genügende Fortschritte erzielte. Im Deutschen freilich, wo seine Kenntnisse in Grammatik und Orthographie noch unsicher sind, stehen seine Leistungen an der Grenze des Genügens … Sein Betragen war lobenswert.[3]

Auf München folgten für den Heranwachsenden dann erst einmal wieder Bratislava, Budapest, Wien, dann wieder München.

1919 immatrikulierte Horváth sich an der Ludwig-Maximilians-Universität, schrieb sich für Germanistik ein, war natürlich wie all die literarisch Ambitionierten der Stadt bei den Vorlesungen des Literatur- und Theaterwissenschaftlers Artur Kutscher dabei, eines Professors, der es verstand, mit der Zeit zu gehen. Auch an dessen „Kutscher-Abenden“ nimmt er teil (dort könnte er zum Beispiel auch Held getroffen haben), beginnt zu schreiben – auch einiges Kurzes für den Simplicissimus – und steckt bald tief drin in der bohèmischen Literaturszene der Stadt.

„Sehr verehrter Herr Held“, schreibt er (LA der Monacensia, AI/1, Brief von Horváth an Held) und entschuldigt sich auch fürs verspätete Antworten, die so verspätet ja gar nicht ist. Das Schreiben von Held stammte vom 1. Juni, und was sind schon fünf Tage? Horváth freut sich, dass Held bei seiner Aktion auch an ihn „gedacht“ hat, schreibt weiter:

„Ich würde Ihnen natürlich sofort ein Manuskript zusenden, wenn ich nur eines hätte!“

Das klingt ein bisschen lustig, lockt auf eine falsche Fährte, spielt den verzweifelten Dichter vor, dem nichts mehr einfallen mag. Aber dann:

„Aber ich schreibe alles gleich in die Maschine und korrigiere dann nur.“

Hier wird das Wort „Manuskript“, als Bezeichnung für ein manuelles, also mit der Hand geschriebenes Schriftstück, noch sehr ernst genommen, was durchaus dem Sprachgebrauch der Zeit entspricht, wobei – ganz in Stein gemeißelt scheint es auch damals schon nicht mehr gewesen zu sein, was man heute unter einem „Manuskript“ versteht, heißt es doch bei Horváth ein paar Zeilen weiter:

„Wenn Ihnen damit“, also mit den Schreibmaschinenseiten, „gedient sein sollte, würde ich Ihnen das Manuskript des Stückes, an dem ich zur Zeit arbeite, so ungefähr Anfang Juli zusenden können.“

Horváth steckt den Papierbogen ins Couvert, adressiert ihn: „An die Stadtbibliothek / Herrn Hans Ludwig Held / München 2 C / Rathaus“. Klebt eine orangefarbene 12-er Hindenburg darauf und ab geht die Post.

Ödön von Horvath antwortet Hans Ludwig Held. Foto: Katrin Diehl

Held fasste den Begriff des „Manuskripts“ offensichtlich so eng wie etymologisch auf. Ein Manuskript ist ein Manuskript und er ein Bibliothekar.

Auf dem Archivbogen der Monacensia von „1933/34“ (LA, L 3664) wird später die Sache dokumentierend notiert werden:

„H. bedauert, gegenwärtig kein Manuskript zur Hand zu haben, da er gewöhnlich seine Arbeiten mit Schreibmaschine fertigt …“

„Glaube Liebe Hoffnung“ – ein vergebenes Manuskript, die Monacensia und Wien

Das Theaterstück, an dem Horváth gerade saß, geht der Monacensia also als Skript durch die Lappen. Heute liegt es als Schreibmaschinen-„Manuskript“ mit handschriftlichen Korrekturen im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.

Denn es müsste, passend zum Jahr 1932, Glaube, Liebe, Hoffnung gewesen sein. Der „kleine Totentanz“ in fünf Bildern durfte seine Uraufführung in Deutschland nicht mehr erleben. Die ist im Januar 1933 auf Druck der Nationalsozialisten am „Deutschen Theater“ abgesagt worden, wurde sozusagen um drei Jahre verschoben. Dann nämlich, und da darf man schon ein bisschen staunen, kam das Stück am 13. November 1936 in Wien im „Theater der 49“ (da haben 49 Leute Platz) auf die Bühne. Es hat also auch eine kleine Logik, dass das „Manuskript“ dazu heute in Wien liegt.

Und trotzdem hat Glaube Liebe Hoffnung viel mit München zu tun, begann es doch eigentlich mit einem Gerichtsbericht der Münchener Post, der Tageszeitung „für die werktätige Bevölkerung von München-Südbayern“ (die dann ebenfalls 1933 nicht mehr erscheinen durfte) vom 13./14. Juli 1929[4]. Sein Autor: der Gerichtsreporter Wilhelm Lukas Kristl (1903-1985), der Horváth auf diesen interessanten Fall aufmerksam machte. Und der Mann konnte schreiben, wusste, wie man Zeitungsleser*innen mitnahm:

Die junge Angeklagte reiste in Korsetten. Jawohl, das gibt es auch noch im Zeitalter des Bubikopfs. Auf der Suche nach einer neuen Reisevertretung kam sie zu einem Kaufmann in G., dem sie als Verkaufskanone empfohlen war. Der Mann engagierte sie. Notwendig war nur noch ein Wandergewerbeschein, der 200 Mark kostete, ein Betrag, den die neue Vertreterin nicht aufzubringen vermochte. Der Geschäftsherr streckte ihr daher auf ihr Ersuchen das Geld vor. Die Angeklagte bat brieflich die Eltern in K., ihr diesen Wandergewerbeschein zu besorgen. Diese wandten sich ans Gewerbeamt und erhielte dort den Bescheid, die Antragstellerin müsse selber kommen. Diese hatte inzwischen das vorgestreckte Geld dazu benutzt, eine dringliche Reststrafe von 110 M. zu bezahlen, andernfalls sie ins Gefängnis hätte müssen und so die neue Existenz zum Teufel gegangen wäre. Sie wendete das eine Unglück ab. Allein das andere kam sogleich. Sie erkrankte nach 14 Tagen und musste mehrere Monate im Krankenhaus liegen. Nun klagte der Kaufmann wegen Betrugs.

Das Unglück nahm also seinen Lauf. Und hier das Ende des Lieds:

„Das Urteil lautete wegen Betrugs im Rückfall auf die Mindeststrafe von 3 Monaten Gefängnis. Bedingter Straferlaß wurde gewährt.“

Man ahnt, dass sich hinter diesen Zeilen Menschenschicksale, eine ganze Welt verbargen, und dafür war Horváth der richtige Mann. Er hatte sich Anfang des Jahres 1932 mit dem jungen Kristl getroffen, und zwar im Münchner „Weinhaus Neuner“, wo ihn dieser der Literatur und dem Theater sehr zugewandte Journalist fragte, warum auf der Bühne immer nur die Kapitalverbrechen verhandelt würden, wo doch „die ‚kleinen Fälle‘, in deren Schlingen sich der Mensch oftmals verfängt“ ebenso dramatisch und außerdem viel häufiger seien. Also nahmen sich die beiden den Fall der Korsettverkäuferin vor, Kristl lieferte die Fakten, Horváth machte daraus Literatur, ein Stück, das die Unbarmherzigkeit juristischer Paragraphenreiterei ebenso entlarvt wie den Verlust der Verhältnismäßigkeit, wenn es ums Strafmaß der kleinen Leute geht.

Horváth und Kristl saßen noch lange und immer wieder einmal zusammen, weshalb Glaube Liebe Hoffnung bis heute den folgenden Untertitel trägt: „Dieses Theaterstück wurde unter Mitarbeit von Lukas Kristl verfaßt.“

Mein Name ist Katrin Diehl, ich bin Journalistin und Autorin, gehöre dem Netzwerk Münchner Theatertexter*innen an und für die Monacensia habe ich etwas übrig.

Die „literarischen Erkundungen in und um die Monacensia“ erscheinen immer am ersten Dienstag eines Monats. Alle Folgen der Kolumne finden Sie im Journal unter Reihen & Kolumnen.

 

[1] „München leuchtete“ ist ein Zitat aus Thomas Manns Novelle Gladius Dei aus dem Jahr 1902, in der auch – und nicht ohne Ironie – die Ambivalenz von „Kunst“ verhandelt wird.

[2] Aus einem Essay für die in Berlin erscheinende Zeitschrift Der Querschnitt, 1929 / Heft 2 (Monacensia, Literaturarchiv, 1791/85, L 664). Unter dem Titel „Fiume, Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien, München“ befasst sich Horváth in diesem Text mit den Begriffen „Heimat“ und „Vaterland“. Joseph Goebbels schrieb am 13. Oktober 1936 in sein Tagebuch: „Gestern: gelesen, gearbeitet. Zwei Zeitschriften, ‚Inneres Reich‘ und ‚Querschnitt‘ wegen dreister Unverschämtheiten verboten. Das hat wohlgetan. Die waren wieder frech wie Dreck.“ (Joseph Goebbels: Tagebücher, Teil I; München 2001, S. 211)

[3] Vgl. Dieter Hildebrandt: Horváth, rororo, bildmonographien, Hamburg 1995 (8. Aufl.), S. 16.

[4] Die „Münchener Post“ ist in der Bayerischen Staatsbibliothek einsehbar. Jahrgang 1929 (Juli).

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