„Vor uns die Vergangenheit“. Romanauszug von Sabine Rädisch

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Foto: M.G.

Seit einem Familienstreit vor zwanzig Jahren ist Alexandras große Schwester Melanie verschwunden. Als der Vater stirbt und den Schwestern ein Bauernhaus im niederbayerischen Marktflecken Sesslfing hinterlässt, sucht Alexandra nach Antworten: Was passierte mit Melanie? Ist der gewalttätige Vater an ihrem Verschwinden schuld und was verschweigt die depressive Mutter? Am Ende findet Alexandra ihre Schwester – und erkennt, welche Beziehungen in ihrem Leben wirklich tragen.

Mit dem folgenden Auszug aus ihrem Romanprojekt Vor uns die Vergangenheit beteiligt sich Sabine Rädisch an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Prolog: Die Halle

Eine nach der anderen erwachten die Neonröhren zum Leben, jede mit einem kleinen „Pling”. Als alle brannten, lag die Halle still vor ihr. Auf dem Boden eine Abfolge von menschengroßen Quadern und Röhren, deren schwarze Farbe durch das fahle Licht noch vertieft wurde. Sie kannte jeden Millimeter davon, hatte nach und nach die Stationen aufgebaut, ausgestattet, die Details immer wieder verändert. Hatte jede einzelne davon auf ihre Wirkung überprüft: Rief die Passage genau die Empfindungen hervor, die sie transportieren wollte? Funktionierte alles reibungslos? Heute würde sie zum ersten Mal den gesamten Parcours durchlaufen, einschließlich der Soundinstallationen und Showeffekte. Sie streifte ihre Sandalen ab, schob den Vorhang beiseite, wand sich durch das enge, runde Eingangsloch der ersten Box und kauerte sich zusammen wie ein Embryo im Mutterleib. So jedenfalls stellte sie sich das vor. Beim Ausgang auf der anderen Seite wurde sie von allen Seiten gedrückt, es war sehr eng, fast erotisch, sie mochte das. Sie mochte auch den seidigen Teppich, auf dem sie anschließend zu liegen kam, und die Farbe Rot. Ein nur scheinbar sanfter Übergang, denn schon setzten die Frauenstimmen ein: Sie kreischten, lockten, sangen Wiegenlieder, all das erdrückend laut. Dazu das gleißende Licht, das einen zwang die Augen zuzukneifen. Umso überraschender kamen die harten, rotierenden Bürsten. Kaum hatte sie auch diese überstanden, wurde sie in die nächste Box gestoßen. Ein metallisches Knirschen – dann stand die Maschine still. Nur eine einzelne, zusammengequetschte Daunenfeder segelte auf sie herab. Irgendetwas klemmte, sie musste die Mechanik nachjustieren. Zur Eröffnung würde alles perfekt sein.

Schere und Schnittlauch

Während mein Mann im Haus telefonierte, streifte ich durch den Garten und sammelte Blüten und Blätter für unser Frühstück: Zart rosafarbene, süße Cosmea, scharfe Kapuzinerkresse, Schnittlauch und Basilikum. Vorsichtig brauste ich sie mit dem Gartenschlauch ab und trug sie zu dem runden Holztisch auf der Terrasse. Dort standen schon meine selbst gemachte Himbeermarmelade und eine Schüssel Obstsalat; außerdem Tomaten mit Mozzarella sowie Croissants und Brötchen, die Daniel von seiner Joggingrunde mitgebracht hatte. Dazu eine Käseplatte, auf der ich jetzt die Blüten verteilte.

„Kommst du?“, rief ich durch die offenstehende Terrassentür. „Und bring bitte den O-Saft mit.“

Der Kräutertee stand in einer Glaskanne auf dem Stövchen vor mir und duftete nach Melisse, Salbei und Minze. Ich setzte mich und schaute zufrieden auf das Kräuterbeet. Einige der Pflanzen hatte ich ausblühen lassen, ein Fest für die Bienen. Die Pfingstrosen daneben waren spät dran, doch nach dem kühlen Frühling blühten sie jetzt im Juni umso schöner. Mitten auf der Wiese stand ein Apfelbaum und spendete der Terrasse Schatten. Mittlerweile war unser Grundstück so eingewachsen, dass der Bungalow von der Straße aus kaum mehr zu sehen war. Als Daniel aus dem Haus kam, wirkte er mit den Gedanken weit weg. Ich nahm ihm die Saftgläser aus der Hand und stellte sie auf den Tisch.

„Entschuldige, Schatz“, sagte er und küsste mich. Ich erwiderte den Kuss mit vollem Einsatz, doch Daniel schob mich lachend weg. „Können wir erst frühstücken?“, fragte er, griff zur Teekanne und schenkte uns ein. Na gut. Der Sonntag war ja noch lang. Ich beobachtete, wie Daniel sich eine Kürbiskernsemmel aufschnitt und die untere Hälfte mit Butter bestrich. Dann nahm er die Schere und zerkleinerte den Schnittlauch. Die Röllchen fielen direkt auf die Buttersemmel. Anschließend salzte er das Ganze großzügig. Ich selbst streute Basilikumblätter über meine Mozarella-Tomaten. Daniel sagte: „Papa war am Telefon. Die Solaranlage wird diese Woche doch noch geliefert.“

„Fein!“ Ich freute mich für Daniel. Seit Wochen drehte sich in seiner Familie praktisch alles um die Solarwärme-Anlage für seine große Schwester Diana und ihren Mann Wolfi. Die beiden hatten letztes Jahr ein älteres Ferienhaus im Bayerischen Wald gekauft. Sonnenkollektoren und ein Warmwasserspeicher standen ganz oben auf ihrer Liste und meine Schwiegerfamilie wollte ihnen diesen Wunsch zu Dianas vierzigstem Geburtstag erfüllen. Daniel, der als gelernter Anlagenmechaniker am meisten davon verstand, hatte alles geplant und die Bauteile bestellt. Nächsten Samstag würden Familie und Freunde im Ferienhaus zusammenkommen und die Anlage montieren. „Dann könnt ihr sie am Wochenende wie geplant aufbauen“, sagte ich.

„Kommst du denn nicht mit?“

„Ihr braucht mich doch gar nicht, ihr seid ja schon so viele.“

Ich spürte ein unangenehmes Gefühl im Bauch und Daniels Gesichtsausdruck spiegelte mein Unbehagen. „Es geht doch nicht um die Arbeit. Es wird bestimmt schön, wenn alle abends am Lagerfeuer dabei sind: Diana, Wolfi und die Kinder; meine Eltern, Tante Anne, Onkel Edi, meine Cousins. Mit Stefans Freundin zum Beispiel hast du dich doch letztes Mal gut verstanden. Diana und die anderen wären traurig, wenn du nicht kommst.“ Seine Stimme hatte einen lockenden Tonfall angenommen, als wäre ich ein Kind, das er zu überreden versuchte, den leckeren Spinat doch wenigstens einmal zu probieren. Das gefiel mir nicht. Außerdem spürte ich den Hauch eines schlechten Gewissens. Auch wenn ich mich auf Familienfeiern unwohl fühlte, wollte ich niemanden enttäuschen.

„Ich habe schon mit ihr gesprochen. Sie fand es auch schade, aber sie versteht mich.“

„Ihr habt telefoniert?“ Er klang so, als glaubte er mir nicht, und das ärgerte mich. Trotzdem blieb ich ruhig.

„Wir haben neulich zusammen nach der Arbeit was getrunken, während du beim Mountainbiken warst. Das würde ich gern öfter machen. Schade, dass sie immer so eingespannt ist.“

Diana arbeitete im Reisebüro ihrer Eltern, ihre freie Zeit verbrachte sie meistmit ihrem Mann Wolfi und den Kindern. Emma war elf und Felix bereits dreizehn.

„Dann wäre es doch schön, wenn du mitkommen würdest.“

„Bei den vielen Gästen wird sie kaum Zeit für mich haben. Und ich weiß nie, was ich mit deinen Leuten reden soll. Außer uns sind doch alle in der Reisebranche.“

„Ja, und? Du musst ja nicht über Kanaltechnik reden.“

Das stimmte natürlich, aber Smalltalk war nun mal nicht meine Stärke. Und so blieb ich auf Familienfeiern meistens allein an einem Tisch zurück und hielt mich an einem Glas Wein oder einer Apfelschorle fest, während Daniel von einem Grüppchen zum anderen wanderte und munter plauderte. Warum konnte ich das nicht? Diana hatte mich von Anfang an herzlich aufgenommen und mich allen vorgestellt, doch sobald ich mit mehr als zwei oder drei Leuten zusammenstand, verstummte ich.

„Bist du gar nicht neugierig auf das Ferienhaus?“

„Doch, schon. Ich würde gerne den Garten sehen und wie die Solaranlage aufgebaut wird.“

„Na also. Du kannst mitarbeiten oder den ganzen Tag in der Hängematte liegen und lesen. Ganz wie du willst. Hauptsache, du bist dabei.“

Ich seufzte. „Na gut, ich komme mit. Ich weiß ja, wie wichtig dir das Familienwochenende ist. Und ich würde mich gern nützlich machen.“

Für Handlangerdienste in Haus und Küche brauchte man keinen Smalltalk zu können und da ich sowohl eine Bohrmaschine bedienen als auch einen Kochlöffel schwingen konnte, würde mir nicht langweilig werden. Daniel lächelte. „Fein, ich freue mich.“ Er stand auf und kam zu mir herüber. Er umarmte mich von hinten und küsste meinen Hals. Es kitzelte ein bisschen, da er sich seit Freitag nicht rasiert hatte. Ich mochte das. Dann sagte er: „Ich muss noch für ein paar Stunden in die Firma, ein paar Angebote bearbeiten.“

Seine Worte wirkten wie eine kalte Dusche. Der Sonntag war normalerweise nur für uns reserviert. Als wir noch ein Zwei-Personen-Betrieb für Rohrreinigung und -inspektion gewesen waren, hatten wir oft genug am Wochenende Notdienst gehabt. Inzwischen beschäftigten wir fünfundzwanzig Leute und arbeiteten nur noch in langfristig geplanten Projekten.

„Muss das ausgerechnet heute sein? Und warum fährst du dazu in die Firma? Du hast doch dein Laptop hier.“

„Ich brauche Unterlagen aus dem Büro. Bis Mittag bin ich zurück, dann machen wir es uns gemütlich“, sagte er, drückte kurz meine Schulter und ging. Enttäuscht sah ich ihm hinterher.

Ich fand es selbst absurd, aber kaum war die Haustür hinter Daniel ins Schloss gefallen, fühlte ich mich allein. Als hätte jemand ein Licht in mir ausgeknipst. Ich hörte, wie sein Auto aus dem Carport rollte und sich das Geräusch langsam entfernte. Dann war es still und ich verfiel in diese seltsame Stimmung, die mich in letzter Zeit häufiger überkam: Eine Mischung aus Traurigkeit, Angst und Überforderung. Ich zwang mich aufzustehen und den Tisch abzuräumen. Dabei überlegte ich, ob ich meine Freundin Judith anrufen und etwas mit ihr unternehmen sollte. Ich war schließlich nicht verpflichtet, auf Daniel zu warten. Doch dann beschloss ich, zurück in den Garten zu gehen und meine Hände in der Erde zu versenken. Und so verbrachte ich den Vormittag auf den Knien, schnitt Pflanzen zurück und rupfte Unkraut aus, was mich wie erwartet beruhigte. Mittags aß ich Salat auf der Terrasse, sah dem Tanz der Schmetterlinge zu und machte mir eine To-Do-Liste. Das Gras stand ziemlich hoch, zu hoch für den Rasenmäher. Schon lange wollte ich mir eine Sense kaufen und damit umgehen lernen. Mein Vater hatte damals versucht, es mir beizubringen. Doch da er mich jedes Mal anschrie, sobald ich einen Fehler machte, war mir schnell die Lust vergangen und ich hatte mich davor und vor vielen anderen Arbeiten auf unserem Nebenerwerbsbauernhof gedrückt. Zum Glück war ich nicht mehr auf ihn angewiesen. Erst kürzlich hatte ich im Bioladen einen Aushang gesehen, auf dem ein Sensen-Mähkurs angeboten wurde. Das Foto des Kursleiters zeigte einen feschen, jungen Bauern mit Dutt und freundlichem Gesicht. Meinen Vater hatte ich seit über zwanzig Jahren nicht gesehen. Vor einem halben Jahr war er gestorben, doch es machte kaum einen Unterschied für mein Leben, ob er noch da war oder nicht. So wenig Unterschied, dass ich nicht mal Daniel von seinem Tod erzählt hatte.

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Sabine Rädisch wurde 1973 in Deggendorf geboren. Dem Lauf der Donau folgend, studierte sie Bauingenieurwesen in Regensburg und ließ sich in Wien zur Schreibpädagogin ausbilden. Die Autorin lebt in Regensburg, leitet erfolgreich Kurse für kreatives und biografisches Schreiben und veröffentlichte bereits mehrere Bücher.