Sandra Hoffmann ist: DRINNEN (31). Als ob jemand Matisse und Picasso verinnerlicht hätte

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Alle Bilder (c) Sandra Hoffmann

Sandra Hoffmann arbeitet seit einem Studium der Literaturwissenschaft, Mediävistik und Italianistik (M.A.) als freie Schriftstellerin und lebt seit Ende 2012 in München. Bisher hat sie sieben Romane veröffentlicht. Sie schreibt Radiofeatures und Radioessays u.a. für den Bayerischen Rundfunk und v.a. Reisereportagen für DIE ZEIT. Auf dem Literaturportal Bayern veröffentlichte sie von 2021 bis 2022 die Kolumne DRAUSSEN. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. an der Universität Karlsruhe, dem Literaturhaus München und der Bayerischen Akademie des Schreibens sowie für Goethe-Institute im Ausland. Für ihren Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist (Hanser, 2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis, für ihren letzten Roman Paula (Hanser, 2019), der durch ein Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern gefördert wurde, den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für den eben erst erschienenen Roman Jetzt bist du da (Berlin Verlag, 2023) bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium. 2022 erhielt sie vom Freistaat Bayern das Arbeitsstipendium Neustart-Paket Freie Kunst.

In den kommenden 52 Wochen schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern wieder eine Kolumne: DRINNEN. Momentaufnahmen aus dem (halb)privaten Leben. Anders als Natur-Räume ermöglichen uns Innenräume, wenn es nicht gerade öffentliche Räume sind, nur einen privaten Blick. Wir sehen dort hinein, wo wir Einlass bekommen, oder wir uns den Einlass erkaufen, wie etwa in Museen, Zügen, Hotels. Es geht um Wahrnehmung. Diesmal aber von Orten, von Menschen, Begegnungen, Situationen. Immer mit der für Literatur relevanten Frage: Wie spiegelt sich im Kleinen oder im Privaten auch das große Ganze, die Welt. Wer sind wir im (anscheinend so) Geborgenen?

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31

Wenn ich in Räume schaue, frage ich mich immer, worin spiegelt sich für mich darin der Mensch? Sehe ich Wärme, Lebendigkeit, sehe ich ein Menschenleben oder viele, warum schaue ich in manche Räume so gerne hinein und andere halten meinen Blick nicht für eine einzige Minute fest?

Das hier ist der Küchenbereich einer griechischen Taverne. Wenn man dort isst, sitzt man draußen vor der Tür, und nur von wenigen Tischen aus, kann man in diesen Raum hineinsehen; der irgendwie viel mehr ist als der öffentliche Vorraum einer Kneipe. Er ist Museum und Lebensort und Erinnerungsort und erzählt, wie ich finde davon, dass jemand etwas gesammelt hat: Einflüsse, Eindrücke, Erfahrungen, und damit einen Raum ausgestattet, in dem er sich viel bewegt.

Und klar haben mich die Farben sofort gekriegt. Der Mut, eine offene Tavernen-Küche in solchen Farben zu streichen, und der gute Geschmack, der dazu geführt hat, dass es außergewöhnlich schön geworden ist. Als ob jemand Gemälde von Matisse und Picasso nicht nur gesehen hat, sondern sie auch noch verinnerlicht. Es ist eine Reminiszenz an die Malerei. Jedenfalls kommt mir das so vor. Und eine Öffnung zur Welt (draußen) hin.

An der linken Wand des Raums hängen Fotografien, wahrscheinlich ist darauf jener zu sehen, der diese Taverne gegründet hat: der Großvater, der allem Anschein nach in den 60er-Jahren nicht nur ein ansehnlicher Mann war, sondern auch ein früher Tiefseetaucher, oder jedenfalls ein echter Taucher. Und natürlich bin ich davon ausgegangen, dass es er war, auf den sich nun alles stützt, auch wenn er, wie zu vermuten ist, nicht mehr lebt. Aber er hat etwas hinterlassen, was größer war als dieser Raum, etwas, was von draußen nach drinnen kam: Farben, die Welt unter Wasser. Die Liebe zum Meer. Vielleicht auch die bunteste (Fisch-)Frittura, die ich je gesehen, gegessen habe.

Erstaunlich ist, dass es im selben Ort ein Café gibt, das früher bestimmt einmal ein traditionelles Kafenion war – aber der Besitzer, Jannis, interessiert sich so sehr für Menschen, dass dort alle sitzen: in aller Frühe die Männer ganz hinten an der Außenwand, aber dann kommen Frauen, Paare, Menschen mit und ohne Kinder hinzu, aus Frankreich, aus Italien, aus England und den USA, aus der Türkei, auch aus Deutschland wenige, und plötzlich ist dieses Café der kosmopolitischste Ort, den man sich auf einer kleinen griechischen Insel nur vorstellen kann. Und damit man das auch spürt, spricht Jannis das nötigste in allen Sprachen. Guten Morgen, Buona Notte, due Ouzo, ca fait cinque euro, und klar: How are you? – und so weiter. Von sich selbst sagt er, er sei mehr Psychologe als Kellner.

Und dann denke ich an Thüringen (ich kratze jetzt diese Kurve), wo vierunddreißig Prozent inzwischen die AFD wählen wollen, wo Björn Höcke Behinderten das Recht absprechen möchte, an Regelschulen, also inmitten unserer Gesellschaft zu leben, und das Volk von Welthaltigkeit bereinigen möchte. Ich denke dann, dass es eben gar nicht egal ist, wie früh, wie nah, wie unbeschwert wir mit dem Fremden in Kontakt kommen; damit wir begreifen, wir entwickeln uns nur, wenn wir uns öffnen, nach allen (guten) Seiten.

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