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„Die Beschaffenheit von Nähe“. Von Natascha Berglehner

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Bild von Narayan Krishna Shrestha auf Pixabay

Natascha Berglehner (*1982 in München) studierte Innenarchitektur und war zeitweise als Mitarbeiterin in Architekturkundezeitschriften tätig. Seit 2015 veröffentlicht sie Texte im Literatur-Magazin KRACHKULTUR. Ihr erster Roman Im Zimmer ist Winter erschien 2021 im Weissbooks Verlag, der übergreifend positive Kritiken erhielt und ein „beeindruckendes Debüt zum heiklen Thema Pädophilie“ liefert. Berglehner lote in ihrem Debütroman „die Grenzräume aus – auch in der Frage, wie soghaft man eigentlich über das Tabu verbotenen Begehrens schreiben darf“, so die Süddeutsche Zeitung. Aktuell arbeitet Natascha Berglehner an ihrem zweiten Roman.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Auszug aus ihrem aktuellen Roman beteiligt sich Natascha Berglehner an der Fortsetzung von „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge finden Sie HIER.

*

Die Beschaffenheit von Nähe

 

1.

 

Sie schienen uns hineinlocken zu wollen, und warteten unter dem Rundbogenportal eines gelbverputzten Baus, eine Rothaarige und eine mit teigigem Gesicht.

Ich folgte Kajas Reiserucksack, der über ihren Kopf hinausragte. Er hatte die Farbe von Senf. Ihre geknickten Arme wirkten wie Flügel, die sich an die Seiten ihres Oberkörpers schmiegten, während sie die Träger umklammerte. Ihre Beine waren die Beine des Gepäcks, sie waren die Beine der Last, die sie trug. Sie bewegten sich wiegend über den Splitt, der sich dann in den Rollen meines Koffers verfing.

Ich blieb stehen, da die Rothaarige zu zwinkern begann, was ihr einen schrägen Ausdruck verlieh. In der Mulde zwischen meinen Brüsten sammelte sich der Schweiß, und mein Atem war winterkalt.

Kaja setzte den Rucksack ab, als sie am Portal angekommen war, sie streckte sich hoch, um die Rothaarige zu umarmen – deren Finger sich über Kajas Rücken kraulten.

Das Metalltor hinter mir schloss sich mit einem Zittern. Ich zuckte. Kaja und die zwei Frauen schienen über mich zu reden wie über ein Projekt. Die mit dem teigigen Gesicht hielt die Hände vor dem Bauch verschränkt, der Stoff ihres grünen Saris hing ihr über den Unterarm.

Während ich einen Fuß vor den anderen hob, überlegte ich mir einen Gesichtsausdruck. Als ich vor ihnen stand, wollte ich die Rothaarige umarmen, doch sie trat zurück und verneigte sich so tief, dass ich ihr Hochkommen kaum abwarten konnte.

„Hallo“, sagte ich zum teigigen Gesicht. 

„Willkommen. Dana“, antwortete die Rothaarige und betrachtete mich lange. Ich spürte, wie meine Wangen warm wurden, während ich versuchte meine Züge unter Kontrolle zu bekommen.

„Na, du hast ja mal ‘n Pokerface“, stellte sie fest.

„Ich gebe mir Mühe“, murmelte ich. Die spröden Lippen des teigigen Gesichts begannen zu lächeln.

Wir folgten den Frauen über einen Flur in einen weiten und leeren Saal. Der Staub stand im schrägen Licht der Wintersonne, das durch die gegliederten Scheiben von links und von vorne drang und sich zur Mitte des Raums hin verflüchtigte. Die Schneckentreppe stand im Schatten. Ein Mann wartete am Aufstieg. Seine Finger lagen über dem gerundeten Handlauf. Wir bewegten uns auf ihn zu – zäh wie Taucher, die in die Tiefe eindrangen.

Ich rollte mein Gepäck über sechseckige Fliesen und umrundete zwei Holzstützen. Es roch nach Fremde, aber nicht nach frischer Hotelwäsche, sondern wie eine vergessene Reisetasche, aus der beim Öffnen ein unbekannter Geruch hochströmte.

Eine vollkommene Stille trat ein, als wir innehielten, auch das Rascheln unserer Kleidung, auch das Murmeln der zwei Frauen und das Rollen meines Koffers.

Dann drehte sich Kaja wie in Zeitlupe zu mir um, setzte ein schiefes Grinsen auf und streifte den Rucksack geräuschvoll ab. Die Rothaarige stellte sich mit verschränkten Armen dicht neben den Mann, während die Frau mit dem teigigen Gesicht von der Dunkelheit des dahinterliegenden Flurs aufgenommen wurde.

Der Mann trug einen gütigen Gesichtsausdruck und ein Leinenkleid, es ging ihm über die Knie. Er war barfuß.

„Willkommen!“ Der Raum antwortete hallend. „Ich freue mich besonders.“

„Hallo“, sagte ich und hörte mein Schlucken. Ich betrachtete Kajas Hinterhaupthaar, das sich spiralförmig zu einem lockeren Dutt drehte.

Kaja murmelte etwas. Der Mann trat näher. Er bewegte seine Lippen kaum, als er antwortete. Er legte die Hände auf ihren Schultern ab. Schließlich schauten sie sich lange an. Ich blinzelte.

Als der Mann vor mir stand, fragte er mich sanft, ob er mich berühren dürfe, was er nicht durfte und trotzdem tat, nämlich indem er seine Hände an meine Oberarmseiten presste. Er schloss die Augen. Dann führte er seine Handflächen vor der Brust zusammen.

„Finde dich in deiner Verletzlichkeit.“ Er verbeugte sich tief. „Namasté.“

Die Rothaarige lotste uns wenig später vom Treppenaustritt im oberen Geschoss zur gegenüberliegenden Tür.

„Das war er“, flüsterte Kaja mir zu, als wir ins Zimmer traten. Sie sagte es nicht feierlich, sie sagte es sachlich.

Der Geruch im Raum erinnerte an einen verlassenen Dachboden. Die Rothaarige meinte nur, dass sie sich auch sehr über uns freue. Sie guckte kurz verwirrt, drehte sich dann um und schloss die Tür von außen. Kaja steuerte den linken der zwei dunklen Bettkästen an, ich blickte auf den an der rechten Wand. Als ich mich bewegte, spürte ich die Übermüdung in meinem Körper lauern.

„Warum freut sich die Rothaarige über uns?“, fragte ich.

„Alle sind hier eben sehr nett. Wirst schon noch sehen.“ Kajas Wangen hoben sich zum Lächeln. Sie begann den Inhalt ihres Rucksacks Stück für Stück in einen Bauernschrank zu räumen, während sie das Wort Noel mit sich durch den Raum schob – offensiv, und nicht nur flüsternd wie die letzten Monate.

Ich wollte lieber über Menschen reden, die wir beide kannten und deshalb beide beurteilen konnten, völlig unvoreingenommen, was Kaja sehr wichtig war und mir nicht.

Ich sagte, Sonja sei derzeit besonders bedürftig, mit Gänsefüßchen in der Luft. Kaja presste ihren Mund zusammen, als würde sie so ihr Bedauern ausdrücken wollen. Ich saß auf ihrem Bett, weil Kaja mir vorgeschlagen hatte dort zu sitzen.

Kaja kannte Sonja nur von gelegentlichen Treffen wie meinen Geburtstagen. Da fiel ihr auf, dass ich meine Leute und sie nie zusammenbrachte. Wenn ich sie zusammenbringen wollte, wollte Kaja alleine mit mir sein. Was ich verstand.

Ich würde ihr natürlich nie die Gelegenheiten aufzählen, die sie nicht genutzt hatte, um meine Freunde kennenzulernen, vielleicht weil ich Harmonie liebte, wie andere behaupteten, die mich eigentlich nicht kannten. Oder weil ich die Exklusivität dieser Freundschaft wollte.

Die Exklusivität unserer Freundschaft sei nicht mehr exklusiv, behauptete Kaja vor kurzem. Leider. Denn seit ich mit meiner Familie umgezogen sei, entwickle sich diese Freundschaft zu einer entfernten Bekanntschaft, so Kaja. Probleme, wie ich meine Leute und sie zusammenbringen könnte, erübrigten sich.

Ich hatte plötzlich das drängende Gefühl, mich als Freundin beweisen zu müssen, während Kaja ihren Kopf aufs Kissen platzierte. Mich überkam die Angst, Kaja würde sich anderen Freundschaften zuwenden, bekäme sie erst die Gelegenheit dazu.

Ich kratzte über den beigen Überwurf ihrer Matratze. Er war an zwei sichtbaren Stellen löchrig und ich bohrte meinen Zeigefinger in eines der Löcher. Kajas Kissen schien so flach, dass ich nicht darauf schlafen könnte. Sie zog die Beine ran und zentrierte ihre Hände auf dem Bauch.

„Ich bin jedenfalls gespannt, was du nachher sagst.“ Sie lächelte die Holzdecke an. Die Astlöcher der schmalen Lattung zogen sich über die Fläche wie Insekten. Ich lehnte mich gegen die Mauer und betrachtete meinen Koffer, der mitten im Raum auf einem Perserteppich wartete, während die Kälte der Wand über meinen Rücken in mich hineinkroch. Kaja streckte die Beine übers Bett. Gleichzeitig rutschte ich bis zum äußersten Rand der Matratze. Sie hob den Kopf.

„Ich bin auch gespannt, wie du ihn findest.“

„Das wird schon“, sagte ich und bemerkte mein verkrampftes Gesicht.

Kaja setzte sich auf. Ihr offenes helles Haar stand zu beiden Seiten ab.

„Du hast dich verändert“, stellte sie fest.

„Seit ich Mutter bin?“, fragte ich und sie atmete tief ein.

„Es ist halt anstrengend. Ich weiß.“

„Wer sagt das?“ Meine Stimme hörte sich schrill an.

„Häh?“, antwortete sie.

„Ich genieße jeden Augenblick mit Jona.“

Sie betrachtete meine Augen. Und fasste nach meinem linken Handgelenk.

„Ja. Ich weiß das, Dana“, sagte sie leise.

„Aber“, sagte ich, „er ist bedürftig wie – Sonja.“ Kaja deutete ein Grinsen an. „Das ist total normal“, sagte ich. „Bei einem Kind.“

„Ja. klar“, sagte sie. „Noel meint, dass man sich von Energieräubern abgrenzen muss.“ Sie ließ mich los und strich sich mit den Fingerspitzen über ihr welliges Haar.

„Von wem redest du jetzt?“, fragte ich und sie schaute wissend. Ich drehte mich zu ihr und beugte mich vor. „Momentan hat Sonja was derart Manipulativ-Aggressives. In ihrer Art sich zu melden und dann wieder nicht.“ Kajas Augen wanderten über mein Gesicht. Sie schwieg. „Erinnerst du dich, als wir im Innenhof gegrillt haben? Im Sommer.“ Sie nickte. „Als sie plötzlich diesen Gesichtsausdruck bekommen hat?“

„Diesen Gesichtsausdruck?“

„Ja, sie hat immer so was Lauerndes in ihrem Gesicht, kurz bevor sie einem eine scheuert.“ Stille. „Ich meine das natürlich im übertragenen Sinn.“

„Najaaa.“ Kaja legte den Kopf schief und schielte hoch zu den Astlöchern. „Meinst du den Konflikt im Innenhof an deinem Geburtstag?“

„Ja.“

„Als du Annie gefragt hast, warum sie keine Kinder hat?“

„Ja.“

„Und dann war sie genervt.“

„Ja.“

„Wir alle waren genervt. Nicht nur Sonja. Auch Annie.“

„Die Männer haben sich irgendwann mit Jona auf den Spielplatz verzogen.“ Ich stand auf und stelzte durch den Raum. „Der Boden ist trotz Teppich total kalt.“

„Ist halt kein Neubau wie bei euch auf dem Land“, sagte Kaja. Ich spürte meine Schultern hart werden. „Gehen wir?“

Ich hob mein Handy vom Nachtkästchen neben meinem Bett.

„Zu früh“, sagte ich. Kaja drehte sich im Sitzen und stellte ihre Füße auf den Terrakottaboden, ihre großen Zehen berührten den Saum des Teppichs. Sie überlegte.

„Meintest du nicht mal, dass Sonja dich einengt?“

„Ja.“

„Na dann.“ Kaja scheuchte ihre Hände durch die Luft. Schließlich ging sie zur Tür.

„Sie ist halt meine kleine Schwester“, sagte ich ihr in den Rücken und sie wandte sich mir wieder zu. „Oder was meinst du?“

„Komm! Wir machen es uns schön.“

„Geh schon mal vor“, sagte ich. Und sie nickte verunsichert, und ging.

Von der Tür aus beobachtete ich, wie sie die Stufen der gewundenen Treppe rasch heruntertippelte, bis sie in der Biegung des Laufs verschwand, ohne sich ein einziges Mal umzublicken.