Sandra Hoffmann ist: DRINNEN (26). Und schaut ihrem Kaktus, der nicht der ihre ist, beim Wachsen zu
Sandra Hoffmann arbeitet seit einem Studium der Literaturwissenschaft, Mediävistik und Italianistik (M.A.) als freie Schriftstellerin und lebt seit Ende 2012 in München. Bisher hat sie sieben Romane veröffentlicht. Sie schreibt Radiofeatures und Radioessays u.a. für den Bayerischen Rundfunk und v.a. Reisereportagen für DIE ZEIT. Auf dem Literaturportal Bayern veröffentlichte sie von 2021 bis 2022 die Kolumne DRAUSSEN. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. an der Universität Karlsruhe, dem Literaturhaus München und der Bayerischen Akademie des Schreibens sowie für Goethe-Institute im Ausland. Für ihren Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist (Hanser, 2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis, für ihren letzten Roman Paula (Hanser, 2019), der durch ein Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern gefördert wurde, den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für den eben erst erschienenen Roman Jetzt bist du da (Berlin Verlag, 2023) bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium. 2022 erhielt sie vom Freistaat Bayern das Arbeitsstipendium Neustart-Paket Freie Kunst.
In den kommenden 52 Wochen schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern wieder eine Kolumne: DRINNEN. Momentaufnahmen aus dem (halb)privaten Leben. Anders als Natur-Räume ermöglichen uns Innenräume, wenn es nicht gerade öffentliche Räume sind, nur einen privaten Blick. Wir sehen dort hinein, wo wir Einlass bekommen, oder wir uns den Einlass erkaufen, wie etwa in Museen, Zügen, Hotels. Es geht um Wahrnehmung. Diesmal aber von Orten, von Menschen, Begegnungen, Situationen. Immer mit der für Literatur relevanten Frage: Wie spiegelt sich im Kleinen oder im Privaten auch das große Ganze, die Welt. Wer sind wir im (anscheinend so) Geborgenen?
*
26
Dieser Kaktus ist wenigstens so alt wie die Beziehung zu meinem Mann.
(Allerdings habe ich das Gefühl, dass Kaktus weniger gut gewachsen ist als unsere Beziehung.)
Gesehen habe ich Kaktus beim ersten Besuch in der Wohnung meines Mannes, da stand er sehr klein in seinem Originalplastiktöpfchen in der Küche auf einem kleinen sehr hübschen Kupferuntersetzer und mein Mann sagte, sein Sohn, damals zehn Jahre alt, habe ihm den vor ein paar Jahren geschenkt. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Kaktus noch kleiner war, als er damals war – und wahrscheinlich war er das auch nicht.
Seit mein Mann und ich zusammenwohnen, und das ist nun tatsächlich bereits seit gut zehn Jahren der Fall, hat Kaktus von mir immer ausreichend Wasser bekommen und häufiger auch eine kleine Dusche. Ich habe mich angestrengt, ihm Trockenperioden zu simulieren und solche mit hoher Feuchtigkeit. Was Kaktus anscheinend gut fand. Gewachsen ist er nicht, aber er hat jedes Jahr sehr üppig aus seinem Körper weiße Blüten getrieben, die ihn ziemlich schön schmückten.
Letzten Sommer, bevor wir die Wohnung für drei Wochen alleine ließen, stellte ich ihn auf den Balkon. Ich wollte, dass er von der Sonne beschienen wird und vom Sommerregen benetzt. Das hat dann aber nicht so gut funktioniert. Als wir zurückkamen lag Kaktus ziemlich trocken und aus dem Topf gefallen auf dem Fußboden des Balkons, und es war klar, es geht ihm sehr schlecht. Vermutlich hat eine der Stadttauben, die sich da wohlfühlen, wenn wir nicht da sind, ihn aus dem Topf gepickt. Weil ich ein sehr schlechtes Gewissen hatte, Kaktus ja nicht einmal meiner war, sondern noch immer der meines Mannes, und eben ein Geschenk vom einmal kleinen Sohn, kaufte ich für Kaktus frische Kakteenerde und einen neuen Topf. Ich pflanzte ihn wieder ein.
Die ersten Wochen geschah nicht viel. Aber dann plötzlich gewann er oben am Kopf die Farbe zurück, eine sehr grüne Farbe, und plötzlich gab es auch Stellen, die schauten so aus, als bewegte sich da unter der etwas ramponierten Kaktushaut etwas nach außen. Kaktus bekam kleine Beulen. Allerdings ging das sehr langsam.
Im Mai dieses Jahres schenkte mir mein Mann einen großen Kaktus. Für den kaufte ich sofort einen geeigneten Topf und dann stellte ich den großen und den kleinen Kaktus nebeneinander. Und als ob der kleine Kaktus sich am großen orientieren wollte, begann er plötzlich lauter kleine knubbelige Triebe zu schieben und somit zu wachsen, wie er nie zuvor gewachsen ist. Ich lobe ihn dafür natürlich immer. Und ich frage mich, ob das mit Beziehungen auch klappen könnte: wenn man eine nicht mehr so gut funktionierende Beziehung und eine sehr gut funktionierende Beziehung zusammentäte, würde dann die nicht mehr so gut funktionierende sich was abgucken können von der gut funktionierenden? Das wäre schön, wenn es so einfach ginge. Aber vielleicht ist das auch alles nur eine Frage der Deutung.
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Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.
Sandra Hoffmann ist: DRINNEN (26). Und schaut ihrem Kaktus, der nicht der ihre ist, beim Wachsen zu>
Sandra Hoffmann arbeitet seit einem Studium der Literaturwissenschaft, Mediävistik und Italianistik (M.A.) als freie Schriftstellerin und lebt seit Ende 2012 in München. Bisher hat sie sieben Romane veröffentlicht. Sie schreibt Radiofeatures und Radioessays u.a. für den Bayerischen Rundfunk und v.a. Reisereportagen für DIE ZEIT. Auf dem Literaturportal Bayern veröffentlichte sie von 2021 bis 2022 die Kolumne DRAUSSEN. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. an der Universität Karlsruhe, dem Literaturhaus München und der Bayerischen Akademie des Schreibens sowie für Goethe-Institute im Ausland. Für ihren Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist (Hanser, 2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis, für ihren letzten Roman Paula (Hanser, 2019), der durch ein Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern gefördert wurde, den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für den eben erst erschienenen Roman Jetzt bist du da (Berlin Verlag, 2023) bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium. 2022 erhielt sie vom Freistaat Bayern das Arbeitsstipendium Neustart-Paket Freie Kunst.
In den kommenden 52 Wochen schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern wieder eine Kolumne: DRINNEN. Momentaufnahmen aus dem (halb)privaten Leben. Anders als Natur-Räume ermöglichen uns Innenräume, wenn es nicht gerade öffentliche Räume sind, nur einen privaten Blick. Wir sehen dort hinein, wo wir Einlass bekommen, oder wir uns den Einlass erkaufen, wie etwa in Museen, Zügen, Hotels. Es geht um Wahrnehmung. Diesmal aber von Orten, von Menschen, Begegnungen, Situationen. Immer mit der für Literatur relevanten Frage: Wie spiegelt sich im Kleinen oder im Privaten auch das große Ganze, die Welt. Wer sind wir im (anscheinend so) Geborgenen?
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Dieser Kaktus ist wenigstens so alt wie die Beziehung zu meinem Mann.
(Allerdings habe ich das Gefühl, dass Kaktus weniger gut gewachsen ist als unsere Beziehung.)
Gesehen habe ich Kaktus beim ersten Besuch in der Wohnung meines Mannes, da stand er sehr klein in seinem Originalplastiktöpfchen in der Küche auf einem kleinen sehr hübschen Kupferuntersetzer und mein Mann sagte, sein Sohn, damals zehn Jahre alt, habe ihm den vor ein paar Jahren geschenkt. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Kaktus noch kleiner war, als er damals war – und wahrscheinlich war er das auch nicht.
Seit mein Mann und ich zusammenwohnen, und das ist nun tatsächlich bereits seit gut zehn Jahren der Fall, hat Kaktus von mir immer ausreichend Wasser bekommen und häufiger auch eine kleine Dusche. Ich habe mich angestrengt, ihm Trockenperioden zu simulieren und solche mit hoher Feuchtigkeit. Was Kaktus anscheinend gut fand. Gewachsen ist er nicht, aber er hat jedes Jahr sehr üppig aus seinem Körper weiße Blüten getrieben, die ihn ziemlich schön schmückten.
Letzten Sommer, bevor wir die Wohnung für drei Wochen alleine ließen, stellte ich ihn auf den Balkon. Ich wollte, dass er von der Sonne beschienen wird und vom Sommerregen benetzt. Das hat dann aber nicht so gut funktioniert. Als wir zurückkamen lag Kaktus ziemlich trocken und aus dem Topf gefallen auf dem Fußboden des Balkons, und es war klar, es geht ihm sehr schlecht. Vermutlich hat eine der Stadttauben, die sich da wohlfühlen, wenn wir nicht da sind, ihn aus dem Topf gepickt. Weil ich ein sehr schlechtes Gewissen hatte, Kaktus ja nicht einmal meiner war, sondern noch immer der meines Mannes, und eben ein Geschenk vom einmal kleinen Sohn, kaufte ich für Kaktus frische Kakteenerde und einen neuen Topf. Ich pflanzte ihn wieder ein.
Die ersten Wochen geschah nicht viel. Aber dann plötzlich gewann er oben am Kopf die Farbe zurück, eine sehr grüne Farbe, und plötzlich gab es auch Stellen, die schauten so aus, als bewegte sich da unter der etwas ramponierten Kaktushaut etwas nach außen. Kaktus bekam kleine Beulen. Allerdings ging das sehr langsam.
Im Mai dieses Jahres schenkte mir mein Mann einen großen Kaktus. Für den kaufte ich sofort einen geeigneten Topf und dann stellte ich den großen und den kleinen Kaktus nebeneinander. Und als ob der kleine Kaktus sich am großen orientieren wollte, begann er plötzlich lauter kleine knubbelige Triebe zu schieben und somit zu wachsen, wie er nie zuvor gewachsen ist. Ich lobe ihn dafür natürlich immer. Und ich frage mich, ob das mit Beziehungen auch klappen könnte: wenn man eine nicht mehr so gut funktionierende Beziehung und eine sehr gut funktionierende Beziehung zusammentäte, würde dann die nicht mehr so gut funktionierende sich was abgucken können von der gut funktionierenden? Das wäre schön, wenn es so einfach ginge. Aber vielleicht ist das auch alles nur eine Frage der Deutung.
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