Schullektüre und Junges Lesen (13). Von Leander Steinkopf

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Isabelle Lehn © Sascha Kokot

Die Corona-Krise hat das Sozialleben gerade junger Menschen stark beeinträchtigt. Darüber hinaus wurde ihre Schulbildung ins Digitale verlagert, wo manches auf der Strecke blieb. Gerade in sozialer Isolation kann Literatur eine Stütze sein, die einem hilft mit den Problemen des Lebens klarzukommen. Somit ist es ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Frage zu befassen, welche Literatur in der Jugend gebraucht wird – und was Schullektüre leisten könnte. Dazu soll diese Interviewreihe einen Beitrag leisten.

Im Interview: Isabelle Lehn (*1979) schreibt erzählende und essayistische Prosa. Sie studierte am Literaturinstitut Leipzig und wurde an der Uni Tübingen in Rhetorik promoviert. Ihr Roman Binde zwei Vögel zusammen erschien 2016 bei Eichborn, der Roman Frühlingserwachen 2019 bei S. Fischer. Für ihre schriftstellerische Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise und Stipendien.

Interviewer: Leander Steinkopf (*1985) lebt nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv seit einigen Jahren in München. Von ihm erschienen verschiedene Bücher, u.a. der Roman Stadt der Feen und Wünsche bei Hanser Berlin. Er ist Herausgeber der gerade bei Claassen erschienenen Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation.

Mit der folgenden neunteiligen Interviewreihe beteiligt sich Leander Steinkopf an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Wie kamst Du zum Schreiben?

Über das mündliche Erzählen, das in meiner Kindheit eine große Rolle gespielt hat. Meine Großmutter hat mir viel aus ihrer Vergangenheit erzählt und mein Vater improvisierte jeden Abend Abenteuergeschichten, die er meinem Bruder und mir zum Einschlafen erzählte. Bevor ich in die Schule kam, habe ich viele Stunden damit verbracht, meine Märchenschallplatten auf Kassette nachzuerzählen. Als ich endlich lesen und schreiben konnte, wollte ich das erste selbstgelesene Buch abschreiben. Mein Vater sollte mir helfen, die lose beschriebenen Seiten zu einem Buch zu binden – so mein Plan. Er fand die Idee allerdings seltsam und schlug vor, ich sollte doch lieber etwas Eigenes schreiben. Aber was sollte das sein, etwas „Eigenes“? Mein erster Versuch gefiel mir dann auch gar nicht – ein paar kurzen Geschichten auf drei Seiten Druckerpapier, die ich zum A6 Format gefaltet hatte. Danach schrieb ich lange Zeit nichts mehr, obwohl der Schreibwunsch bestehen blieb. Erst als ich in der Oberstufe einen ersten Schreibkurs besuchte, versuchte ich es wieder. Es gab einen Abgabetermin und eine Aufgabenstellung, die mir ein paar Entscheidungen abnahm und den Einstieg erleichterte. Rückblickend erscheint mir die Idee, erst einmal etwas abzuschreiben, um dann zu etwas Eigenem zu kommen, übrigens gar nicht mehr so absurd. Man lernt schließlich viel, indem man kopiert, was man gerne gelesen hat.

Wann und wodurch entstand Dein Interesse für Literatur?

Mein erstes Lieblingsbuch war meine Kinderbibel, weil die Geschichten darin voller Abgründe waren. Meine Mutter sollte mir immer daraus vorlesen, vor allem aus dem Alten Testament, weil es darin Mord und Totschlag gab, Verrat oder Figuren wie meine Namensvetterin, die böse Königin Isebel, die aus dem Fenster gestoßen wurde. Als ich dann selbst lesen konnte, las ich vor allem die Kinder- und Jugendbücher von Enid Blyton oder Christine Nöstlinger. Nöstlingers „Gretchen Sackmeier“-Reihe habe ich geliebt.

Was kann Literatur, was Serien und Filme nicht können?

Literatur kann mir als Leserin mein eigenes gedankliches Tempo lassen. Sie kann auf andere Weise von Innenwelten, Gedanken und Gefühlen erzählen. Vor allem aber steht bei Literatur für mich die Sprache im Vordergrund. Literatur kann eine ganze Welt und eine völlig eigene Ästhetik, einen eigenen Klang nur aus Sprache erschaffen, nichts als schwarze Buchstaben auf weißem Papier. Das ist einzigartig. Alles andere muss von mir kommen, hinzugedacht werden, mit- und nachempfunden. Literatur bezieht mich also ganz anders ein als beispielsweise ein Film. Wenn es gelingt, in einem Buch oder auch im Schreiben eines Textes völlig aufzugehen, darin zu versinken und verschwinden zu können, ist das der schönste Zustand für mich.

Hast Du als Schülerin gern gelesen?

Ja. Ich habe Bücher für Kinder und Jugendliche verschlungen, mich mit dem Schritt zur „Erwachsenenliteratur“ aber schwer getan. Ich hatte zwar einen Ausweis für die Stadtbibliothek in Bad Godesberg, wusste aber nicht, wie ich mich darin orientieren sollte. Wie benutzt man eine Bibliothek und findet das Richtige in einer unüberschaubaren Vielzahl an Büchern? Diese Frage hat mich ebenso überfordert wie die absolute Freiheit des weißen Blattes beim Schreiben: Es gab zu viele Möglichkeiten. Lieber zog ich Bücher aus dem überschaubaren Bücherregal meiner Eltern. Erst nach meiner Schulzeit habe ich ein Bewusstsein dafür entwickelt, welche Bücher ich lesen will und wo ich sie finde. Bis dahin war meine Lektüre eher wahllos und manchmal nicht sehr befriedigend.

Hat Dir Schullektüre im Leben weitergeholfen?

Nicht wirklich. Ich habe sie eher als widerständig erlebt und den Eindruck gehabt, dass sie mir nicht viel zu sagen hat. Bis heute lese ich lieber zeitgenössische Literatur und Werke der literarischen Moderne, zumal meine Lieblingsbücher fast allesamt von Autorinnen geschrieben wurden, die im Schullektürekanon nicht repräsentiert sind. Keines der Bücher, die mir heute etwas bedeuten oder etwas in mir verändert haben, kenne ich noch aus Schulzeiten. Ich habe erst später gelernt, dass Literatur etwas mit mir, meiner Zeit und meiner Erfahrungswelt zu tun haben kann oder ein Spiel mit sprachlichen Formen ist, das mir Freude bereitet. Wenn ich heute Schreibworkshops leite, ist es oft eine meiner ersten Aufgaben, jungen Autor*innen zu vermitteln, dass sie spielerisch sein dürfen und in ihrer eigenen Stimme schreiben können, über die Themen, die für sie selbst relevant sind, anstatt die Stimmen literarischer Klassiker zu kopieren, die sie in der Schule als „ernstzunehmende Literatur“ kennengelernt haben. Was wir als literarischen Maßstab wahrnehmen, ist natürlich abhängig vom historischen Kontext. Wer heute schreibt, braucht Vergleichspunkte aus der Gegenwartsliteratur und muss aktuelle Schreibweisen kennen. Dazu verhilft die Schullektüre jedoch nur in wenigen Fällen.

Gab es ein Buch, welches Du in der Schulzeit gelesen hast, das Dich in besonderer Weise geprägt hat?

Richtig begeistern konnte ich mich für Shakespeare. Ich mochte seinen Humor, seine Sprachspiele, die puns. Allerdings hatte ich auch einen tollen Englischlehrer, der uns seine Verehrung für das Elisabethanische Zeitalter und dessen Literatur eindrücklich weitergegeben hat. Ich hätte in meiner Schulzeit gern mehr deutsche Nachkriegsliteratur und vor allem mehr Literatur von Frauen gelesen, die auch als solche – Literatur – wahrgenommen wird. Aus dem heimischen Bücherregal, in dem überwiegend Sachbücher und Reportagen standen, hat mich mit 16 vor allem Günter Wallraffs Ganz Unten beeindruckt, seine verdeckte Recherche als vermeintlicher Gastarbeiter „Ali Levent“. Damals wollte ich noch Journalistin werden und investigativ gegen das Unrecht der Welt kämpfen.

Wenn Du Deutschlehrerin wärst, welches Buch würdest Du Deine Schüler lesen lassen? Und warum?

Ich würde sie Anke Stellings Schäfchen im Trockenen lesen lassen. In diesem Roman schreibt die Erzählerin Resi einen Erfahrungsbericht an ihre Teenagertochter Bea, um das Trugbild der Chancengleichheit auseinanderzunehmen. Es ist ein schonungsloser, wütender Blick auf das eigene Leben als Frau in einer vermeintlich linksliberalen Gesellschaft – und wie dieses Leben (allen Erwartungen ihrer Muttergeneration zum Trotz, die sich für die Töchter etwas Besseres vorstellte) noch immer von Geschlechterrollen- und Klassengrenzen bestimmt ist.

Warst Du eine gute Schülerin?

Ja. Ich war nicht besonders ehrgeizig, aber Schule hat mir Spaß gemacht. Lernen macht mir immer noch Spaß. Nicht umsonst habe ich zwei Studienabschlüsse samt Promotion und bin heute oft als Dozentin in Schreibworkshops tätig: Ich erfahre gern Neues, was mir auch die Recherche zu meinen Büchern erlaubt, und ich mag es, mich mit anderen über das Schreiben auszutauschen. Auf diese Weise lerne ich noch immer dazu.

Welches Buch würdest Du heute Deinem jugendlichen Ich empfehlen?

Richard Yates: Zeiten des Aufruhrs (Original: Revolutionary Road). Das Leiden am Durchschnittsleben in der Enge der Vorstadt, die Tragik der eigenen Bedeutungslosigkeit, die Frank und April Wheeler empfinden, und ihr verzweifelter Versuch, daraus auszubrechen, hätten mein jugendliches Ich sicher gekriegt.

Wurde in Deiner Familie viel gelesen?

Regelmäßig, aber nicht viel. Es gab im heimatlichen Bücherregal die Schullektüre meiner Mutter – oft noch identisch mit meiner – und die Sachbücher meines Vaters, die meist politische und/oder historische Themen behandelten. Dazwischen ein paar belletristische Bestseller, Readers Digest, Nachschlagewerke und Ratgeberliteratur sowie sämtliche Hobbythek-Bände von Jean Pütz.

Was war die frustrierendste Unterrichtslektüre Deiner Schulzeit?

Daran kann ich mich nicht erinnern. Die langwierigste war auf jeden Fall Die Buddenbrooks, aber das gefiel mir ganz gut. De bello Gallico war frustrierend. Das lag aber wohl hauptsächlich an meinem schlechten Latein.

Was war die schönste Unterrichtslektüre Deiner Schulzeit?

Shakespeares Romeo and Juliet.

Hat Dir Literatur im Leben weitergeholfen?

Die Schullektüre hat mich eher daran zweifeln lassen, dass Literatur etwas mit meinem Leben zu tun hat. Vielmehr hat sie mir ein abschreckendes Bild von „Literatur“ vermittelt, von dem ich dachte, dass es wenig mit meinen Erfahrungen, meiner Perspektive und meiner Sprache zu tun hat. Bücher, die mich verändert, getröstet, begeistert, bewegt und zum Nachdenken gebracht haben, kamen erst später. Dass ich sie gefunden habe und mit ihnen an die Lesebegeisterung meiner Kindheit anknüpfen konnte, war ein Glück. Literatur vermittelt mir ein Gefühl von Aufgehobenheit und Freiheit – völlig unabhängig davon, wo ich mich befinde. Wenn ich lese und schreibe, kann ich mich konzentrieren und zurückziehen, gleichzeitig aber mit der Welt in Kontakt treten. Ich kann mir Zeit für Betrachtungen nehmen, etwas herausfinden, verstehen lernen und mit einfachsten Mitteln schöpferisch werden. Das erlaubt es mir, mich vollständig und sinnhaft zu fühlen. Würde Literatur, die ich schreibe und lese, nicht diese Bedeutung für mich haben, hätte ich sie nicht zur Hauptsache meines Lebens gemacht.

Isabelle, danke Dir für das Interview!

 

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