„Sensommar' 19 auf Tape“. Von Vasyl Lozynskyj

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Ukrainische Titelgrafik von "Sensommar' 19 auf Tape"

Vasyl Lozynskyj, 1982 geboren in Lwiw (Lemberg), ukrainische SSR, ist Lyriker, Übersetzer, Essayist und Kurator. 2010 erhielt er den Smoloskyp-Literatur-Preis für den Gedichtband Свято після дебошу (2014), der 2016 in deutscher Übersetzung u.d.T. Das Fest nach dem Untergang erschienen ist. Lozynskyj überträgt zeitgenössische Lyrik und Prosa aus dem Polnischen, Deutschen und Englischen in die ukrainische Sprache. Auch für das ukrainisch-deutsche Autorennetzwerk Eine Brücke aus Papier ist er als Übersetzer tätig. Seit 2008 wirkt er als Redakteur der Literatur- und Kunstzeitschrift prostory (Räume), von 2017 bis 2021 insbesondere als Redakteur der Rubrik Luftbrücke. Außerdem ist er Mitglied der Kuratorenvereinigung Hudrada (Kunstrat).

Mit den folgenden acht unveröffentlichten Gedichten beteiligt sich Vasyl Lozynskyj an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Sensommar' 19 auf Tape

 

einst …

 

unentwickelter film, leere
ladung, wie eine batterie in
versform, die aufzeichnung
gleich als entwicklung,
sendung oder direktive
an medien, der akt der fotografie.
wie die gruppe da in gleichen
uniformen, athletinnen
oder soldaten auf kübelwagen,
in beiden fällen ihre
beziehung zur welt über
ein selfie: und da hätten wir sie dann,
wie auf der arche noah, das set
durch nichts vorhergesagt,
erheben doch verse keinen anspruch
auf genauigkeit, ebensowenig wie stimmengewirr
auf noten; aber gib dem ganzen
noch 40-50 jahre und man wird
keine batterien mehr brauchen, als selbstgenügsame
und selbstreproduzierende organismen
werden wir aufnahmen machen,
wenn etwas aufscheint
am horizont, ohne der elektrizität
zu bedürfen, oder der erhellung,
was sie zeigen und wo
sie gemacht sind.

 

Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten

 

 

Schreibblockade

 

Anstatt zu schreiben, räumst du auf,
kochst und liest, schreibst Mails.
Anstatt zu schreiben, gehst du ins Café und
liest dort oder gehst spazieren im Park
und triffst Freunde und plauderst.
Anstatt Gedichte zu schreiben, isst du
Nachtisch, holst dir eilig einen Kaffee.
Anstatt zu lesen, gibst du Bücher zurück,
dann kommt die Elternzeit, du kommst aus dem Tritt,
du lebst einfach mal Alltag,
ohne per se den Fluss der Dinge
stören zu wollen, du diskutierst und
diskutierst noch mehr anstatt Gedichte
zu schreiben. Die Zeit vergeht und du hast
immer noch nichts geschrieben, was du lesen willst türmt sich
schon in Stapeln, aufgeschlagen an den Stellen,
wo du stehen geblieben bist, Bücher mit anderen Büchern
als Lesezeichen, ihre Länge
musst du schon bald in Kilometern messen.
Wo du früher wider Willen geschrieben hast
da schreibst du jetzt nur für dich,
doch kommen dabei noch immer nicht genug Zeichen heraus.
Dann verlässt du nicht mehr das Haus,
verreist nicht mehr, um zu schreiben,
der Schreibtisch das allerzentralste Objekt
aber das hat alles nichts mit dem Subjekt
des Schreibens zu tun und seiner gefühlten Einsamkeit.
Dann kommen die Feiertage, du bunkerst dich ein
in deinem Bücherdepot, wie in einem Luftschutzkeller.
Du schreibst dann, statt zu essen,
statt einkaufen zu gehen und aller möglicher
anderer wichtiger Sachen, anschließend liest du dir
alles durch und willst es nicht mehr korrigieren:
So soll es sein! Schreibst du Gedichte? Schreib!

 

Aus dem Ukrainischen vom Autor und Beatrix Kersten

 

_

 

ohne gepäck und proviant zu wandern
warst du von kindheit an nicht gewöhnt,
wohin hast du dieses ding gelegt,
wohin willst du es bringen? die tasche
ist gepackt, auch etwas von dir
ist drin. vom land in die stadt,
oder zurück aufs dorf, aus der stadt
in die natur. müdigkeit vom reisen
und auspacken der taschen.
aber unweit liegt die grenze:
bei den nachbarn sind gäste aus dem ausland und sie verkaufen stückweise
verheißungsvolle und prestigeträchtige ware.
in die andere richtung schafft man zumindest noch
schnaps und was es sonst gerade gab
in der wüste der mangelware. das lehrte dir
das reisen, nicht aber
die achtung vorm geschäftemachen.
es lehrte dir noch eine sprache
zu können und wie in der
familie: umzupacken,
terminkalender abzugleichen, zu warten,
und vor allem die euphorie
beim nachrichtenschreiben,
doch um kelim (russ. : „kawjor“) nicht mit kaviar
zu verwechseln hat es uns an wissen nie gefehlt.

 

Aus dem Ukrainischen vom Autor und Beatrix Kersten

 

 

NON PRIORITY BOARDING

 

I

„KEEP ON ME YOUR RUSSIAN EYE,
aber so, dass ich dich hören kann” –
Babynahrung und ein metallener
Löffel sind immer praktisch,
Kaureflex auf dem Weg
zum Hauptbahnhof und nicht zu faul, um
ein bisschen zu spionieren: das so genannte
Telefon als Diktafon, mantraartiges
Murmeln, aber auch Texttippen
von der anderen Seite der Wand: tantrischer
Sex, An- und Entspannung,
kein Herumfahren im Halbschlaf
träumerisch im Transport …
Aber Spionage ist auch
nicht das Wahre. Vielleicht der misslungene
Versuch eines Romans im Entstehen,
Feldstudien in der Trambahn,
Kinderessen „zum Mitnehmen”. Mitschreiben
von Live-Monologen über
russische Spione und das Museum des kalten
Kriegs: und die Geschichte muss sich erneut
wiederholen. Auf meiner Flickentasche
der Slogan: BACK TO BOOK!
Ich kehre zurück ins Buch.

 

II

Doch das Land schläft, in Waggons,
manchmal ist es draußen dunkel, dabei
ist Frühling und aus dem Winterschlaf
erwacht jeder, doch noch ist
nicht die Zeit, kommt auf den Kalender an,
die Glaubenszugehörigkeit, die Ernährung,
den örtlichen Provider,
die Bequemlichkeit, das Wählerverzeichnis,
lass mal! „Wag es nicht!”, darum kommst du nicht
auf einen besseren Buchtitel.
„Lwiw ist Ukraine”, hinter dir hast du 
die Berliner Mauer, noch in Sichtweite
wird die mexikanische erbaut,
Ausnahmezustand en miniature
und ein Einreiseverbot
für Russen per E-Mail. Neue Institutionen
– mehr Korruption.
Der Zug ist ein Transformer als Schlaf-
wagen oder europäisch mit Sitzplätzen im Abteil.
Weiter als sein Land sieht er nicht,
unser Landsmann, voraus ist da
ein unverständliches Zeichen!

 

III

Es ist doch klar: Das, was ich hier [in Venedig] geschrieben habe,
hat womöglich etwas ausgelöscht, was ich in Berlin hätte schreiben können.
                                                                                           Ron Winkler

 

Schon ein ganzes Jahrzehnt lässt es sich
nicht schreiben in dieser Stadt, darüber kann ich erst jetzt
sprechen, es ging darum, von hier fortzukommen
um aufzuschreiben, was gelungen ist
in den vorangegangenen Jahren auf all den gemachten
wie den noch nicht angetretenen Reisen und Fahrten.
Das Ziel – überall arbeiten, die Welt als Realität
zu begreifen, die Route dahin festlegen und
UBER vergessen, vielleicht eine Arbeitsprobe
im nächsten Beruf, in einem Beruf
der Zukunft, die Zustelladresse
als Kurier erreichen, auf Bestellung
liefern unter Umgehung aller sozialen
Netzwerke, blind ins Ziel treffen,
dabei den Sonnenuntergang verfolgen, und
den Widerschein des Lichts auf den Lidern sehen,
den Sprenkel im eigenen Auge, Ruhe aus der Ferne
wie ein Signal, welches das Licht trägt, es für einen Augenblick
empfangen.

 

Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten

 

 

UKRAINSK SENSOMMAR

Ukrainischer Spätsommer

 

schon bald einen monat in der Ukraine
und ich fahre nach Lwiw, die außentemperatur
noch über 20 °C, es wird dunkel.
das verpackte archiv habe ich
übergeben zu treuen händen, die sammlung
versandtaschen von schriftstellern
wiederverwendet,
um mir bücher zu schicken.
manuskripte und alles an
ausdrucken selbiger
texte, um sie laut vorzulesen.
ephemere literatur, fortan –
nicht mein weg, es geht ohne verlag,
die kaltblütigkeit von papier und
irgendjemandes rote bücher,
für niemanden märchen,
da für geheimgesellschaften herausgegeben …
am horizont der sonnenuntergang
dunkle landschaft und der westen
Europas, schon am anderen ufer des Zbrutsch,
die grenze, die Polen
so viel gekostet hat.
ob wohl jemand kommt und fragt,
ob ich ein gedicht schreibe
im Intercity Express?
ausgelesene bücher
muss man weiterreichen.
im spiegelbild
das licht des wissens, bloß nicht schaden,
aber speise ist das für wenige.
verachtung für geld,
noch unbemerkt.
aufgenommene stimme
im internet und auf kassette
und noch früher – im selbstverlag.

 

Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten

 

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seltsamer zufall im land des nordens
gemütlichkeit im schwimmbecken mit DVD-boxen
und scharenweise süßigkeiten, lakritz, karamell
und der geschmack nach etwas, das von einem getränk
in eine zähe, kaubare form übergeht und wieder zurück
zur durchsichtigen brause. die abhängigkeit fiel dir auf
und du verfielst der verheißung.
dir hat der Lorbeer im Linneanum gestanden
alles darum herum war angeordnet wie eine galaxie,
aber wir bleiben weiter nomaden.
wir zaubern aus dem koffer tee hervor,
oder was man sonst noch bräuchte an kram, bücher 
in gold aufgewogen. im café am gleis
fotografierten wir backwaren
und beobachteten pendelzüge
mit seltenen graffitis. eine schranke
riegelt die Straße ab und ein alarmton erklingt.
hier wurden die zimtbrötchen erfunden –
erklärst du. ich bekomme eins aus
dem heißluftofen. das tageslicht schwindet,
die laternen in den auslagen sind neu gestaltet.
„fika” und mittagessen sind schon vorbei und
es wird zeit, dass die kleinen schätze austauschen.
der spielzeugzug fährt vorbei
und der verkehr kommt wieder auf.
und wir zwei sind besser als wir zuvor waren,
noch beißen keine frostigen temperaturen.

                                   September 2019, Uppsala

 

Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten