Info
24.05.2023, 08:00 Uhr
Rahel Bacher
Literarische Schätze der BSB
images/lpbblogs/redaktion/2023/klein/ana-002889_164.jpg
Michelangelo Buonarroti: "Giorno" (= Der Tag), Plastik (BSB/Sign. Ana. 372, Sch. 11, 51)

Briefe aus Bayern (1): Ilse Schneider-Lengyel an das Bayerische Landesentschädigungsamt

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/redaktion/2023/klein/ana-004199_500.jpg
Im Gebirge: László Lengyel und Ilse Schneider-Lengyel (BSB/Sign. Ana. 372, Sch. 9, 40)

Die neue Rubrik „Briefe aus Bayern“ widmet sich den Briefen, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Bayern versendet haben und die sich heute im Nachlassbestand der Bayerischen Staatsbibliothek befinden. Dabei sollen vor allem unveröffentlichte Briefe besonders aus dem 19. und 20. Jahrhundert erstmals vorgestellt und der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Der Inhalt des Briefes, der eine interessante Episode aus dem Leben der Autorin/des Autors zum Gegenstand hat, dient dabei als Aufhänger, um auch allgemeiner über die Person, ihr Leben und ihr Werk zu informieren.

*

Ilse Maria Schneider kam 1903 als erstes Kind des Oberforstmeisters Dr. Felix Schneider und seiner Frau Anne, geb. von Koch, in München zur Welt. Ihr Großvater erwarb 1905 den Bannwaldsee bei Füssen, den die Familie regelmäßig aufsuchte und den Ilse 1948 erben und 1958 unter Vereinbarung eines lebenslangen Wohnrechts im Haus am See veräußern sollte. Nach der Gymnasialzeit an einem Augsburger Internat studierte sie Kunstgeschichte und Ethnologie in München und Berlin und besuchte die Académie de la Grande Chaumière in Paris. Außerdem absolvierte sie eine Ausbildung zur Fotografin beim Lette Verein Berlin. Als ihren Lehrer im Bereich Fotografie nannte sie László Moholy-Nagy, der dem Bauhaus angehörte.

Ilse Schneider-Lengyel gehörte zur ersten Generation Frauen, welche die Akademien und Universitäten besuchten und anschließend reüssierten. 1933 eröffnete sie ein eigenes Studio für Gebrauchsgraphik in München. Anfang 1934 erschien ihr Buch Die Welt der Maske im Piper Verlag. Der Band präsentiert 80 Fotografien von Masken aus unterschiedlichen Kulturen und Zeiten, die Schneider-Lengyel in Völkerkundemuseen und privaten Sammlungen aufgenommen hatte. Sie wählte für ihre Aufnahmen meist gezielt einen ungewöhnlichen Blickwinkel und schnitt die Gesichter an. Die Welt der Maske war ein großer Erfolg, die Rezensionen positiv, das Buch erschien in mehreren Auflagen. Anschließend veröffentlichte Schneider-Lengyel ein bis drei weitere großformatige Bildbände pro Jahr, welche ihre individuellen und innovativen Fotografien von Plastiken ins Zentrum rücken. 1937 wurde ihr der „Grand Prix“ im Bereich Porträt-Fotografie auf der „15e Exposition de la Photo et du Cinéma“ in Paris verliehen. Für die Produktion der Bildbände unternahm Schneider-Lengyel weite Reisen, zuerst in Europa, später bis nach Syrien und in den Irak. Insgesamt produzierte sie 17 Bildbände. Die Höhe der Auflagen und Neuauflagen betrug ca. 150.000 Exemplare.

Ilse Schneider-Lengyel an das Bayerische Landentschädigungsamt, Bannwaldsee 26.04.1958, Bayerische Staatsbibliothek, Ana 372, Schachtel 9, Biographisches

Ihrem Buch Die Welt der Maske stellte Schneider-Lengyel die Widmung „MEINEM MANNE“ voran. 1933 hatte sie den Künstler und Architekten László Lengyel (1896-1967) geheiratet, der ebenfalls im Umfeld des Bauhauses arbeitete. Da László aus einer ungarisch-jüdischen Familie stammte, sah sich das Paar 1934 zur Emigration gezwungen. In einem Schreiben im Nachlass an das Bayerische Landesentschädigungsamt vom 26.4.1958 schildert Ilse Schneider-Lengyel diese Zeit: „Mit den erlittenen zwölf Jahren der immerwährenden Verfolgung und Todesdrohung und dem Verlust unserer Familienangehörigen, war für mich die Leidenszeit keineswegs vorbei. Weder mein geschiedener Mann noch ich konnten uns je davon erholen. Auch er versuchte die Rückwanderung wie viele der Übriggebliebenen – und ging zurück nach Paris.“ Auf dem im Nachlass folgenden Blatt ohne Datierung schreibt sie: „Die Mehrzahl meiner Verwandten aus der Familie meines Mannes sind in die Konzentrationslager gekommen und wir haben nur einen kleinen Teil aus seiner grossen Familie behalten dürfen. Ein Teil von ihnen lebte in Deutschland. Wir, mein Mann und ich konnten uns ebensowenig wie die anderen mehr hier halten, da der Namen LENGYEL als jüdisch bekannt war, da der bekannte ungarische Theaterschriftsteller so hieß. Es blieb uns nur die schnelle Auswanderung. Wir verliessen Deutschland im Jahr 1934 u. versuchten in Ungarn u. Rumänien bei den Verwandten meines Mannes Fuss zu fassen. Verdienst für mich war durch die Sprachschwierigkeiten nicht möglich. Anschließend wanderten wir im August 1934 mit meinem Schwager Kalman LENGYEL zu dritt nach Frankreich aus. In Paris konnte mein Mann keine Arbeitserlaubnis und keine Aufträge als Ausländer erhalten. Meine Karriere war zerstört als Kunsthistorikerin, ich konnte sie in Dtschl. auch nach 1948 nicht mehr herstellen. Folglich wurde ich nie Teilhaberin des ,Deutschen Wirtschaftswunders‘, vielmehr seine Leidtragende.“

Es ist bemerkenswert, wie erfolgreich Ilse Schneider-Lengyel ihr künstlerisches Schaffen in Paris fortsetzen konnte. Sie publizierte weiterhin und eröffnete ein neues Studio. Nach der Okkupation Frankreichs 1940 veröffentlichte sie in London. Das Exil führte jedoch langfristig zu einem tiefgreifenden Bruch in ihrem Leben und bedingte wohl mit die 1953 vollzogene Scheidung von ihrem Mann László.

In einem Brief im Nachlass an den Agis-Verlag von 1956 gibt Schneider-Lengyel an, dass sie seit 1932 schreibe, seit 1942 auch literarisch. Vermutlich war auch die Hinwendung zur Schriftstellerei durch die politischen Umstände und die erschwerten Bedingungen ihrer fotografischen Arbeit veranlasst. In die deutsche Literaturgeschichte eingegangen ist Ilse Schneider-Lengyel über Jahrzehnte vorwiegend als Gastgeberin des Gründungstreffens der Gruppe 47 am 6./7. September 1947 am Bannwaldsee, was aber zu kurz greift. Tatsächlich zeichnete sie als ständige Mitarbeiterin der Zeitschrift Der Ruf, aus welcher die Gruppe hervorging, und war von 1947 bis 1950, als die Treffen der Gruppe noch halbjährlich stattfanden, die einzige Schriftstellerin im engeren Kreis. 1952 veröffentlichte sie den Gedichtband september-phase in Alfred Anderschs Reihe „studio frankfurt“. Im Gegensatz zu anderen zunächst noch unbekannten Autorinnen und Autoren, die ebenfalls von Andersch aufgenommen wurden und sich anschließend durchsetzen konnten, gelang es Schneider-Lengyel nicht, sich im Nachkriegsdeutschland als Schriftstellerin zu etablieren. 1969 wurde Ilse Schneider-Lengyel in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Reichenau eingeliefert, wo sie vier Jahre später starb.