„Wasserzeichen“. Von Elvira Steppacher
Elvira Steppacher (* 1963 in Münster-Hiltrup) promovierte in Literaturwissenschaft und fand 2019 durch ein Seminar der Bayerischen Akademie des Schreibens zum Nature Writing. Ihr Prosadebüt Von Fall zu Fall. Ein Stundenheft (Braumüller Verlag, 2022) gewann den internationalen Literaturpreis „Gesund schreiben 2021“ der Wiener Ärztekammer. Elvira Steppacher schreibt darüber hinaus Lyrik, literaturkritische und -wissenschaftliche Aufsätze sowie Essays. Sie lebt heute als freie Autorin in München.
Mit der folgenden Erzählung beteiligt sich Elvira Steppacher an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Audio zum Text:
Beeil dich, Liebes. Wir sind die letzten. Melle hörte Mikas Rufe näherkommen. Na komm, komm, mein Söhnchen, komm zu mir. Wie lange habe ich auf diesen Tag gewartet. Ich bin so stolz auf dich. Mika trat neben Melle, schaute zum Bündel auf dem Wickeltisch und strahlte in pfirsichsteinschwarze Augen. Sanft tastete Mikas Rechte zum Bauch des Säuglings, die Linke berührte Melles Taille. In dem sonnigen Streifen, der das Kinderzimmer glänzend wie ein Fluss erhellte und den Kleinen blinzeln machte, zerfiel Melles Lächeln in Halbmonde, die irrlichternd auf dem Wasser schwankten. Jenseits des hellen Stroms aber verschattete sich das Zimmer, als könne eine schwere Feuchte nur mühsam zurück ins Flussbett finden.
Ist es richtig, Fluss, soll er wirklich diesen Namen tragen? fragte Melle. Und warum nicht? schwappte es träge zurück. Einige Wellen erhoben kurz ihre Kämme, ließen sie bald in wiegende Täler gleiten. Niedergeschlagen dachte Melle an das andere Wasser, jenes klare, das sich murmelnd in den kleinen Brunnen ergoss. Sie erinnerte sein Erzählen, das von keiner Stille unterbrochen wurde, kein Ende finden mochte. Ein erquickender Quellort. Fröhlich sein Sprudeln, lebendig sein Sinn, ein ewiges Werden und Vergehen. Etwas, das die Traurigen aufmuntern sollte. Heiß war der Tag damals gewesen, sehr heiß, eine sengende Hitze legte sich auf alles, sang aus alten Liedern:
„Summertime, when the living is easy –“
Nein, sieh nicht! Nicht jetzt, sieh nicht hin! Doch, ich will sie sehen, diese Hand, ein Maulwurfspfötchen, wenig mehr und doch, alles da, Rillen, Finger, Nägel. Nie werden sie wachsen, nie abgebissen, nie mit unmöglichen Farben lackiert, nie – alles so beschmiert, so dunkel, das Blut, so winzig, nie angelegt, 18 Zentimeter nur, ein Sarg für Sternen-, nein für Sonnenkinder, da brauchts nicht viel, ein Kästchen nur, ein Schatz, eine Muschel, die rote Box für den Kamm aus Perlmutt ist größer, die Perlen, ein Taufgeschenk, 500 Gramm, ein halbes Kilo, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, ein Pfund, grausig der Fund, es fehlt an allem oder nichts, an Sauerstoff. Ach, hättest du doch Kiemen, Flossen, Meerjungfrau, wozu laufen lernen, kleiner Mulch, komm spring aus mein Herz und suche – spring mein nacktes rotes Stückchen Fleisch und schwimm:
„Fish are jumpin‘ and the Cotton is –“
Hey, kleiner Mann, komm zu mir, ich werde dich gut halten. Da schaust du was? Woran denkst du denn nur Liebes, du bist so abwesend?
Ich, ich hätte mir die Nägel nicht lackieren sollen, die Dämpfe... man weiß –
Ach was, die weiße Farbe sieht toll aus! Erst recht zum Taufgewand. Oder, was sagst du dazu, little Baby, hmm? Schhh, schhh, nicht weinen, hush, hush. Nicht so kurz vorm Fest, Baby John, your daddy‘s rich and your ma is good lookin’“
Mika, Baby John darf nicht Baby John heißen.
Wie bitte?
John darf nicht Hannas Namen tragen.
Fängst du jetzt wieder davon an?! Das hatten wir doch alles schon. Wir haben das zigmal besprochen. Unser erstes Kind soll Vaters Namen tragen. Das haben wir beide so abgemacht.
Aber das ist nicht unser erstes Kind. Hörst du nicht, dass Johanna dagegen ist?
Melle, hör auf damit. Das war kein Kind, das war ein Versuch von einem Kind, mehr nicht. Es war nicht überlebensfähig, daher kann es auch nicht zu uns sprechen. Lass die Sache endlich ruhen. Es war niemandes Schuld. Baby John braucht dich jetzt, ich brauche dich, mein Vater braucht uns. Siehst du nicht, wie er sich freut für dich und mich und Johnny? Komm jetzt, es ist alles gut, es ist Sommer, es ist hohe Zeit.
Text: Elvira Steppacher
Musikalische Begleitung: Karl Lehermann (tp)
„Wasserzeichen“. Von Elvira Steppacher>
Elvira Steppacher (* 1963 in Münster-Hiltrup) promovierte in Literaturwissenschaft und fand 2019 durch ein Seminar der Bayerischen Akademie des Schreibens zum Nature Writing. Ihr Prosadebüt Von Fall zu Fall. Ein Stundenheft (Braumüller Verlag, 2022) gewann den internationalen Literaturpreis „Gesund schreiben 2021“ der Wiener Ärztekammer. Elvira Steppacher schreibt darüber hinaus Lyrik, literaturkritische und -wissenschaftliche Aufsätze sowie Essays. Sie lebt heute als freie Autorin in München.
Mit der folgenden Erzählung beteiligt sich Elvira Steppacher an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
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Audio zum Text:
Beeil dich, Liebes. Wir sind die letzten. Melle hörte Mikas Rufe näherkommen. Na komm, komm, mein Söhnchen, komm zu mir. Wie lange habe ich auf diesen Tag gewartet. Ich bin so stolz auf dich. Mika trat neben Melle, schaute zum Bündel auf dem Wickeltisch und strahlte in pfirsichsteinschwarze Augen. Sanft tastete Mikas Rechte zum Bauch des Säuglings, die Linke berührte Melles Taille. In dem sonnigen Streifen, der das Kinderzimmer glänzend wie ein Fluss erhellte und den Kleinen blinzeln machte, zerfiel Melles Lächeln in Halbmonde, die irrlichternd auf dem Wasser schwankten. Jenseits des hellen Stroms aber verschattete sich das Zimmer, als könne eine schwere Feuchte nur mühsam zurück ins Flussbett finden.
Ist es richtig, Fluss, soll er wirklich diesen Namen tragen? fragte Melle. Und warum nicht? schwappte es träge zurück. Einige Wellen erhoben kurz ihre Kämme, ließen sie bald in wiegende Täler gleiten. Niedergeschlagen dachte Melle an das andere Wasser, jenes klare, das sich murmelnd in den kleinen Brunnen ergoss. Sie erinnerte sein Erzählen, das von keiner Stille unterbrochen wurde, kein Ende finden mochte. Ein erquickender Quellort. Fröhlich sein Sprudeln, lebendig sein Sinn, ein ewiges Werden und Vergehen. Etwas, das die Traurigen aufmuntern sollte. Heiß war der Tag damals gewesen, sehr heiß, eine sengende Hitze legte sich auf alles, sang aus alten Liedern:
„Summertime, when the living is easy –“
Nein, sieh nicht! Nicht jetzt, sieh nicht hin! Doch, ich will sie sehen, diese Hand, ein Maulwurfspfötchen, wenig mehr und doch, alles da, Rillen, Finger, Nägel. Nie werden sie wachsen, nie abgebissen, nie mit unmöglichen Farben lackiert, nie – alles so beschmiert, so dunkel, das Blut, so winzig, nie angelegt, 18 Zentimeter nur, ein Sarg für Sternen-, nein für Sonnenkinder, da brauchts nicht viel, ein Kästchen nur, ein Schatz, eine Muschel, die rote Box für den Kamm aus Perlmutt ist größer, die Perlen, ein Taufgeschenk, 500 Gramm, ein halbes Kilo, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, ein Pfund, grausig der Fund, es fehlt an allem oder nichts, an Sauerstoff. Ach, hättest du doch Kiemen, Flossen, Meerjungfrau, wozu laufen lernen, kleiner Mulch, komm spring aus mein Herz und suche – spring mein nacktes rotes Stückchen Fleisch und schwimm:
„Fish are jumpin‘ and the Cotton is –“
Hey, kleiner Mann, komm zu mir, ich werde dich gut halten. Da schaust du was? Woran denkst du denn nur Liebes, du bist so abwesend?
Ich, ich hätte mir die Nägel nicht lackieren sollen, die Dämpfe... man weiß –
Ach was, die weiße Farbe sieht toll aus! Erst recht zum Taufgewand. Oder, was sagst du dazu, little Baby, hmm? Schhh, schhh, nicht weinen, hush, hush. Nicht so kurz vorm Fest, Baby John, your daddy‘s rich and your ma is good lookin’“
Mika, Baby John darf nicht Baby John heißen.
Wie bitte?
John darf nicht Hannas Namen tragen.
Fängst du jetzt wieder davon an?! Das hatten wir doch alles schon. Wir haben das zigmal besprochen. Unser erstes Kind soll Vaters Namen tragen. Das haben wir beide so abgemacht.
Aber das ist nicht unser erstes Kind. Hörst du nicht, dass Johanna dagegen ist?
Melle, hör auf damit. Das war kein Kind, das war ein Versuch von einem Kind, mehr nicht. Es war nicht überlebensfähig, daher kann es auch nicht zu uns sprechen. Lass die Sache endlich ruhen. Es war niemandes Schuld. Baby John braucht dich jetzt, ich brauche dich, mein Vater braucht uns. Siehst du nicht, wie er sich freut für dich und mich und Johnny? Komm jetzt, es ist alles gut, es ist Sommer, es ist hohe Zeit.
Text: Elvira Steppacher
Musikalische Begleitung: Karl Lehermann (tp)