„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (5)
München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In seiner neuen Kolumne hier im Literaturportal Bayern träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...
Mit der Kolumne „München-Träume“ beteiligt sich Nikolai Vogel an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Glockenspiel real
Ich bin mal wieder in der Stadt, der Innenstadt, dem Zentrum, auf dem zentralen Platz. Es ist kurz vor zwölf und es sind viele Menschen hier. Manche schieben sich durch die Menge, als wüssten sie genau, wohin. Aber die meisten stehen einfach. Ihre Gesichter schauen alle in eine Richtung. In Richtung Rathaus. Also Neues Rathaus, wie es komplett heißt. Es gibt ja auch ein altes hier. Also eben in Richtung des Gebäudes, dessen Original woanders zu sehen ist, nämlich in Brüssel ... Aber sie stehen hier in München auf dem Marienplatz. Und stehen und schauen. Die Köpfe alle so nach oben, als kämen da Ufos? Stehen da, wie gebannt. Und wann geht es denn los. Endlich?
Und die Menschen schauen und warten und wundern sich – denn es ist zwölf Uhr und ganz andere Glocken bimmeln. Ist das heute nicht? ... Und dann fängt es doch noch an. Aber ist es nach all dem Warten mal in Gang, gehen nach und nach doch einige und denken, na gut, jetzt haben wir es gesehen, das Ende müssen wir nicht abwarten ...
Und als Kind habe ich das Ende aber immer abwarten wollen. Und immer wieder dann gedacht – nein, das gibt es nicht, ich habe es verpasst. Der Hahn, der goldene, der kommt nicht mehr raus. Und immer ist er dann gekommen – nach einer der längsten Spannungspausen, die ich überhaupt kenne. Ist rausgekommen und hat seinen Schrei über den Marienplatz gezogen, einmal ... noch einmal ... dreimal. – Und dann, ja erst dann konnte ich gehen!
Wie lange bin ich denn nicht mehr stehen geblieben? Sondern habe mich, wenn ich zufällig mal um diese Zeit hier war, auch einfach durch die Menge geschoben. Auf dem Weg wohin. Sollen Glocken locken, docken täglich die Touris an, Foto, Foto, Video ...
Diesmal suche ich mir eine Lücke und stelle mich dazu. Mein Blick geht erst in Richtung Rathausturm und schweift dann ab ... Ich warte, die Melodie fängt an. Wo bin ich. Es ist ein buntes Treiben hier. Die Stadt ist so anders. Die Pest ist vorbei, die Schäffler haben getanzt, die Schäffler tanzen, die Schäffler werden tanzen. Die Fässer sind gefüllt. Wir sind dabei die Fässer zu leeren. So viel Feier war noch nie auf dem Marienplatz. Orlando di Lasso! Die Stadt ist außer Rand und Band. Die Musik. Alles läuft im Kreis, in zwei Kreisen aneinander vorbei, und nur nicht das Gleichgewicht verlieren, Standbein, Spielbein, komm, tanz mit mir, ich tanz für dich, immer rum im Kreis und hoch den Fuß, verlassen wir den harten Boden für Momente. Die Blicke zu Renata und Wilhelm, so jung sind sie noch und so jung kommen wir nicht mehr zusammen. Wir schreiben Geschichte. Wir zeigen Euch alle, was das heißt: Gegenwart. Was das ist. Und wie zerbrechlich ...
Ich sitze auf dem Pferd. Meine Kleidung ist so schwer. So silbrig, so hart. Und in der Hand der Spieß, wie soll ich den bloß in die Horizontale bringen. AAAACHTUNG! Uff! Gerade noch! Ausgewichen! Ha, der hat mich nicht erwischt! Aber, so eng die Kurve ... Die Welt ein enger Kreis. Ist er das? Da kommt er ja schon wieder. Schnell den Spieß hoch. Da kommt er. Direkt auf mich zu. Ich kann nicht ... Er wird mich treffen ... Er trifft mich, ich falle –
– und wache auf ...
Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Zuletzt erschien sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht im gutleut Verlag (2019). Vom 18. März bis 26. April 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube.
„München-Träume“. Von Nikolai Vogel (5)>
München verändert sich dauernd – eine Stadt ist lebendig. Und in einer Stadt bleibt sich aber dauernd auch vieles gleich. Manches verschwindet fast unmerklich, anderes ist schlagartig weg. Neue Realitäten entstehen – wir schauen ihnen beim Gebautwerden zu oder entdecken sie im Vorbeigehen ganz unerwartet. Wie also geht der Wandel vonstatten? Wie geht es weiter? Wie öffnet sich Zukunft? In seiner neuen Kolumne hier im Literaturportal Bayern träumt der Autor und Künstler Nikolai Vogel davon, wie die Stadt, in der er seit vielen Jahren lebt, ihn immer wieder verblüfft ...
Mit der Kolumne „München-Träume“ beteiligt sich Nikolai Vogel an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
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Glockenspiel real
Ich bin mal wieder in der Stadt, der Innenstadt, dem Zentrum, auf dem zentralen Platz. Es ist kurz vor zwölf und es sind viele Menschen hier. Manche schieben sich durch die Menge, als wüssten sie genau, wohin. Aber die meisten stehen einfach. Ihre Gesichter schauen alle in eine Richtung. In Richtung Rathaus. Also Neues Rathaus, wie es komplett heißt. Es gibt ja auch ein altes hier. Also eben in Richtung des Gebäudes, dessen Original woanders zu sehen ist, nämlich in Brüssel ... Aber sie stehen hier in München auf dem Marienplatz. Und stehen und schauen. Die Köpfe alle so nach oben, als kämen da Ufos? Stehen da, wie gebannt. Und wann geht es denn los. Endlich?
Und die Menschen schauen und warten und wundern sich – denn es ist zwölf Uhr und ganz andere Glocken bimmeln. Ist das heute nicht? ... Und dann fängt es doch noch an. Aber ist es nach all dem Warten mal in Gang, gehen nach und nach doch einige und denken, na gut, jetzt haben wir es gesehen, das Ende müssen wir nicht abwarten ...
Und als Kind habe ich das Ende aber immer abwarten wollen. Und immer wieder dann gedacht – nein, das gibt es nicht, ich habe es verpasst. Der Hahn, der goldene, der kommt nicht mehr raus. Und immer ist er dann gekommen – nach einer der längsten Spannungspausen, die ich überhaupt kenne. Ist rausgekommen und hat seinen Schrei über den Marienplatz gezogen, einmal ... noch einmal ... dreimal. – Und dann, ja erst dann konnte ich gehen!
Wie lange bin ich denn nicht mehr stehen geblieben? Sondern habe mich, wenn ich zufällig mal um diese Zeit hier war, auch einfach durch die Menge geschoben. Auf dem Weg wohin. Sollen Glocken locken, docken täglich die Touris an, Foto, Foto, Video ...
Diesmal suche ich mir eine Lücke und stelle mich dazu. Mein Blick geht erst in Richtung Rathausturm und schweift dann ab ... Ich warte, die Melodie fängt an. Wo bin ich. Es ist ein buntes Treiben hier. Die Stadt ist so anders. Die Pest ist vorbei, die Schäffler haben getanzt, die Schäffler tanzen, die Schäffler werden tanzen. Die Fässer sind gefüllt. Wir sind dabei die Fässer zu leeren. So viel Feier war noch nie auf dem Marienplatz. Orlando di Lasso! Die Stadt ist außer Rand und Band. Die Musik. Alles läuft im Kreis, in zwei Kreisen aneinander vorbei, und nur nicht das Gleichgewicht verlieren, Standbein, Spielbein, komm, tanz mit mir, ich tanz für dich, immer rum im Kreis und hoch den Fuß, verlassen wir den harten Boden für Momente. Die Blicke zu Renata und Wilhelm, so jung sind sie noch und so jung kommen wir nicht mehr zusammen. Wir schreiben Geschichte. Wir zeigen Euch alle, was das heißt: Gegenwart. Was das ist. Und wie zerbrechlich ...
Ich sitze auf dem Pferd. Meine Kleidung ist so schwer. So silbrig, so hart. Und in der Hand der Spieß, wie soll ich den bloß in die Horizontale bringen. AAAACHTUNG! Uff! Gerade noch! Ausgewichen! Ha, der hat mich nicht erwischt! Aber, so eng die Kurve ... Die Welt ein enger Kreis. Ist er das? Da kommt er ja schon wieder. Schnell den Spieß hoch. Da kommt er. Direkt auf mich zu. Ich kann nicht ... Er wird mich treffen ... Er trifft mich, ich falle –
– und wache auf ...
Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Zuletzt erschien sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht im gutleut Verlag (2019). Vom 18. März bis 26. April 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube.