„Kellergeschichten“. Von Oksana Stomina

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Oksana Stomina © privat

Oksana Stomina (*1972 in Mariupol) ist Schriftstellerin, Dichterin und Aktivistin. Nach ihrer Flucht vor dem Angriff der russischen Armee kommt sie im Juni 2022 nach München, wo sie derzeit wohnt. Stomina schreibt sowohl Lyrik als auch Prosa und journalistische Texte. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so mit dem Jurij-Kaplan-Literaturpreis (2013) und dem internationalen Literaturpreis „Слов'янські традиції“ („Slawische Traditionen“, 2013). Sie verfasst ihre Texte hauptsächlich auf Russisch; seit dem Krieg jedoch schreibt sie auf Ukrainisch. Ihre Gedichte und Kurzprosa sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Mit der folgenden Erzählung nach einer wahren Geschichte beteiligt sich Oksana Stomina an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Kellergeschichten. Diana

(nach einer wahren Geschichte)

 

Die Ratte starrte ihn an, als wäre er eine Beute.

„Denk nicht mal dran!“, warnte Boris sie.

Einmal, als er noch klein war, haben ihm seine Eltern über den furchtbaren Tod ihres Kommilitonen erzählt. Er war auf Fahrradtour in der Umgebung von Mariupol gegangen und kam nie zurück. Sein Fahrrad und das, was von seiner Leiche übrig blieb, wurde später in einem Heuhaufen gefunden. Er hatte im Heu übernachtet und war dort offenbar von Ratten angegriffen worden, jedenfalls war seine Leiche stark abgenagt.

Als Kind war Boris von dieser Geschichte sehr berührt. So sehr, dass er sein ganzes Leben lang jegliche Wanderungen vermied, wenn man dabei an Orten übernachten musste, die für Ratten zugänglich waren. Aber der Mensch denkt, Gott lenkt ... Ab dem 24. Februar lief alles schief. Die Welt war nicht wiederzuerkennen. Menschen, namentlich die Russen, waren in dieser neuen Dimension für Boris viel mieser als Ratten. Was soll man sagen, sie waren viel gefährlicher als alle Raubtiere. Sie warfen tonnenweise Bomben auf die Köpfe der friedlichen Einwohner von Mariupol, sie beschossen sie mit allen möglichen Waffen, sie töteten sie zu Dutzenden, zu Hunderten, zu Tausenden. Es war so barbarisch, dass es ihm einfach nicht in den Kopf wollte, und Boris hoffte immer noch aufzuwachen. Aber der Albtraum ging unaufhaltsam weiter, und wenn man sich darin befand, musste man irgendwie überleben, sich etwas zu essen und zu trinken holen, die Kinder ernähren.

Im früheren Leben kaufte man die Lebensmittel im Laden, in der neuen Realität musste man sie sich selbst beschaffen. Das wurde jeden Tag schwieriger, die Stadt stand fast einen Monat lang unter totaler Blockade. Ohne Nachschub von außen gingen Lebensmittel, Hygieneartikel und Medikamente in rasantem Tempo zur Neige. Seine Kinder baten ihn um etwas zu essen, Boris' Frau schwieg gewichtig, aber selbstverständlich zählte sie auf ihn als Mann. Keiner von ihnen wollte den Unterschlupf verlassen, in dem sie alle jetzt lebten, aber von Zeit zu Zeit war das notwendig. Boris musste all seine Kraft sammeln, wenn es Zeit war, unterm Dach hervorzukommen und unter den offenen Himmel zu treten, wo ständig russische Killerflugzeuge kreisten.

Auch dieses Mal ging Boris mit schwerem Herzen auf die „Jagd“. Und dann geschah es ... Ein paar Straßen von seinem Haus entfernt trafen ihn Fragmente einer feindlichen Granate. Gott sei Dank wurde er nicht getötet, nur verwundet – die Splitter bissen sich grausam in das lebendige, heiße Fleisch seiner Oberschenkel.

Boris fiel wie ein Stein und wusste erst nicht, wieso. Sein Atem war weg, dann drang nach wenigen Sekunden ein Heulen oder ein Krächzen aus seiner Kehle, schreckliche Tierlaute, in denen sich sein Schmerz und seine Angst ausdrückten. Wie ein Kind fühlte er sich von der ganzen Welt beleidigt.

Boris wollte um Hilfe rufen, aber es war niemand in der Nähe: Es war leichter, auf den Straßen von Mariupol auf Tote zu treffen als auf Lebende. Der Beschuss ging weiter, und um nicht endgültig getötet zu werden, kroch der Verwundete zunächst in den Hauseingang und dann in den Keller eines fünfstöckigen Wohnblocks, der stark zerstört und teilweise abgebrannt war. Boris hoffte aber sehr, das abgebrannte Haus würde nicht erneut bombardiert werden; und er hoffte, im Hauskeller Menschen zu finden, die ihm Erste Hilfe leisten konnten; vor allem aber war das Haus nicht weit, gerade zehn Meter von der Stelle entfernt, wo er getroffen wurde, also noch in Reichweite, im Rahmen seiner nun begrenzten Möglichkeiten.

Im Keller war es dunkel, feucht und leer, aber selbst wenn er wieder nach draußen hätte gehen wollen, hätte er nicht mehr die Kraft dazu gehabt. Das wollte Boris sowieso nicht. Die Schmerzen waren so stark, dass er nur noch eins wollte: tot sein.

„Nur kurz durchatmen", dachte der Mann und fiel ins Leere. Wahrscheinlich wurde er kurz bewusstlos, jedenfalls spürte er einen unbestimmten Zeitabschnitt lang keine Kälte mehr, keinen Schmerz, keine Angst, keine Einsamkeit.

 

Boris wachte langsam, wie widerwillig auf. Der Schmerz war noch vor dem Bewusstsein da, er wartete bereits auf ihn „an diesem Ufer“. Boris wollte den Schmerz aus seinem Körper wie Bombensplitter herausziehen, ihn in die hinterste Ecke des Kellers schmeißen. Er streckte die Hand aus, um nach seiner Wunde zu tasten, hielt aber sofort inne, er hatte Angst vor dem, was er in der Dunkelheit berühren könnte.

„Taschenlampe! ...“, erinnerte er sich und griff in seine Jackentasche.

Ihn erwartete nichts Gutes. Im gelben Licht der Taschenlampe sah Boris, als er die zerrissenen Ränder des Jeansstoffs wegzog, das rohe Fleisch, fast Hackfleisch, aus dem sein eigenes Blut quoll. Die Wunde am anderen Bein sah genauso aus.

„Verdammt!“, fluchte Boris. Dann dachte er darüber nach, fluchte erneut, und diesmal war sein Fluch undruckbar.

Dann, als er sich immer neue Mutterflüche einfallen ließ und sie in verschiedenen Kombinationen benutzte, nahm er seinen Schal ab und wickelte ihn fest um seinen rechten Oberschenkel, um die Blutung zu stoppen. Um den linken zog er ein Einkaufsnetz fest, das in seiner Tasche lag.

Nach dieser Aktion brach Boris erschöpft auf dem kalten Boden zusammen. Er lag in einer Lache seines eigenen Blutes und zitterte vor Kälte oder vor Schmerz oder vor lähmender Angst, für immer in diesem Keller stecken zu bleiben. Als nächstes kam ihm der dumme Gedanke, dass er nicht sterben durfte, ohne seiner Frau Bescheid zu sagen. Aber im Vergleich zu seiner Angst schien ihm dieser Gedanke fast optimistisch und sogar ein wenig albern.

Wie schön wäre es, wieder ohnmächtig zu werden, auch nur für eine Minute, denn länger gelang es ihm sowieso nicht.

„Wir gehören gar nicht uns selbst“, dachte Boris, „alles wird irgendwo da draußen entschieden, auf höchster Ebene ...“

Bei dem Gedanken grinste Boris und schloss die Augen. Er musste hier endlich raus, und zugleich wollte er diesen anstrengenden Moment lieber auf später verschieben. Selbst der Schüttelfrost in diesem feuchtkalten Keller schien ihm erträglicher als die Aussicht, aufstehen zu müssen und dann eine unbestimmte Strecke über unwegsames Gelände kriechend zu überwinden.

„Ich werde später darüber nachdenken“, beschloss Boris und seufzte. Plötzlich spürte er, dass ihn jemand ansah.

Boris' Herz machte einen Sprung. Er starrte in die Dunkelheit, dann tastete er nach seiner Taschenlampe und schaltete sie wieder ein. Ein dünner Lichtstrahl glitt über die verschimmelte graue Wand, die Abflussrohre, die alten Fensterrahmen, die aus irgendeinem Grund hier gestapelt waren, und plötzlich entdeckte er in der Dunkelheit etwas Lebendiges, das verdächtig wie eine Ratte aussah. Es war tatsächlich eine Ratte.

„Verdammt!“, flüsterte Boris und fügte dann laut hinzu: „Weg hier! Raus mit dir!“

Doch die Ratte dachte nicht daran, sich zurückzuziehen. Sie fühlte sich wie eine Hausherrin und war eindeutig nicht bereit, ihm ihren Wohnraum zu überlassen. Boris tastete um sich herum, fand ein Stück Ziegelstein auf dem Boden und warf es nach dem Nager. Die Ratte huschte in die Dunkelheit und verschwand. Aber nicht für lange. Bald kam sie wieder, setzte sich in der Nähe hin und starrte Boris wieder an.

Es gab keine Ziegel mehr, und statt sich gegen das Tier zu wehren, sprach Boris es zu seiner eigenen Überraschung an. Was für ein Narr.

„Du willst mich wohl fressen, was?“, fragte er. „Lass es. Hab noch ein wenig Geduld, ich bin gleich weg. Meine Familie wartet auf mich. Hast du Kinder? Etwa zweihundert, richtig? Ihr seid doch sehr fruchtbar, und ich wette, du kannst dir nicht einmal all ihre Namen merken. Hmm ... habt ihr überhaupt Namen?“

Die Ratte hörte dem Monolog des Fremden aufmerksam zu und rückte sogar näher an Boris heran.

„Hey, hey, lass uns Abstand halten!“ bat Boris sie. „Komm mir bitte nicht zu nah“.

Die Ratte reagierte nicht, wahrscheinlich verstand sie kein Ukrainisch.

„Okay“, seufzte Boris, „dann lass uns doch einen Namen für dich finden. Ich muss dich irgendwie nennen. Wie wäre es mit Diana, hast du was dagegen? Weißt du, Diana, hier ist Krieg. Kannst du dir das vorstellen? Ich konnte es lange nicht, kann es immer noch nicht. Aber das ist genau der Grund, warum ich jetzt hier im Blut liege. Was sagst du dazu? Willst du mich immer noch zum Mittagessen haben?“

Die Ratte zuckte zusammen, rannte aus dem Lichtkreis weg und verschwand in der Dunkelheit. Einen Moment später kehrte sie aber wieder zurück und setzte sich vor ihren Gesprächspartner. Boris erzählte gerade etwas über seine hungrigen und verängstigten Kinder, über seine erschöpfte Frau, die getöteten Nachbarn, die im Garten im Blumenbeet begraben wurden. Gelegentlich unterbrach er seine Erzählung und versuchte aufzustehen, um aus diesem Keller herauszukommen und zu seiner Familie zurückzugehen, doch bei der kleinsten Bewegung durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Von Zeit zu Zeit rief er so laut er konnte, in der Hoffnung, dass ihn jemand hört und ihm zur Hilfe kommt. Dann rannte die Ratte weg, kam aber wieder zurück.

Es kam die Nacht, dann der neue Tag. Mal schlief Boris ein, mal wurde er ohnmächtig, dann kam er wieder zu sich, und dann sah er die Ratte wieder. Als er urinieren musste, bat er sie, nicht hinzuschauen. Wenn sie weglief, rief er ihr zu, sie sollte zurückkehren.

„Wenn ich sterbe, kannst du mich essen“, sagte Boris am dritten Tag mit schwerer Zunge zu der Ratte, „aber nicht vorher, ja? Wir sind ja fast schon Freunde, und Freunde isst man nicht, man beißt sie nicht einmal, das sag ich dir! Das ist einfach unmoralisch! Ja, es ist unmoralisch, jemandem Böses anzutun. Sei nicht wie Putin!“

Die Ratte versprach nichts, aber sie griff ihn auch nicht an. Sie kam und ging und kam wieder zurück, so wie man Nachbarn besucht. Seine Taschenlampe hatte längst ihren Geist aufgegeben, aber Boris konnte Dianas Anwesenheit spüren. Und als er am vierten Tag von unseren Soldaten gefunden wurde, fragte er, als man ihn auf eine improvisierte Trage legte:

„Haben Sie etwas Essbares dabei?“

Ein junger Soldat reichte Boris eine Packung Kekse. Boris öffnete sie, nahm einen Keks heraus, und bevor er ihn sich in den Mund steckte, brach er ein Stück ab und warf ihn in die Dunkelheit des Kellers.

„Den Rest gebe ich meinen Kindern“, sagte er heiser, „das verstehst du doch, nicht wahr, Diana?!“

 

PS: Die hervorragenden Ärzte von Mariupol haben Boris' Beine gerettet. Aber seine Kinder haben die Kekse nie probiert. Boris' Familie war im Keller ihres eigenen Hauses unter den Trümmern gestorben.

 

Deutsch von Boris Borisovich.