Kunst des Abschiednehmens (8)
Ans Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) kommen jedes Jahr über 400 Kunstschaffende aus Literatur, Komposition und Bildender Kunst, um an ihren Projekten zu arbeiten. Im Oktober/November 2022 verbringt Carola Gruber sechs Wochen dort im Rahmen des Internationalen Stipendiums Oberpfälzer Künstlerhaus. Für das Literaturportal Bayern hält sie (literarische) Eindrücke von ihrem Aufenthalt fest.
*
„Partir, c'est mourir un peu“ („Weggehen ist ein bisschen Sterben“), sagte kürzlich eine Fellow und zitierte damit einen Vers aus dem Gedicht Rondel de l'adieu von Edmond Haraucourt. Inzwischen ist sie abgereist. Und auch wir, Christina Kirchinger, Philipp Ortmeier und ich, müssen uns nun lösen: Die sechs Wochen, die wir am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) verbringen durften, gehen zu Ende.
Wir drei gehen den Abschied jeweils unterschiedlich an, und so auch andere Fellows, die etwa um die gleiche Zeit abreisen. Abschied nehmen kann demnach so gehen: sich noch einmal an den Lieblingsort im Garten setzen und ein Gedicht schreiben. Auf dem Gelände spazieren und Fotos machen. Abends auf dem Weg zu den Ateliers den klaren Nachthimmel genießen. Die entstandenen Werke dokumentieren. Sich nichts Neues mehr vornehmen. Die in den vergangenen Wochen gezeichneten Bilder von den Wänden nehmen. Frühzeitig mit dem Packen beginnen. Traurigkeit zulassen.
Meine Strategie besteht darin, mich beschäftigt zu halten. Ich schreibe einen Blogpost, feile an einem Text, bereite ein offenes Atelier vor, wasche und packe.
Ein rohes Ei in die Runde
Zwei Tage vor meiner Abreise öffne ich mein Atelier für andere Fellows. Etwa ein Dutzend Leute kommen, und ich berichte ihnen, woran ich in den vergangenen sechs Wochen gearbeitet habe. Unter anderem erzähle ich von einem neuen Text, der seine endgültige Form noch nicht gefunden hat. Ich präsentiere einen Auszug daraus, vertraue dieses rohes Ei der Runde an. Erst hatte ich Bedenken, Unfertiges zu teilen, dann aber beschloss ich, meinen Schreibprozess für den Austausch zu öffnen.
Den kurzen Auszug habe ich dafür ins Englische übersetzt und mit der sehr hilfreichen Unterstützung von Pedro Ponce geglättet. Bereits bei diesem Arbeitsschritt fielen mir kleinere Formulierungsfragen auf, die ich im Original überarbeiten möchte. Noch lohnender aber ist das freundliche, ermutigende Feedback, das ich erhalte – zusammen mit einigen Literaturtipps.
Vermissen oder mitnehmen
Der Studio Barn Complex mit den Ateliers. Ganz links ist das Atelier, das ich in den vergangenen Wochen benutzen durfte.
„Zwei Wochen nach deiner Rückkehr nach Hause wird dir dein Aufenthalt hier wie ein Traum vorkommen: ganz unwirklich“, sagt eine Fellow am Tag vor meiner Abreise. Das stimmt sicher. Noch ist es freilich umgekehrt: Mein Alltag in München fühlt sich ganz weit weg an. Trotzdem wird mein Blick geschärft für die Dinge, die ich dort vermissen werde:
- nicht kochen, putzen oder einkaufen müssen
- die hohe Dichte an klugen, kulturschaffenden Köpfen zu jeder Mahlzeit
- das fleißige Tun und Werkeln an künstlerischen Projekten um mich herum
- dass alle Verständnis dafür haben, dass ich an meinen Texten arbeiten möchte
- die große Pinnwand in meinem Atelier
Die eine oder andere Anregung nehme ich aber auch mit nach Hause:
- Es mag viele Gründe geben, die gegen einen Stipendienaufenthalt sprechen – vielleicht ist es beruflich oder privat nicht der beste Zeitpunkt, einige Wochen weg von Zuhause zu sein. Doch es gibt sehr gute Gründe, die dafür sprechen (die konzentrierte Arbeitsumgebung, die wertschätzende Atmosphäre, der anregende Austausch). Es lohnt sich.
- Eine große Pinnwand ist schon verdammt praktisch. (Gedanklich gehe ich bereits die Wände meiner Wohnung durch: Wo ist dafür noch Platz?)
- Wer einmal am VCCA war, darf sich alle zwei Jahre erneut um einen Aufenthalt bewerben (das möchte ich früher oder später tun). Außerdem habe ich die Namen einiger weiterer Orte aufgeschnappt, die Residencys anbieten: das Vermont Studio Center, Ragdale, MacDowell ...
Die Verabschiedung der Woche
Kurz vor meiner Abreise verabschiedet sich ein anderer Fellow so: Er steckt seinen Kopf in die Küche bei den Ateliers, wo einige von uns gerade mittagessen, und ruft in einem fröhlichen, fast schon anfeuernden Tonfall: „Macht's gut! Macht großartige Kunst, die so reinhaut, dass sie Eure Moleküle neu anordnet!“ Wir müssen lachen. Bis die Heiterkeit verflogen ist, hat auch der Fellow den Raum verlassen. So sollten alle Abschiede sein, denke ich in dem Moment: kurz und schmerzlos.
**
Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).
Kunst des Abschiednehmens (8)>
Ans Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) kommen jedes Jahr über 400 Kunstschaffende aus Literatur, Komposition und Bildender Kunst, um an ihren Projekten zu arbeiten. Im Oktober/November 2022 verbringt Carola Gruber sechs Wochen dort im Rahmen des Internationalen Stipendiums Oberpfälzer Künstlerhaus. Für das Literaturportal Bayern hält sie (literarische) Eindrücke von ihrem Aufenthalt fest.
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„Partir, c'est mourir un peu“ („Weggehen ist ein bisschen Sterben“), sagte kürzlich eine Fellow und zitierte damit einen Vers aus dem Gedicht Rondel de l'adieu von Edmond Haraucourt. Inzwischen ist sie abgereist. Und auch wir, Christina Kirchinger, Philipp Ortmeier und ich, müssen uns nun lösen: Die sechs Wochen, die wir am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) verbringen durften, gehen zu Ende.
Wir drei gehen den Abschied jeweils unterschiedlich an, und so auch andere Fellows, die etwa um die gleiche Zeit abreisen. Abschied nehmen kann demnach so gehen: sich noch einmal an den Lieblingsort im Garten setzen und ein Gedicht schreiben. Auf dem Gelände spazieren und Fotos machen. Abends auf dem Weg zu den Ateliers den klaren Nachthimmel genießen. Die entstandenen Werke dokumentieren. Sich nichts Neues mehr vornehmen. Die in den vergangenen Wochen gezeichneten Bilder von den Wänden nehmen. Frühzeitig mit dem Packen beginnen. Traurigkeit zulassen.
Meine Strategie besteht darin, mich beschäftigt zu halten. Ich schreibe einen Blogpost, feile an einem Text, bereite ein offenes Atelier vor, wasche und packe.
Ein rohes Ei in die Runde
Zwei Tage vor meiner Abreise öffne ich mein Atelier für andere Fellows. Etwa ein Dutzend Leute kommen, und ich berichte ihnen, woran ich in den vergangenen sechs Wochen gearbeitet habe. Unter anderem erzähle ich von einem neuen Text, der seine endgültige Form noch nicht gefunden hat. Ich präsentiere einen Auszug daraus, vertraue dieses rohes Ei der Runde an. Erst hatte ich Bedenken, Unfertiges zu teilen, dann aber beschloss ich, meinen Schreibprozess für den Austausch zu öffnen.
Den kurzen Auszug habe ich dafür ins Englische übersetzt und mit der sehr hilfreichen Unterstützung von Pedro Ponce geglättet. Bereits bei diesem Arbeitsschritt fielen mir kleinere Formulierungsfragen auf, die ich im Original überarbeiten möchte. Noch lohnender aber ist das freundliche, ermutigende Feedback, das ich erhalte – zusammen mit einigen Literaturtipps.
Vermissen oder mitnehmen
Der Studio Barn Complex mit den Ateliers. Ganz links ist das Atelier, das ich in den vergangenen Wochen benutzen durfte.
„Zwei Wochen nach deiner Rückkehr nach Hause wird dir dein Aufenthalt hier wie ein Traum vorkommen: ganz unwirklich“, sagt eine Fellow am Tag vor meiner Abreise. Das stimmt sicher. Noch ist es freilich umgekehrt: Mein Alltag in München fühlt sich ganz weit weg an. Trotzdem wird mein Blick geschärft für die Dinge, die ich dort vermissen werde:
- nicht kochen, putzen oder einkaufen müssen
- die hohe Dichte an klugen, kulturschaffenden Köpfen zu jeder Mahlzeit
- das fleißige Tun und Werkeln an künstlerischen Projekten um mich herum
- dass alle Verständnis dafür haben, dass ich an meinen Texten arbeiten möchte
- die große Pinnwand in meinem Atelier
Die eine oder andere Anregung nehme ich aber auch mit nach Hause:
- Es mag viele Gründe geben, die gegen einen Stipendienaufenthalt sprechen – vielleicht ist es beruflich oder privat nicht der beste Zeitpunkt, einige Wochen weg von Zuhause zu sein. Doch es gibt sehr gute Gründe, die dafür sprechen (die konzentrierte Arbeitsumgebung, die wertschätzende Atmosphäre, der anregende Austausch). Es lohnt sich.
- Eine große Pinnwand ist schon verdammt praktisch. (Gedanklich gehe ich bereits die Wände meiner Wohnung durch: Wo ist dafür noch Platz?)
- Wer einmal am VCCA war, darf sich alle zwei Jahre erneut um einen Aufenthalt bewerben (das möchte ich früher oder später tun). Außerdem habe ich die Namen einiger weiterer Orte aufgeschnappt, die Residencys anbieten: das Vermont Studio Center, Ragdale, MacDowell ...
Die Verabschiedung der Woche
Kurz vor meiner Abreise verabschiedet sich ein anderer Fellow so: Er steckt seinen Kopf in die Küche bei den Ateliers, wo einige von uns gerade mittagessen, und ruft in einem fröhlichen, fast schon anfeuernden Tonfall: „Macht's gut! Macht großartige Kunst, die so reinhaut, dass sie Eure Moleküle neu anordnet!“ Wir müssen lachen. Bis die Heiterkeit verflogen ist, hat auch der Fellow den Raum verlassen. So sollten alle Abschiede sein, denke ich in dem Moment: kurz und schmerzlos.
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Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).