Automatisiertes Beten und explosive Stillleben (7)
Ans Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) kommen jedes Jahr über 400 Kunstschaffende aus Literatur, Komposition und Bildender Kunst, um an ihren Projekten zu arbeiten. Im Oktober/November 2022 verbringt Carola Gruber sechs Wochen dort im Rahmen des Internationalen Stipendiums Oberpfälzer Künstlerhaus. Für das Literaturportal Bayern hält sie (literarische) Eindrücke von ihrem Aufenthalt fest.
*
Beim Abendessen mit anderen Fellows schnappe ich diese Woche einen Dialog auf:
Person A: Wie war dein Tag, Steve?
Person B: ?
Person A: Namen kann ich mir ja echt schlecht merken. Aber deinen habe ich behalten, Steve!
Person B: Ich heiße Scott.
Person A: Oh.
Person B: Nicht schlimm.
Zwar bin ich an dem Gespräch nicht direkt beteiligt, aber so ähnlich hätte mir das auch passieren können. Es sind wieder viele neue Gesichter am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA). Nicht mit allen bin ich über das Grüßen oder die ersten grundlegenden Fragen hinausgekommen („What are you working on?“), als sich die ersten auch schon wieder verabschieden.
Ich ertappe mich dabei, dass ich manchmal müde bin, immer wieder die gleichen Fragen zu beantworten (und zu stellen), mir weiterhin neue Informationen zu merken. Mein Abschied vom VCCA rückt näher, und ich denke über noch zu Erledigendes nach, plane bereits die nächsten Schritte.
Auch Beten kann man outsourcen, oder?
Der Komponist Philipp Ortmeier spielt das Stück Horologium in seinem Atelier
Auch diese Woche darf ich Arbeiten anderer Fellows miterleben, und zwar aus allen Sparten:
Philipp Ortmeier präsentiert am Mittwoch Stücke, die er während seines Aufenthalts komponiert hat, darunter das Chorstück Horologium. Dessen Sätze sind nach einem Sinnspruch benannt, den er einmal auf einer Sonnenuhr gelesen hat: „hora fugit, ombra venit, fides manet, lux transit“ (sinngemäß: „die Stunde vergeht, der Schatten kommt, der Glaube bleibt, das Licht zieht vorbei“). Er spielt uns den dritten Satz erst am Klavier, dann in der Instrumentierung am Computer vor – wir scharen uns andächtig um die Tonquelle wie um ein Lagerfeuer.
Auch die Komponistin Anna Rubin stellt ein Stück vor. Es arbeitet mit elektronischen Klängen und gesprochenem Text aus dem Gedicht Automaton Monk von Rebecca Morgan Frank. Eine Auseinandersetzung mit Robotik und Automation, hinter der eine historische Anekdote steckt. Benannt ist das Gedicht nach einer Skulptur aus dem 16. Jahrhundert, die sich heute in der Sammlung der Smithsonian Institution in Washington befindet: einem Uhrwerkautomaten, der einen betenden Mönch darstellt.
Bei der Figur soll es sich um eine Votivdarstellung von Diego de Alcalá handeln, einem franziskanischen Laienbruder. An dessen Grab betete König Philipp II. für die Genesung seines Sohnes Carlos. Nach der scheinbar wundersamen Heilung des Prinzen wurde Diego de Alcalá heiliggesprochen und der königliche Uhrmacher Juanelo Turriano beauftragt, den betenden Automatenmönch herzustellen. So die Legende. Nebenbei wirft sie die Frage auf, ob man das Beten – nach dem Vorbild anderer unliebsamer Tätigkeiten – ebenfalls outsourcen kann.
Roman auf der Pinnwand
Links: Offenes Atelier von Yen Ha. Rechts: Der Schreibtisch von Pedro Ponce.
Bei den offenen Ateliers am Donnerstag sehe ich neueste Werke von Yen Ha, Robin Harris und Scott Eakin. Yen malt mit sehr reduzierten Mitteln – weißer Farbe auf blauem Grund – verzerrte Schachbrettmuster, die erstaunlich plastische Landschaften ergeben, ohne jedoch konkret fassbar zu sein. Ein Tal? Eine Felswand? Der Meeresgrund? Obwohl die Bilder dieser Reihe vordergründig ähnlich aussehen, lassen sie jeweils ganz unterschiedliche Assoziationen entstehen.
Robin zeigt in farbenfrohen Acrylbildern gastronomische Stillleben, in denen Drinks überlebensgroß gleichsam in Bewegung geraten, wenn Kirschen und Eiswürfel mit Schwung in sie hineinfallen. Schnappschüsse aus dem Moment, wenn die Flüssigkeiten aus den Gläsern spritzen.
Ebenfalls starke Farben verwendet Scott Eakin, der seine Bilder teils am Reißbrett entwirft und bei der malerischen Umsetzung mittels Klebeband Farbflächen mit harten Kanten herstellt. Aus dem Augenwinkel betrachtet, scheinen seine abstrakten Kompositionen auch Schatten und Perspektive zu enthalten. Doch bei näherem Hinsehen ergeben sie keine realistischen Räume. Es macht Spaß, sich auf dieses Spiel mit der Wahrnehmung einzulassen.
Am Freitag lädt Pedro Ponce, der fast genauso lang wie Christina Kirchinger, Philipp Ortmeier und ich am VCCA ist, in sein Atelier. Er zeigt uns, wie er in den vergangenen Wochen an seinem Romanprojekt gefeilt hat: Der Plot ist auf Karteikarten notiert und auf eine Pinnwand gesteckt, so dass Szenen verschoben werden können. Auf einer zweiten Pinnwand hängen Karten mit Stichwörtern zu Szenen, die noch nicht geschrieben sind, es aber in den Roman schaffen könnten. (Gerade für mich als Autorin ist es interessant zu sehen, wie andere Schreibende ihre Arbeit organisieren. Den Wunsch, auf diese Weise den Überblick zu gewinnen oder zu behalten, kann ich gut nachfühlen. Auch ich habe die Pinnwand in meinem Atelier fleißig genutzt.)
Freude der Woche
Bei der Bibliothek des Sweet Briar College darf ich inzwischen Bücher ausleihen. (Die vergangenen Wochen habe ich mit mitgebrachten Büchern, mit Ausleihen aus dem Onleihe-Bestand der Münchener Stadtbibliothek und aus der VCCA-Bibliothek überstanden.) Hungrig nach deutschsprachigem Lesestoff suche ich mir einen Stapel zusammen (von dem, was griffbereit ist, fällt meine Wahl auf: zwei Textbücher von Helmut Heißenbüttel, ein Kurzprosa- und Gedichtband von Sarah Kirsch, einen Erzählungsband von Adolf Muschg sowie einen Roman von Monika Maron). Bald zeigt sich, dass die verbleibende Zeit nicht reicht, um meine Ausbeute vollständig zu lesen. Trotzdem tut es gut, hier und da hineinzublättern. Dabei wird mir bewusst, dass ich das in den vergangenen Wochen vermisst habe: den beiläufigen, selbstverständlichen Kontakt zu deutscher Sprache und Literatur.
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Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).
Automatisiertes Beten und explosive Stillleben (7)>
Ans Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) kommen jedes Jahr über 400 Kunstschaffende aus Literatur, Komposition und Bildender Kunst, um an ihren Projekten zu arbeiten. Im Oktober/November 2022 verbringt Carola Gruber sechs Wochen dort im Rahmen des Internationalen Stipendiums Oberpfälzer Künstlerhaus. Für das Literaturportal Bayern hält sie (literarische) Eindrücke von ihrem Aufenthalt fest.
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Beim Abendessen mit anderen Fellows schnappe ich diese Woche einen Dialog auf:
Person A: Wie war dein Tag, Steve?
Person B: ?
Person A: Namen kann ich mir ja echt schlecht merken. Aber deinen habe ich behalten, Steve!
Person B: Ich heiße Scott.
Person A: Oh.
Person B: Nicht schlimm.
Zwar bin ich an dem Gespräch nicht direkt beteiligt, aber so ähnlich hätte mir das auch passieren können. Es sind wieder viele neue Gesichter am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA). Nicht mit allen bin ich über das Grüßen oder die ersten grundlegenden Fragen hinausgekommen („What are you working on?“), als sich die ersten auch schon wieder verabschieden.
Ich ertappe mich dabei, dass ich manchmal müde bin, immer wieder die gleichen Fragen zu beantworten (und zu stellen), mir weiterhin neue Informationen zu merken. Mein Abschied vom VCCA rückt näher, und ich denke über noch zu Erledigendes nach, plane bereits die nächsten Schritte.
Auch Beten kann man outsourcen, oder?
Der Komponist Philipp Ortmeier spielt das Stück Horologium in seinem Atelier
Auch diese Woche darf ich Arbeiten anderer Fellows miterleben, und zwar aus allen Sparten:
Philipp Ortmeier präsentiert am Mittwoch Stücke, die er während seines Aufenthalts komponiert hat, darunter das Chorstück Horologium. Dessen Sätze sind nach einem Sinnspruch benannt, den er einmal auf einer Sonnenuhr gelesen hat: „hora fugit, ombra venit, fides manet, lux transit“ (sinngemäß: „die Stunde vergeht, der Schatten kommt, der Glaube bleibt, das Licht zieht vorbei“). Er spielt uns den dritten Satz erst am Klavier, dann in der Instrumentierung am Computer vor – wir scharen uns andächtig um die Tonquelle wie um ein Lagerfeuer.
Auch die Komponistin Anna Rubin stellt ein Stück vor. Es arbeitet mit elektronischen Klängen und gesprochenem Text aus dem Gedicht Automaton Monk von Rebecca Morgan Frank. Eine Auseinandersetzung mit Robotik und Automation, hinter der eine historische Anekdote steckt. Benannt ist das Gedicht nach einer Skulptur aus dem 16. Jahrhundert, die sich heute in der Sammlung der Smithsonian Institution in Washington befindet: einem Uhrwerkautomaten, der einen betenden Mönch darstellt.
Bei der Figur soll es sich um eine Votivdarstellung von Diego de Alcalá handeln, einem franziskanischen Laienbruder. An dessen Grab betete König Philipp II. für die Genesung seines Sohnes Carlos. Nach der scheinbar wundersamen Heilung des Prinzen wurde Diego de Alcalá heiliggesprochen und der königliche Uhrmacher Juanelo Turriano beauftragt, den betenden Automatenmönch herzustellen. So die Legende. Nebenbei wirft sie die Frage auf, ob man das Beten – nach dem Vorbild anderer unliebsamer Tätigkeiten – ebenfalls outsourcen kann.
Roman auf der Pinnwand
Links: Offenes Atelier von Yen Ha. Rechts: Der Schreibtisch von Pedro Ponce.
Bei den offenen Ateliers am Donnerstag sehe ich neueste Werke von Yen Ha, Robin Harris und Scott Eakin. Yen malt mit sehr reduzierten Mitteln – weißer Farbe auf blauem Grund – verzerrte Schachbrettmuster, die erstaunlich plastische Landschaften ergeben, ohne jedoch konkret fassbar zu sein. Ein Tal? Eine Felswand? Der Meeresgrund? Obwohl die Bilder dieser Reihe vordergründig ähnlich aussehen, lassen sie jeweils ganz unterschiedliche Assoziationen entstehen.
Robin zeigt in farbenfrohen Acrylbildern gastronomische Stillleben, in denen Drinks überlebensgroß gleichsam in Bewegung geraten, wenn Kirschen und Eiswürfel mit Schwung in sie hineinfallen. Schnappschüsse aus dem Moment, wenn die Flüssigkeiten aus den Gläsern spritzen.
Ebenfalls starke Farben verwendet Scott Eakin, der seine Bilder teils am Reißbrett entwirft und bei der malerischen Umsetzung mittels Klebeband Farbflächen mit harten Kanten herstellt. Aus dem Augenwinkel betrachtet, scheinen seine abstrakten Kompositionen auch Schatten und Perspektive zu enthalten. Doch bei näherem Hinsehen ergeben sie keine realistischen Räume. Es macht Spaß, sich auf dieses Spiel mit der Wahrnehmung einzulassen.
Am Freitag lädt Pedro Ponce, der fast genauso lang wie Christina Kirchinger, Philipp Ortmeier und ich am VCCA ist, in sein Atelier. Er zeigt uns, wie er in den vergangenen Wochen an seinem Romanprojekt gefeilt hat: Der Plot ist auf Karteikarten notiert und auf eine Pinnwand gesteckt, so dass Szenen verschoben werden können. Auf einer zweiten Pinnwand hängen Karten mit Stichwörtern zu Szenen, die noch nicht geschrieben sind, es aber in den Roman schaffen könnten. (Gerade für mich als Autorin ist es interessant zu sehen, wie andere Schreibende ihre Arbeit organisieren. Den Wunsch, auf diese Weise den Überblick zu gewinnen oder zu behalten, kann ich gut nachfühlen. Auch ich habe die Pinnwand in meinem Atelier fleißig genutzt.)
Freude der Woche
Bei der Bibliothek des Sweet Briar College darf ich inzwischen Bücher ausleihen. (Die vergangenen Wochen habe ich mit mitgebrachten Büchern, mit Ausleihen aus dem Onleihe-Bestand der Münchener Stadtbibliothek und aus der VCCA-Bibliothek überstanden.) Hungrig nach deutschsprachigem Lesestoff suche ich mir einen Stapel zusammen (von dem, was griffbereit ist, fällt meine Wahl auf: zwei Textbücher von Helmut Heißenbüttel, ein Kurzprosa- und Gedichtband von Sarah Kirsch, einen Erzählungsband von Adolf Muschg sowie einen Roman von Monika Maron). Bald zeigt sich, dass die verbleibende Zeit nicht reicht, um meine Ausbeute vollständig zu lesen. Trotzdem tut es gut, hier und da hineinzublättern. Dabei wird mir bewusst, dass ich das in den vergangenen Wochen vermisst habe: den beiläufigen, selbstverständlichen Kontakt zu deutscher Sprache und Literatur.
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Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).