„Ein neues Gedicht“. Von Nikolai Vogel
Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Zuletzt erschien sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht im gutleut Verlag (2019). Vom 18. März bis 26. April 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube.
Mit dem folgenden Anfang aus seinem neuen Gedichtzyklus beteiligt sich Nikolai Vogel an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Ein neues Gedicht
[Teil I]
in ein Heft schreiben
ein Buch schreiben
anfangen zu schreiben
oder schon lesen
immer weiter lesen
auf der Höhe der Zeile
die Sätze, die Worte, die Verse
die Ferse aufsetzen
tastend zum nächsten
Schritt, der auf Schritt folgt
schon wieder so haltlos
als bleibe Halt
ein leeres Versprechen
unerreicht, unerreichbar
der Blick zurück
auch nur ein Voran
stetig mit Lücken
keine Zeit reicht
weiter als Gegenwart
und kein Beginn trägt
ohne getragen zu werden
macht es das einfach
nicht nur für einmal
die Dinge für später
die aufgestaute Erwartung
Wiederholung, Erholung
das Neue zunächst unbemerkt
wird dann erst gefeiert
wenn es keines Muts mehr bedarf
kommentieren, vergleichen
der erste Eindruck kommt nicht weit
das Begehren hat er geweckt
von allen Seiten betrachtet
kein Zugang, nur Oberfläche beleckt
und doch dieses Echo, Glutkern
getrieben, sich zu verbrennen verlangen
da muss noch mehr sein, so eine Hast
so entfernt es sich nur
wo denn jetzt hin
wie umkehren
um die Umwege geht es
jeder Anfang ein Ende
ein Umweg das All, der Urknall
um dem Nichts ein Schnippchen zu schlagen
können wir das
sind wir dafür geboren
auf Umwegen in den Tod
und Ausweg nie, nirgends
wofür also all die glatten Lebensläufe
diese geradlinigen Karrieren
Tage geplant, Terminkalender gefüllt
so viele Aufgaben, die keine sind
das kann jetzt auch Aufgeben heißen
Kapitulation, Erschöpfung, Besinnung
haben wir die Welt mit Arbeit zugepflastert
und die Erfindung der Freizeit
ein Bonbon, an dem sich viele verschlucken
weil sie gefüllt werden will
mit Tätigkeit, mit Terminen
leicht ist das nicht
die Lektüre vergessen
die Gedanken
weiter gedacht
Abschweifung, Abzweigung
was ist das für ein Ort
in meinem Kopf
so viel Raum
so viel Platz Dinge zu verlegen
zu vergessen nur fast
alles Ablage
das Ordnungssystem unbekannt
Einfall
sich das Wort auf der
Zungenspitze zergehen lassen
oder die zähen Ängste
wie wird man sie los
haben sie uns schon vor der Geburt
besiedelt, beschrieben
aber linear ist das nicht
so vieles, an das anzuschließen wäre
die Sinne ein Fächer
entfachen die Welt
nur wie durch Spitze
Schleier, Vorhang
mit den Jahren das Muster
verstärkt bald ein Gitter
dass man da noch durchsieht
man, wann hat das angefangen
das ist schon das Muster
[Teil II]
der Abstand, aus dem du heraus ich sagst
können wir daran rütteln
fremd ist nur das
was ich mir zu eigen machen will
in erster Linie also
ich selbst
von außen betrachtet
von wo denn auch sonst
der Innenraum liegt hinter den Augen
da kann ich mich drehen wie ich will
und du
drehst du dich mit
brauchen wir einen Fluchtpunkt
nicht unbedingt Zentralperspektive
wie Entfernungen messen
der Anschein von Nähe
ich liebe dich sagen
der Blick und unsere Hände
und nicht über Bedeutung nachdenken
so eine Weite um uns
dass das bleibt
beteuern, beschwören
die Worte wie ein in den See geworfener Stein
und die Kreise breiten sich aus
und entkommen der Fläche doch nicht
nachsinnen, versinken
den Körper verlassen
nicht wir, sondern unsere Sätze
greifen nach uns und den Dingen
und nach der Zeit
nachholen, nachbilden
die Vorstellungen kommen
im Abgleich, Überlappung
Benanntes, Erfahrung
dass das nicht für sich spricht
was konkret werden kann
eine Aussicht, ein Fenster
stehst du davor, bist im Bild
oder schaust du raus
was siehst du
der Zauber der Ankunft
die ersten Seiten
liegt alles so frisch da
oder eine Rückkehr
das Vergangene miterhalten
die Wege erneut
aufgespannt die Sehnsucht
ist alles gesagt
noch mal alles sagen
die Kunst ist Wiederholung
jetzt formuliert
aus der Zeit gehoben, ein Stück
nicht überdauern, sondern andauern
Anschlüsse suchen und prüfen
ins Individuelle gesprochen
aus einer Gemeinsamkeit
die Venus von Willendorf
das Geschlecht, Wachstum, Generationen
die Erste sein, die Letzte sein
Evas Bauchnabel
ein Abschnitt der Geschichte
jede und jeder von uns
das Schreien, Luftholen
dass Luft da ist
Atemzug, Puls
ein Mensch geworden woher
in diesen sich drehenden Räumen
wo Innerstes und Äußerstes sich immerzu weiter öffnet
die subatomare Struktur und der Umfang des Alls
weit gereistes Licht, das bei uns eintrifft
und wie Licht sich so lange hält
Perspektivenwechsel ständig, mal Einstein, mal Freud
Formeln und Sätze, auch auf Klatsch Appetit
wer mit wem und wer nicht mehr
Krankheit, Gefängnis, ein Unglück, ein Unfall
zu Geld gekommen, weggezogen, verstorben
weißt du noch, wie der ausgesehen hat
und sie hat doch immer
klicken, wischen, umblättern
Fingerfertigkeiten, Mnemotechnik
plötzlich wiedererinnert
unvermittelt, woher kommt das jetzt
war doch gerade noch
Gedankensprung, bin das ich
oder die Umgebung, Auslöser, Schnappschuss
die Haut auf den Ellbogen
Kniekehle, Adergeflecht
über den Körper nachdenken
im Körper nachdenken
[Teil III]
Körperlichkeit, ewige Werte
Wahrheiten, gelernte, erfahrene
und die Lüge, gesellt sie sich gleich dazu
einen Vorteil verschaffen
oder den Kopf aus der Schlinge
sind die Redensarten so schnell zur Hand
eine Schwierigkeit, Sätze anders zu sagen
die Sätze nicht nur neu formulieren
vielmehr geht es darum, neue Sätze zu wagen
auf die Waage zu legen, was hat denn Gewicht
die Freiheit zu denken, sie hängt ab von den Worten
und muss sich auch von den Worten befreien
die Obertöne oder Basso continuo
sich tragen lassen und doch den Absprung
nicht verpassen, zu langes Zögern
verlegt alles auf Schienen
geschlagene Schneisen, Wege, Transport
kein Aufenthalt, keine Flucht, kein Entzücken
die gefundene Bleibe mit Sicht
und jeder Tag neu und vertraut
Atembewegung, Verdauung, der Schlaf
nein, das Idyll ist verloren, längst
an eine Zukunft, die nicht wird
ausgedacht, was auch immer ausdenken heißt
bleiben wir bei den Tatsachen
Tatsachen, die so oft Tatorte sind
Tortenstück, Filet und der Rest vom Kuchen
nicht mehr der Rede wert, längst gegessen
einverleibt, vermessen, Zaun drum
in Besitz nehmen, Besitz nehmen
oder das Leben, Grabstein, verscharrt
Schlagbaum, die Grenze geschlossen, Nation
national, von Geburt, Erbrecht
wie in der eigenen Kotze ersticken
wegschauen, geht mich nichts an
kannst du nicht mal was Positives
Badeurlaub und weiter draußen versinken die Menschen
das hält alles nicht ewig
sogar der Sand ist bald alle
nimm dir vielleicht noch eine Schaufel voll mit
dass etwas übrig bleibt fürs Spiel
hast schon an den Burgen gesehen, wie vergänglich das ist
ein, zwei Wellen Zeit drüber
die Form löst sich auf
andere Kinder können morgen von vorne beginnen
so lange wir etwas übrig lassen
womit noch etwas zu beginnen ist
es fehlt an so vielem
und doch nirgends Platz
die Stapel um uns herum
die saugenden Apparaturen
versorgen uns rundum mit Bildern
ein Stachel im Fleisch unserer Neugier
Widerhaken gesetzt in Gefallsucht
Selbstgefälligkeit, gespreizt und gespiegelt
im Bild ich
im Bild ich vor dem Rest der Welt
wo ist sie hin, die alte Langeweile
die Langeweile von früher, Schulnachmittage, Zeitlang
versteckt sie sich jetzt hinter den Dingen
Bildhintergrund, Dauerpräsenz
eine Drehbühne, Selfie
nicht mehr mir ist langweilig
sondern ich bin langweilig
also schneide ich Grimassen
auswählen, welches Ich hält
und gerinnt immer mehr zum Ausstattungsstück
stolz auf die tolle Umgebung
stolz auf das, was es trägt
Ich ist eine Marke
Ich ist ein Versprechen
uneinlösbar, unerlöst, unerhört
wieder der Stein, der sinkt
und du siehst nur Kreise
je größer sie werden, desto weniger bleibt
wie lange noch, die Strömung der Zeit
sie nimmt uns nur ein Stück mit
und nirgends ein Ufer
aber von wo aus gesprungen
wie also hierher gekommen
an genau diesen Moment
im Text jetzt gleich mehrmals
in die Zeit gesetzt
für jede Lektüre
das Schreiben so ein stiller Vorgang
eine Art tastendes Lesen
ein Vor- oder Nachsprechen
formen die Worte das, was schon da war
oder bilden sie es erst aus
[Teil IV]
Wahrnehmung, Vorstellung, Denken
wie das ineinandergreift
wie es sich gegenseitig befeuert
kaum mehr auseinanderzuhalten
dieser Zusammenhang, der Realität heißt
ungleichzeitig gestartet, Distanz unbekannt
den Anfang hat niemand erlebt
einen Zieleinlauf gibt es nicht wirklich
also lass dich ruhig überholen
laufe dem Tod nicht nach
nach dir das Leben, nicht das Grab
nach mir das Leben, nicht das Grab
wie lange noch, wir wissen es nicht
und wenn im All kein Leben wäre
nicht mehr, noch nicht, nie mehr
wäre kein Grab, kein Kopfzerbrechen
keine Trauer und Angst
keine Liebe, Erregung
keine Frage
die Antwort auf alles
wenn das vorbei ist
als wäre es nie gewesen
sind die Toten schon da
das Relative ist das Absolute
das All überall
das All ist der Fall
Zufall oder Bestimmung
zersetzt sich, bildet sich neu
wir bereisen nur dieses Abseits
noch ist alles so groß
die Blicke, die wir werfen
auch wenn sie immer weiter reichen
hinaus, verlängert, vergrößert, verstärkt
sie fallen auf uns zurück
wir schauen uns an
sehen wir, wie es uns geht
diese aufrecht gehaltene Fassade
fallen lassen
diese Unnahbarkeit
und was alles weggesperrt ist
in dunklen Tresoren
gestapelte Werte, Liegenschaften
als könnten wir damit
als gäbe uns das
die Schlüssel vergessen
haben uns längst ausgesperrt
in die Bildschirme und Speicher
eingesogen unsere Sehnsucht
wir aber bleiben außen vor
oder bleiben zurück
als Abklatsch unserer Porträts
Selbstbildnisse in denen das Selbst sich verfestigt
haben die Spiegel endgültig die Macht über uns
hat Jahrtausende gedauert und jetzt
ist es so schnell gegangen
sehen uns zu, wie wir verschwinden
aus dem Raum geholt, in den ich gestellt bin
hältst du mich jetzt auch in der Hand
unterhalten wir uns in Gedanken
glotzt du mich nicht nur an
und ich schaue ins Leere
es formt sich dennoch
es geht gar nicht anders
die Erinnerungen, die Kombinatorik
und das, was kommt, einfach so
dass was kommt, einfach so
nichts Besonderes scheint es
dann eine unerhörte Begebenheit
im Wandschrank versteckt
dem Wahnsinn verfallen
und kommt jetzt ans Licht
das Manuskript aus der Schublade
worin es nie lag, oder woran
ohne Zweifel wäre es witzlos
denke erst gar nicht daran
das alles festlegen zu wollen
das alles auslegen
der Stellenkommentar bleibt in Bewegung
die Scheine hinblättern, Spielhölle, Striptease
wann aufhören, wie viel noch
abgebrannt, blank, Hose runter
die Visiere, Schutzschilde, verspiegeltes Glas
zwischenmenschlich und was das heißt
Blümchensex, Natursekt, Prüderie
wo du hinfasst mit deinen Blicken
warum uns dieser Körper so interessiert
eingeschrieben in jede Zelle
wenn das alles Zellen sind
sind wir dann der Knast
„Ein neues Gedicht“. Von Nikolai Vogel>
Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Zuletzt erschien sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht im gutleut Verlag (2019). Vom 18. März bis 26. April 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube.
Mit dem folgenden Anfang aus seinem neuen Gedichtzyklus beteiligt sich Nikolai Vogel an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.
*
Ein neues Gedicht
[Teil I]
in ein Heft schreiben
ein Buch schreiben
anfangen zu schreiben
oder schon lesen
immer weiter lesen
auf der Höhe der Zeile
die Sätze, die Worte, die Verse
die Ferse aufsetzen
tastend zum nächsten
Schritt, der auf Schritt folgt
schon wieder so haltlos
als bleibe Halt
ein leeres Versprechen
unerreicht, unerreichbar
der Blick zurück
auch nur ein Voran
stetig mit Lücken
keine Zeit reicht
weiter als Gegenwart
und kein Beginn trägt
ohne getragen zu werden
macht es das einfach
nicht nur für einmal
die Dinge für später
die aufgestaute Erwartung
Wiederholung, Erholung
das Neue zunächst unbemerkt
wird dann erst gefeiert
wenn es keines Muts mehr bedarf
kommentieren, vergleichen
der erste Eindruck kommt nicht weit
das Begehren hat er geweckt
von allen Seiten betrachtet
kein Zugang, nur Oberfläche beleckt
und doch dieses Echo, Glutkern
getrieben, sich zu verbrennen verlangen
da muss noch mehr sein, so eine Hast
so entfernt es sich nur
wo denn jetzt hin
wie umkehren
um die Umwege geht es
jeder Anfang ein Ende
ein Umweg das All, der Urknall
um dem Nichts ein Schnippchen zu schlagen
können wir das
sind wir dafür geboren
auf Umwegen in den Tod
und Ausweg nie, nirgends
wofür also all die glatten Lebensläufe
diese geradlinigen Karrieren
Tage geplant, Terminkalender gefüllt
so viele Aufgaben, die keine sind
das kann jetzt auch Aufgeben heißen
Kapitulation, Erschöpfung, Besinnung
haben wir die Welt mit Arbeit zugepflastert
und die Erfindung der Freizeit
ein Bonbon, an dem sich viele verschlucken
weil sie gefüllt werden will
mit Tätigkeit, mit Terminen
leicht ist das nicht
die Lektüre vergessen
die Gedanken
weiter gedacht
Abschweifung, Abzweigung
was ist das für ein Ort
in meinem Kopf
so viel Raum
so viel Platz Dinge zu verlegen
zu vergessen nur fast
alles Ablage
das Ordnungssystem unbekannt
Einfall
sich das Wort auf der
Zungenspitze zergehen lassen
oder die zähen Ängste
wie wird man sie los
haben sie uns schon vor der Geburt
besiedelt, beschrieben
aber linear ist das nicht
so vieles, an das anzuschließen wäre
die Sinne ein Fächer
entfachen die Welt
nur wie durch Spitze
Schleier, Vorhang
mit den Jahren das Muster
verstärkt bald ein Gitter
dass man da noch durchsieht
man, wann hat das angefangen
das ist schon das Muster
[Teil II]
der Abstand, aus dem du heraus ich sagst
können wir daran rütteln
fremd ist nur das
was ich mir zu eigen machen will
in erster Linie also
ich selbst
von außen betrachtet
von wo denn auch sonst
der Innenraum liegt hinter den Augen
da kann ich mich drehen wie ich will
und du
drehst du dich mit
brauchen wir einen Fluchtpunkt
nicht unbedingt Zentralperspektive
wie Entfernungen messen
der Anschein von Nähe
ich liebe dich sagen
der Blick und unsere Hände
und nicht über Bedeutung nachdenken
so eine Weite um uns
dass das bleibt
beteuern, beschwören
die Worte wie ein in den See geworfener Stein
und die Kreise breiten sich aus
und entkommen der Fläche doch nicht
nachsinnen, versinken
den Körper verlassen
nicht wir, sondern unsere Sätze
greifen nach uns und den Dingen
und nach der Zeit
nachholen, nachbilden
die Vorstellungen kommen
im Abgleich, Überlappung
Benanntes, Erfahrung
dass das nicht für sich spricht
was konkret werden kann
eine Aussicht, ein Fenster
stehst du davor, bist im Bild
oder schaust du raus
was siehst du
der Zauber der Ankunft
die ersten Seiten
liegt alles so frisch da
oder eine Rückkehr
das Vergangene miterhalten
die Wege erneut
aufgespannt die Sehnsucht
ist alles gesagt
noch mal alles sagen
die Kunst ist Wiederholung
jetzt formuliert
aus der Zeit gehoben, ein Stück
nicht überdauern, sondern andauern
Anschlüsse suchen und prüfen
ins Individuelle gesprochen
aus einer Gemeinsamkeit
die Venus von Willendorf
das Geschlecht, Wachstum, Generationen
die Erste sein, die Letzte sein
Evas Bauchnabel
ein Abschnitt der Geschichte
jede und jeder von uns
das Schreien, Luftholen
dass Luft da ist
Atemzug, Puls
ein Mensch geworden woher
in diesen sich drehenden Räumen
wo Innerstes und Äußerstes sich immerzu weiter öffnet
die subatomare Struktur und der Umfang des Alls
weit gereistes Licht, das bei uns eintrifft
und wie Licht sich so lange hält
Perspektivenwechsel ständig, mal Einstein, mal Freud
Formeln und Sätze, auch auf Klatsch Appetit
wer mit wem und wer nicht mehr
Krankheit, Gefängnis, ein Unglück, ein Unfall
zu Geld gekommen, weggezogen, verstorben
weißt du noch, wie der ausgesehen hat
und sie hat doch immer
klicken, wischen, umblättern
Fingerfertigkeiten, Mnemotechnik
plötzlich wiedererinnert
unvermittelt, woher kommt das jetzt
war doch gerade noch
Gedankensprung, bin das ich
oder die Umgebung, Auslöser, Schnappschuss
die Haut auf den Ellbogen
Kniekehle, Adergeflecht
über den Körper nachdenken
im Körper nachdenken
[Teil III]
Körperlichkeit, ewige Werte
Wahrheiten, gelernte, erfahrene
und die Lüge, gesellt sie sich gleich dazu
einen Vorteil verschaffen
oder den Kopf aus der Schlinge
sind die Redensarten so schnell zur Hand
eine Schwierigkeit, Sätze anders zu sagen
die Sätze nicht nur neu formulieren
vielmehr geht es darum, neue Sätze zu wagen
auf die Waage zu legen, was hat denn Gewicht
die Freiheit zu denken, sie hängt ab von den Worten
und muss sich auch von den Worten befreien
die Obertöne oder Basso continuo
sich tragen lassen und doch den Absprung
nicht verpassen, zu langes Zögern
verlegt alles auf Schienen
geschlagene Schneisen, Wege, Transport
kein Aufenthalt, keine Flucht, kein Entzücken
die gefundene Bleibe mit Sicht
und jeder Tag neu und vertraut
Atembewegung, Verdauung, der Schlaf
nein, das Idyll ist verloren, längst
an eine Zukunft, die nicht wird
ausgedacht, was auch immer ausdenken heißt
bleiben wir bei den Tatsachen
Tatsachen, die so oft Tatorte sind
Tortenstück, Filet und der Rest vom Kuchen
nicht mehr der Rede wert, längst gegessen
einverleibt, vermessen, Zaun drum
in Besitz nehmen, Besitz nehmen
oder das Leben, Grabstein, verscharrt
Schlagbaum, die Grenze geschlossen, Nation
national, von Geburt, Erbrecht
wie in der eigenen Kotze ersticken
wegschauen, geht mich nichts an
kannst du nicht mal was Positives
Badeurlaub und weiter draußen versinken die Menschen
das hält alles nicht ewig
sogar der Sand ist bald alle
nimm dir vielleicht noch eine Schaufel voll mit
dass etwas übrig bleibt fürs Spiel
hast schon an den Burgen gesehen, wie vergänglich das ist
ein, zwei Wellen Zeit drüber
die Form löst sich auf
andere Kinder können morgen von vorne beginnen
so lange wir etwas übrig lassen
womit noch etwas zu beginnen ist
es fehlt an so vielem
und doch nirgends Platz
die Stapel um uns herum
die saugenden Apparaturen
versorgen uns rundum mit Bildern
ein Stachel im Fleisch unserer Neugier
Widerhaken gesetzt in Gefallsucht
Selbstgefälligkeit, gespreizt und gespiegelt
im Bild ich
im Bild ich vor dem Rest der Welt
wo ist sie hin, die alte Langeweile
die Langeweile von früher, Schulnachmittage, Zeitlang
versteckt sie sich jetzt hinter den Dingen
Bildhintergrund, Dauerpräsenz
eine Drehbühne, Selfie
nicht mehr mir ist langweilig
sondern ich bin langweilig
also schneide ich Grimassen
auswählen, welches Ich hält
und gerinnt immer mehr zum Ausstattungsstück
stolz auf die tolle Umgebung
stolz auf das, was es trägt
Ich ist eine Marke
Ich ist ein Versprechen
uneinlösbar, unerlöst, unerhört
wieder der Stein, der sinkt
und du siehst nur Kreise
je größer sie werden, desto weniger bleibt
wie lange noch, die Strömung der Zeit
sie nimmt uns nur ein Stück mit
und nirgends ein Ufer
aber von wo aus gesprungen
wie also hierher gekommen
an genau diesen Moment
im Text jetzt gleich mehrmals
in die Zeit gesetzt
für jede Lektüre
das Schreiben so ein stiller Vorgang
eine Art tastendes Lesen
ein Vor- oder Nachsprechen
formen die Worte das, was schon da war
oder bilden sie es erst aus
[Teil IV]
Wahrnehmung, Vorstellung, Denken
wie das ineinandergreift
wie es sich gegenseitig befeuert
kaum mehr auseinanderzuhalten
dieser Zusammenhang, der Realität heißt
ungleichzeitig gestartet, Distanz unbekannt
den Anfang hat niemand erlebt
einen Zieleinlauf gibt es nicht wirklich
also lass dich ruhig überholen
laufe dem Tod nicht nach
nach dir das Leben, nicht das Grab
nach mir das Leben, nicht das Grab
wie lange noch, wir wissen es nicht
und wenn im All kein Leben wäre
nicht mehr, noch nicht, nie mehr
wäre kein Grab, kein Kopfzerbrechen
keine Trauer und Angst
keine Liebe, Erregung
keine Frage
die Antwort auf alles
wenn das vorbei ist
als wäre es nie gewesen
sind die Toten schon da
das Relative ist das Absolute
das All überall
das All ist der Fall
Zufall oder Bestimmung
zersetzt sich, bildet sich neu
wir bereisen nur dieses Abseits
noch ist alles so groß
die Blicke, die wir werfen
auch wenn sie immer weiter reichen
hinaus, verlängert, vergrößert, verstärkt
sie fallen auf uns zurück
wir schauen uns an
sehen wir, wie es uns geht
diese aufrecht gehaltene Fassade
fallen lassen
diese Unnahbarkeit
und was alles weggesperrt ist
in dunklen Tresoren
gestapelte Werte, Liegenschaften
als könnten wir damit
als gäbe uns das
die Schlüssel vergessen
haben uns längst ausgesperrt
in die Bildschirme und Speicher
eingesogen unsere Sehnsucht
wir aber bleiben außen vor
oder bleiben zurück
als Abklatsch unserer Porträts
Selbstbildnisse in denen das Selbst sich verfestigt
haben die Spiegel endgültig die Macht über uns
hat Jahrtausende gedauert und jetzt
ist es so schnell gegangen
sehen uns zu, wie wir verschwinden
aus dem Raum geholt, in den ich gestellt bin
hältst du mich jetzt auch in der Hand
unterhalten wir uns in Gedanken
glotzt du mich nicht nur an
und ich schaue ins Leere
es formt sich dennoch
es geht gar nicht anders
die Erinnerungen, die Kombinatorik
und das, was kommt, einfach so
dass was kommt, einfach so
nichts Besonderes scheint es
dann eine unerhörte Begebenheit
im Wandschrank versteckt
dem Wahnsinn verfallen
und kommt jetzt ans Licht
das Manuskript aus der Schublade
worin es nie lag, oder woran
ohne Zweifel wäre es witzlos
denke erst gar nicht daran
das alles festlegen zu wollen
das alles auslegen
der Stellenkommentar bleibt in Bewegung
die Scheine hinblättern, Spielhölle, Striptease
wann aufhören, wie viel noch
abgebrannt, blank, Hose runter
die Visiere, Schutzschilde, verspiegeltes Glas
zwischenmenschlich und was das heißt
Blümchensex, Natursekt, Prüderie
wo du hinfasst mit deinen Blicken
warum uns dieser Körper so interessiert
eingeschrieben in jede Zelle
wenn das alles Zellen sind
sind wir dann der Knast