„In Stücken ruhe ich hier“. Von Valérie Forgues

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Foto: Marilyn Forgues

Valérie Forgues wurde 1978 in Château-Richer, Côté-de-Beaupré, Québec, geboren und lebt in Québec City. Sie hat Kreatives Schreiben und Theater an der Université Laval studiert. Neben dem Schreiben arbeitet sie als literarische Leiterin des Lyrikverlages Le lézard amoureux. Außerdem ist sie in der Bibliothek der Maison de la littérature in Québec City tätig. Schreibaufenthalte führten sie unter anderem nach Lateinamerika, Europa, Afrika und in den Nahen Osten. Sie verfasst Lyrik, etwa die Bände Une robe pour la chasse (2015), Jeanne forever (in Zusammenarbeit mit Stéphanie Filion, 2015) sowie Radiale (2021). 2010 erschien ihr Roman Adèle encore une fois. Ein zweiter Roman, Janvier tous les jours, kam 2017 heraus. Derzeit hält sich Forgues als Stipendiatin des Oberpfälzer Künstlerhauses in Schwandorf auf.

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In Stücken ruhe ich hier*

 

Das Hochgefühl, das das Schreiben verspricht, wird geschmälert von Angst, von Erwartung: Was würde ich durch das Schreiben finden können, indem ich dem Gang, der Spur der Worte folge? Dann kommt es vor, dass ich lieber online surfe, kostbare alte E-Mails wiederlese, mir Warenkörbe mit imaginierten Kleidern fülle, die ein einziger Klick innerhalb der nächsten 24 Stunden zu mir bringen könnte.

 

Ich habe den Autorinnen, die eingeladen waren, an dem Projekt zu Ein Zimmer für sich allein teilzunehmen, geschrieben, dass es sich um ein für mich wichtiges Buch handelt; es gibt meiner Wut auf die Ungleichheiten, meinem unbedingten Wunsch, ein dem Schreiben geweihtes Leben zu führen, Worte, es öffnet meine inneren Horizonte und macht mir Mut in den Augenblicken des Zweifels.

Ich hoffte, sie würden Virginias Ruf vernehmen: „Ich müsste Sie beschwören, sich an Ihre Verantwortung zu erinnern, nach dem Höheren, Geistigen zu streben; ich müsste Sie daran erinnern, wie viel von Ihnen abhängt und was für einen Einfluss Sie auf die Zukunft haben können.“

Mögen sie auf ihre Weise in den Text hineinfinden, oder auch nicht, wer weiß.

Mögen sie besondere Bereiche ihrer Schreibzimmer, ihrer inneren Zimmer erkunden; mögen sie ihre Mauern sprengen.

 

Ich habe meine Maîtrise im Mai 2010 beendet und ein paar Wochen später an der Überreichung der Urkunden teilgenommen. Anfang Juli 2010 betrete ich das Einzimmerappartement, in dem ich bis Ende September wohnen werde. Mir fallen sofort die Spinnweben in den Ecken auf. „Schreibresidenz“ hatte in mir die Vorstellung von „Hotelzimmer“ geweckt. Wie hätte ich es wissen sollen, es ist meine erste Residenz. Und die Spinnweben sind mir herzlich egal. Ich mag es auf Anhieb, dieses Zimmer, wegen der Fülle an Zeit, Stille und Versprechen, die es mir bietet.

Ich bin in Frankreich, in einem Dorf in der Champagne, um zu schreiben, unabhängig von der Universität, ohne den Blick meiner Professoren, ohne den meines Direktors, dank einem Stipendium des Conseil des Arts du Canada und einem der Offices jeunesse Internationaux du Québec.

Das Diplom in der Tasche, mit drei Broschüren und ein paar in Zeitschriften veröffentlichten Texten bin ich keine Studentin mehr, die davon träumt, Schriftstellerin zu werden. Ich bin eine Autorin in residence. Mir dessen bewusst zu werden erfüllt mich mit großer Freude und Unsicherheit.

 

In Drifts, einem faszinierenden nicht-fiktionalen Text, in dem eine Erzählerin, die versucht, ein Buch zu schreiben, uns an ihrem inneren Vagabundieren teilhaben lässt, schreibt Kate Zambreno: „Die Hauptsache ist, mich zu erinnern, das Internet auszuschalten. Der Schlüssel ist, mich zu bemühen, ruhig zu bleiben.“

Sehr lange hatte ich zu Hause kein Internet. Ich ging in die Bibliothek, wenn es nötig war. In meinem Appartement während meiner ersten Residenz hatte ich ebenfalls keinen Internetzugang. Das war kein Problem für mich. Zehn Jahre später hat sich das geändert.

 

Vor dem Bildschirm meines Computers, wenn alles vorbereitet und der Wunsch stark ist, mit dem Schreiben anzufangen, geschieht es oft, dass ich wie hypnotisiert die Schnipsel des Lebens der anderen auf Facebook oder Instagram abspule. Die Zeit steht still, zieht sich in die Länge, verflüchtigt sich. Eine Stimme, meine, hallt in mir wider, sagt mir, damit aufzuhören, meine Zeit fürs Schreiben aufzuwerten, mich um mein inneres Zimmer zu kümmern. Also werde ich zu einer Kate Zambreno, einer France Gall und schalte alles aus. Ich bleibe ruhig.

 

Im Juni 2022 schreibt mir meine Freundin D.: „Ich fahre vom 16. bis 24. Juli in Urlaub. Ich biete dir mein Haus an, wie man ein Chalet mietet. Du kannst dort wohnen mit P. und deiner Katze, mit deiner Schwester oder allein. Das würde dir gut tun. Einfach nur wegen der Milde der Tage.“

Ich denke an die Worte von Marguerite Duras: „In einem Haust ist man allein. Und nicht außerhalb, sondern innerhalb des Hauses.“

Weil sie selten, kostbar, so häufig fruchtbar ist, habe ich die Einsamkeit gewählt.

 

Aus dem Französischen von Michael v. Killisch-Horn

 

*Die Zeile „In Stücken ruhe ich hier“ – im Original „En morceaux c'est ici que je repose“ – ist dem Lied Chaussée von Les Louanges entnommen.