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Kultur trotz Corona: „Schöne Aussicht“. Von Carola Gruber

Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).

Mit der folgenden Kurzgeschichte über eine Zufallsbegegnung mit Manuel, der es mit der Wahrheit nicht immer so genau nimmt, beteiligte sich Carola Gruber an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER. Der Text erscheint in Kürze auch in einer Anthologie im Rahmen des Projekts „Wordshop“ der Jungen Akademie der Technischen Universität München (TUM). Die Anthologie u.d.T. Unerwartete Begegnungen (hg. v. Prof. Dr. Thomas F. Hofmann) kann über die Junge Akademie bezogen werden.

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Schöne Aussicht

 

Seit der Brief angekommen ist, denke ich immer wieder daran, wie ich vor Kurzem beinahe Trauzeugin geworden wäre. Zumindest glaubte ich das.

 

Bereits am ersten Abend im Kloster brachte er mich zum Lachen. Wie ein guter Freund zog er mich auf, und gedanklich zählte ich ihn schon dazu. Dabei konnte ich mir seinen Namen kaum merken.

Er war zehn Jahre jünger als ich, hatte aber viel erlebt: mit vierzehn die Eltern verloren, im Internat und bei wechselnden Verwandten aufgewachsen, mit fünfzehn eine Beziehung zu einer älteren Frau begonnen und mit ihr die Welt bereist. Seine Eltern hatten ihm viel Geld hinterlassen.

Manuel war eine gute Ablenkung, dachte ich damals. Jeden Tag sah ich ihn beim Frühstück, das die Nonnen um Punkt sieben herrichteten. Wir waren die einzigen Gäste.

Er war fasziniert von Sex an ungewöhnlichen Orten. Dank seiner neuen Freundin habe er die Liste, die er insgeheim führe, kürzlich erweitert, erzählte er: Sex im Kloster. Überhaupt sei sie der Grund für seinen Aufenthalt hier. Sie habe Zuflucht gesucht, wie ich, und er habe sie begleitet. Gemeinsam hätten sie bis zu ihrer Abreise eine gute Zeit verbracht, sagte er und lächelte mehrdeutig. Und nun gefalle es ihm so gut hier, dass er noch etwas bleibe.

Zwischen den Mahlzeiten ging ich spazieren. Oft schloss sich Manuel an. Wir unterhielten uns über meine gescheiterte Beziehung und über den frühen Tod seiner Eltern, der ihn noch immer sehr beschäftigte. Mein Liebeskummer kam mir daneben lächerlich klein vor. Bei unserer Rückkehr hatte das Abendessen meist schon begonnen. Die Oberin sah uns streng an.

Seine Freundin besuchte ihn nie. Wenn ich Manuel darauf ansprach, antwortete er ausweichend.

Einmal schlug er vor, dass wir sie besuchen. Inzwischen glaubte ich kaum noch an ihre Existenz. Ich sagte sofort zu. Wir nahmen mein Auto, und er erzählte, seiner Freundin gehe es nicht gut. Ich rechnete damit, dass wir umkehren würden, doch da wies er mich an, bei einer Klinik zu halten.

Im fünften Stock drückte er eine Klingel vor einer Panzerglastür, und ich begriff endlich, wie seine Bemerkung gemeint gewesen war.

Ihr Blick glitt unsicher zwischen Manuel und mir hin und her, er stellte mich vor. Sie musterte mich, und ich sie. Ohren und Nase zu groß für das Gesicht, die Wangen fahl. Als ich sie umarmte, spürte ich ihre Schulterblätter durch den Pulli und dachte daran, wie Manuel vom Sex mit ihr erzählt hatte: seiner Angst davor, in den zerbrechlichen Körper zu stoßen.

„Schöne Aussicht“, sagte ich auf dem Balkon, weil mir nichts anderes einfiel. Der Balkon war mit Netzen gesichert.

Sie umklammerte eine Tasse, nippte Kakao in winzigen Schlucken, als wolle sie eigentlich gar nichts trinken. Die grauen Zähne zeigte sie nur, wenn Manuel sie zum Lachen brachte.

Nicht Untergewicht, Magersucht und Bulimie hätten sie in die Klinik gebracht, sondern ein Selbstmordversuch, erzählte Manuel später. Er sei ihr Pfleger gewesen. Erst hätten es die Kollegen auf der Station nicht gern gesehen, aber seit er seinen Job für sie aussetze, duldeten sie die Beziehung.

 

Ich schlief schlecht, dachte immer wieder an den Blick vom Balkon und daran, wie ungeschickt ich die „schöne Aussicht“ gelobt hatte.

Am nächsten Tag meinte Manuel, er müsse reden.

„Meine Freundin ist vielleicht schwanger“, sagte er. Natürlich wünsche er sich eine Familie „mit allem Drum und Dran“, aber so jung wolle er nicht Vater werden.

Bei den nächsten Mahlzeiten fehlte er. Die Oberin fragte mich nach ihm, war erstaunt, dass ich nichts wusste, und gab mir zu verstehen, es gehöre sich nicht, dass er und ich so viel Zeit miteinander verbrachten.

Ich war erleichtert, als es zwei Tage später an meiner Tür klopfte. Wir fuhren in die Klinik.

Diesmal hielt sie keine Tasse, sondern saß so dicht neben ihm, als wolle sie in ihn hineinkriechen. Sie sah mich an, als habe sie eine Frage, die sie jedoch nicht stellte.

„Wir haben uns verlobt“, sagte Manuel. Sie sah auf ihre Ärmel, und er fragte: „Willst du unsere Trauzeugin werden?“

Ich war so überrascht, dass ich sofort einwilligte. Erst später dachte ich, dass er mich überrumpelt hatte.

 

In den nächsten Tagen erkundigten wir uns nach Trauringen. Weil seine Freundin keinen Ausgang hatte, sollte ich die Vorauswahl treffen. Manuel verbrachte so viel Zeit mit mir, dass ich ihn fragte, ob er keine anderen Freunde habe.

„Es tut gut, mit jemandem Zeit zu verbringen, der auch aus Berlin kommt, wie ich“, sagte er in breitem Bayerisch. Ich sah ihn verwirrt an, und er erklärte achselzuckend, er nehme den Dialekt seiner Umgebung eben schnell an. Wegen des frühen Tods seiner Eltern bemühe er sich immer, dazuzugehören.

Die Hochzeitsvorbereitungen vereinnahmten ihn so sehr, dass er vergaß, die Kleidung zu wechseln oder Geld einzustecken. Mehrmals legte ich Geld für Kaffee und Zigaretten aus.

„Eigentlich wollte ich Rallyefahrer werden“, sagte er einmal unvermittelt. Er sei bereits für einen Wettkampf angemeldet. Nun könne er wegen der Hochzeit nicht teilnehmen. Seine Freundin kapiere das nicht. Ebenso wenig verstehe sie, dass er auf sein Konto nicht zugreifen könne, da sich die Auslieferung seiner Premium-Kreditkarte verzögere. Er sah mich an, als wisse ich, wovon er rede. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass es nicht so sei.

 

Seine Freundin habe einen Ring ausgesucht, erzählte mir Manuel kurz darauf. Er werde ihn sofort kaufen, und ich solle ihn begleiten, wegen der Passform. Ich bezweifelte, helfen zu können, kam aber mit.

Manuel orderte den teuersten Ring aus der Vorauswahl, sagte beiläufig, wir müssten mit meiner Kreditkarte bezahlen, da seine noch immer nicht ausgeliefert sei. Ich weigerte mich, er beharrte. Er überweise das Geld sofort und übernehme den Dispozins, falls nötig. „Manchmal vergesse ich, dass nicht jeder über solche Summen verfügt wie ich“, sagte er. Ich lehnte erneut ab, und er entschuldigte sich beim Juwelier vielmals für mich.

Mit einem Mal hatte ich den Eindruck, dass unsere gesamte Bekanntschaft auf diesen Moment zugelaufen war.

 

Zu den nächsten Mahlzeiten kam Manuel nicht, und er antwortete auch nicht auf meine Nachrichten. Ich machte mir Sorgen. In einer SMS bat ich ihn sogar um Verzeihung.

Die Oberin fragte mich nach ihm, doch ich wusste nichts zu sagen. Den Vorfall beim Juwelier erwähnte ich nicht.

Fliederfarbene Post-its mit kurzen Nachrichten klebten auf Manuels Tür: Lieber Manuel, kommen Sie zurecht? Und: Würden Sie sich bitte bei mir melden? Die enge, regelmäßige Schrift der Oberin. Jeder Buchstabe war eine Ermahnung.

Ich dachte an Manuels Freundin, hatte ein ungutes Gefühl und überlegte, sie allein in der Klinik zu besuchen.

 

Eine Woche später tauchte Manuel wieder auf, dankte mir. Wegen der Ringe habe seine Freundin einen Streit angefangen. „Das ist mir eine Lehre“, sagte er abfällig. Er werde sich nicht mehr mit Leuten aus einer niedrigeren Schicht abgeben. Ich fühlte mich mitgemeint. Trotzdem sprach er weiter.

Am Wochenende habe er eine Frau kennengelernt, ebenfalls sehr reich. Kein Skelett wie seine Freundin, sondern eine echte Frau. Mit ihr habe er die Zeit im Bett verbracht, das heißt, nicht nur im Bett. Gleich mehrere neue Orte stünden jetzt auf seiner Liste. Er ging ins Detail, bevor ich ihn aufhalten konnte. Das Skelett habe währenddessen immer wieder angerufen, er habe die Anrufe weggedrückt.

„Und die Hochzeit?“, versuchte ich. „Und …“, ich fasste mir an den Bauch, ohne den Satz zu beenden.

Er zuckte mit den Achseln. Er glaube nicht, dass sie in ihrem Zustand schwanger werden könne. Übrigens seien er und ein Kumpel als Fahrer bei der Rallye eingetragen. Sie bräuchten noch jemanden für die Dokumentation. Ob ich das übernehmen könne. Er sah mich an, als sei das ein Befehl.

„Ich überlege es mir“, sagte ich möglichst leicht.

Plötzlich erschien es mir willkürlich, dass er und ich die Station frei verlassen konnten, seine Freundin aber nicht.

 

Das war das letzte Mal, dass ich Manuel sah. Ein paar Tage später rief er an und wollte mein Auto ausleihen, aber ich lehnte unter einem Vorwand ab.

Ich fuhr zur Klinik, hielt auf dem Parkplatz und zögerte. Was würde ich sagen? Was, wenn mein Besuch es nur schlimmer machte?

Ich stieg nicht aus.

Vor meiner Abreise fragte ich die Oberin, ob sie von Manuel oder seiner Freundin etwas gehört habe, doch sie schüttelte nur missbilligend den Kopf, und ich fragte mich, was Manuel hinter meinem Rücken erzählt hatte.

 

Gestern erreichte mich der Brief. An der Adresse erkannte ich die Handschrift der Oberin. Im Kuvert lag kommentarlos ein Zeitungsartikel. Demnach sei eine Patientin der geschlossenen Psychiatrie aus dem Fenster gestürzt. Wegen einer Sicherheitslücke sei sie in den nicht öffentlichen Teil des Gebäudes gelangt. Daneben ein Foto der Klinik, in der Manuel und ich seine Freundin besucht haben. Der Name der Patientin wird nicht genannt.

Ich faltete den Zeitungsausschnitt, schloss die Augen. Dachte daran, wie ich wenige Wochen zuvor eingewilligt hatte, Trauzeugin zu werden. Hörte mich wieder „schöne Aussicht“ sagen.