Logen-Blog [139]: Wo die Phantasie wächst, gedeiht und blüht
Gustav wird tatsächlich ins Kadettenhaus wandern; sein Erzieher bedauert das, ja: er leidet darunter. Die Trennung wird dafür sorgen, dass sie „jedes Buch, das wir zusammen lasen, jeder allein zu Ende bringen würden“, dass der Erzieher etwas anlegen würde, was „fremde Architekten“ vollenden würden – und der „Mentor“ – wieder so eine Anspielung auf Fénelons Pallas Athene – bedauert es, dass er nicht sorgsam genug gearbeitet habe: Gustav hätte noch Flausen im Kopf, wie man schlecht landläufig sagen könnte. Er hat noch, wie „Jean Paul“ sagt, zu viel Phantasie, deren Blüten „die Eingänge des äußern Lichts verhängen“. Man muss das wieder komplett zitieren:
Wahrhaftig weder der klappernde Mentor noch seine Bücher, d. h. weder die Gartenschere noch die Gießkanne sättigen und färben die Blume, sondern der Himmel und die Erde, zwischen denen sie steht – d. h. die Einsamkeit oder Gesellschaft, in der das Kind seine ersten Knospen-Minuten durchwächset. Gesellschaft treibt im Alltagkind, das seine Funken nur an fremden Stößen gibt. Aber Einsamkeit zieht sich am besten über die erhabnere Seele, wie ein öder Platz einen Palast erhebt; hier erzieht sie sich unter befreundeten Bildern und Träumen harmonischer als unter ungleichartigen Nutzanwendungen.
Das Plädoyer für die „Einsamkeit“ ist zugleich ein Plädoyer für die Aufklärung: im Medium des äußern, aber wahren Lichts. Ablenkung ist dort tödlich für die Geistesarbeit, wo die „Phantasie“ als etwas Schädliches waltet. Nicht, dass der Autor und der Erzähler der „Phantasie“ abhold wären (ihr Geschäft lebt ja genau von diesem Element) – aber die Konzentration muss im Gleichgewicht mit der „Gesellschaft“ sein, die dem Kind erst erlaubt, aus der Phantasie die besten Blüten zu treiben. Dies gilt auch für den Autor, der sich weder in seinem Bücher- und Exzerptenwust einigeln noch ausschließlich in jener Gesellschaft vergnügen soll, die nichts sein will als: Ablenkung, tödlicher Stumpfsinn, Rohheit.
Um so mehr haben General-Akziskollegien darauf zu sehen, dass große poetische Genies – im Grunde taugt keines zu einem gescheiten Kammer- oder Kanzleiverwandten – vom zehnten Jahre bis zum fünfunddreißigsten in lauter Besuch-, Schreib- und Votierzimmern herumgehetzet werden, ohne in eine stille Minute zu kommen; sonst ist keines in einen Archivar oder Registrator umzusetzen. Daher hält auch das Marktgetöse der großen Welt allen Wuchs der Phantasie so glücklich am Boden.
Aber stimmt das wirklich: dass die „große Welt“ die Phantasiearbeit verhindert? Ist es nicht eher so, dass – zumindest bei großen Geistern – die Welt derart auf die poetische Tätigkeit einwirkt, dass sie ohne sie gar nicht denkbar wäre? Hätte Jean Paul seine großen Romane ohne dieses „Marktgetöse“ geschrieben, das ihm erst die Ideen eingab? Vermutlich meint er, dass man sich durch diese lärmenden Äußerlichkeiten inspirieren lassen könne, ohne von ihnen erdrückt zu werden.
Zum Schreiben ging er selbst in der kleinen Stadt Bayreuth aufs Land oder in den Garten; abends konnte man ja mit der Familie in die Harmonie gehen, dieser kleinen großen Bayreuther Welt. In Schwarzenbach war er ganz auf sich und seine Stube gestellt – um über Kadettenhäuser, höfische Unsitten und welthaltige Metaphern zu schreiben.
Übrigens: ein gewisser Franz Grillparzer diente seit seinem 22. Lebensjahr als Konzeptionspraktikant bei der k.k. Hofkammer, dann – mit 30 Jahren – als Angehöriger des Finanzministeriums, schließlich als Direktor des Hofkammerarchivs. 43 Jahre Bürokratie – aber was für ein Geist und was für ein Werk!
So sah der ehemalige kleine Konzeptionspraktikant und große Dichter und Denker und Hofburgtheaterdichter Franz Grillparzer 1819 aus, als er schon Die Ahnfrau und Sappho[1] geschrieben hatte. Kurz darauf bemerkte er, dass „Jean Pauls Phantasie so herrlich im Abspiegeln innerer Zustände“ sei, „aber beinahe gar nicht geeignet zum Darstellen äußerer Handlungen“. Damit hatte er unterm Strich tatsächlich Recht – und 1843 schrieb er, dass Jean Paul „in Gedanken, ja in seinen Empfindungen erhaben“ sei, „aber seine Phantasie ist gemein, die malt nur niedrige Gegenstände mit Wahrheit, und gerade die Phantasie ist das Spiegelbild des Menschen“, denn: „Gedanke und Empfindung zeigen nur, was er sich bestrebt zu sein; die Einbildungskraft gibt wieder, was er ist.“
Grillparzer wohnte seit 1812 übrigens in einem Haus, in dem ein anderer, sehr großer Dichter und späterer hoher Beamter 1810 bis 1812 wohnte: im Palais Wilcek in der Herrengasse 5, gleich neben dem Burgtor. 190 Jahre später sollte der Blogger hier für ein paar herrliche Wochen unter dem heißen – nein: dem sehr heißen Sommerdach wohnen. Auch dies – aber es ist nicht entscheidend – verbindet ihn mit dem einem wie dem anderen geliebten, großen poetischen Genie: Joseph von Eichendorff.
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[1] Ist Sappho ein schwaches Stück? Vielleicht, wenn man es in einer schwachen Aufführung sieht. Gelesen wirkt Grillparzer immer stark – aber die Wiener Aufführung (mit Ulli Maier als lesbischer Lyrikerin) in der an sich doch herrlichen Josephstadt, die der Blogger am 23. Mai 2002 sah, hat ihm damals keinen großen Eindruck gemacht: zu viel Gips, zu viel Klassizismus.
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Gustav wird tatsächlich ins Kadettenhaus wandern; sein Erzieher bedauert das, ja: er leidet darunter. Die Trennung wird dafür sorgen, dass sie „jedes Buch, das wir zusammen lasen, jeder allein zu Ende bringen würden“, dass der Erzieher etwas anlegen würde, was „fremde Architekten“ vollenden würden – und der „Mentor“ – wieder so eine Anspielung auf Fénelons Pallas Athene – bedauert es, dass er nicht sorgsam genug gearbeitet habe: Gustav hätte noch Flausen im Kopf, wie man schlecht landläufig sagen könnte. Er hat noch, wie „Jean Paul“ sagt, zu viel Phantasie, deren Blüten „die Eingänge des äußern Lichts verhängen“. Man muss das wieder komplett zitieren:
Wahrhaftig weder der klappernde Mentor noch seine Bücher, d. h. weder die Gartenschere noch die Gießkanne sättigen und färben die Blume, sondern der Himmel und die Erde, zwischen denen sie steht – d. h. die Einsamkeit oder Gesellschaft, in der das Kind seine ersten Knospen-Minuten durchwächset. Gesellschaft treibt im Alltagkind, das seine Funken nur an fremden Stößen gibt. Aber Einsamkeit zieht sich am besten über die erhabnere Seele, wie ein öder Platz einen Palast erhebt; hier erzieht sie sich unter befreundeten Bildern und Träumen harmonischer als unter ungleichartigen Nutzanwendungen.
Das Plädoyer für die „Einsamkeit“ ist zugleich ein Plädoyer für die Aufklärung: im Medium des äußern, aber wahren Lichts. Ablenkung ist dort tödlich für die Geistesarbeit, wo die „Phantasie“ als etwas Schädliches waltet. Nicht, dass der Autor und der Erzähler der „Phantasie“ abhold wären (ihr Geschäft lebt ja genau von diesem Element) – aber die Konzentration muss im Gleichgewicht mit der „Gesellschaft“ sein, die dem Kind erst erlaubt, aus der Phantasie die besten Blüten zu treiben. Dies gilt auch für den Autor, der sich weder in seinem Bücher- und Exzerptenwust einigeln noch ausschließlich in jener Gesellschaft vergnügen soll, die nichts sein will als: Ablenkung, tödlicher Stumpfsinn, Rohheit.
Um so mehr haben General-Akziskollegien darauf zu sehen, dass große poetische Genies – im Grunde taugt keines zu einem gescheiten Kammer- oder Kanzleiverwandten – vom zehnten Jahre bis zum fünfunddreißigsten in lauter Besuch-, Schreib- und Votierzimmern herumgehetzet werden, ohne in eine stille Minute zu kommen; sonst ist keines in einen Archivar oder Registrator umzusetzen. Daher hält auch das Marktgetöse der großen Welt allen Wuchs der Phantasie so glücklich am Boden.
Aber stimmt das wirklich: dass die „große Welt“ die Phantasiearbeit verhindert? Ist es nicht eher so, dass – zumindest bei großen Geistern – die Welt derart auf die poetische Tätigkeit einwirkt, dass sie ohne sie gar nicht denkbar wäre? Hätte Jean Paul seine großen Romane ohne dieses „Marktgetöse“ geschrieben, das ihm erst die Ideen eingab? Vermutlich meint er, dass man sich durch diese lärmenden Äußerlichkeiten inspirieren lassen könne, ohne von ihnen erdrückt zu werden.
Zum Schreiben ging er selbst in der kleinen Stadt Bayreuth aufs Land oder in den Garten; abends konnte man ja mit der Familie in die Harmonie gehen, dieser kleinen großen Bayreuther Welt. In Schwarzenbach war er ganz auf sich und seine Stube gestellt – um über Kadettenhäuser, höfische Unsitten und welthaltige Metaphern zu schreiben.
Übrigens: ein gewisser Franz Grillparzer diente seit seinem 22. Lebensjahr als Konzeptionspraktikant bei der k.k. Hofkammer, dann – mit 30 Jahren – als Angehöriger des Finanzministeriums, schließlich als Direktor des Hofkammerarchivs. 43 Jahre Bürokratie – aber was für ein Geist und was für ein Werk!
So sah der ehemalige kleine Konzeptionspraktikant und große Dichter und Denker und Hofburgtheaterdichter Franz Grillparzer 1819 aus, als er schon Die Ahnfrau und Sappho[1] geschrieben hatte. Kurz darauf bemerkte er, dass „Jean Pauls Phantasie so herrlich im Abspiegeln innerer Zustände“ sei, „aber beinahe gar nicht geeignet zum Darstellen äußerer Handlungen“. Damit hatte er unterm Strich tatsächlich Recht – und 1843 schrieb er, dass Jean Paul „in Gedanken, ja in seinen Empfindungen erhaben“ sei, „aber seine Phantasie ist gemein, die malt nur niedrige Gegenstände mit Wahrheit, und gerade die Phantasie ist das Spiegelbild des Menschen“, denn: „Gedanke und Empfindung zeigen nur, was er sich bestrebt zu sein; die Einbildungskraft gibt wieder, was er ist.“
Grillparzer wohnte seit 1812 übrigens in einem Haus, in dem ein anderer, sehr großer Dichter und späterer hoher Beamter 1810 bis 1812 wohnte: im Palais Wilcek in der Herrengasse 5, gleich neben dem Burgtor. 190 Jahre später sollte der Blogger hier für ein paar herrliche Wochen unter dem heißen – nein: dem sehr heißen Sommerdach wohnen. Auch dies – aber es ist nicht entscheidend – verbindet ihn mit dem einem wie dem anderen geliebten, großen poetischen Genie: Joseph von Eichendorff.
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[1] Ist Sappho ein schwaches Stück? Vielleicht, wenn man es in einer schwachen Aufführung sieht. Gelesen wirkt Grillparzer immer stark – aber die Wiener Aufführung (mit Ulli Maier als lesbischer Lyrikerin) in der an sich doch herrlichen Josephstadt, die der Blogger am 23. Mai 2002 sah, hat ihm damals keinen großen Eindruck gemacht: zu viel Gips, zu viel Klassizismus.