Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (52). Beim Beobachten der Rehe und Betrachten ihres Albums. Ende der Kolumne

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Alle Bilder (c) Sandra Hoffmann

Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.

Über einen längeren Zeitraum schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln.

Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.

Die Kolumne pausierte und wurde wieder fortgesetzt. Mit der 52. und damit letzten Folge im Jahreslauf wird sie heute abgeschlossen.

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52

Die Rehe. Es gibt kein Tier, das mir in den letzten Jahren mehr ans Herz gewachsen ist, als das Reh. Die Rehe. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich nie zuvor so häufig mit einem von ihnen Auge in Auge gestanden habe. Jetzt tue ich das oft. Ich im Haus hinter der Scheibe, eins der Rehe davor. Wir schauen uns an. Halten still, schauen uns ins Auge. Und nichts passiert und doch ganz viel.

Das Reh ist mein Löwe geworden. Mein wildes Tier, das ich bewundere und verehre. Das Reh mit seinen großen Augen, den aufgestellten Lauschern, der runden Schnauze mit dem irgendwie kindlich wirkenden Windfang, der Nase. Ich schaue darauf, als hätte ich es noch nie gesehen, dabei stimmt das nicht: in den letzten Jahren oft. Aber das Reh wagt sich näher.

Die Rehe muss ich sagen. Denn ich bin Teil ihres Lebens geworden, weil ich es bin, weil wir es sind, die das Holzhaus am Wald bewohnen, weil sie unsere Geräusche kennen, unsere Bewegungen, und unsere Stimmen. Und weil das Haus umgeben ist von lauter Pflanzen, die ihnen guttun. Von Buchen und Eichen, die im Herbst und Winter sozusagen die Trüffel der Rehe spendieren, auch weil auf unserer wilden Wiese viele köstliche Kräuter wachsen, und hinterm Haus wilde Brombeeren. Und weil die Rehe möglicherweise glauben, dass ich die Hochbeete ihretwegen mit Sachen, die sie gerne mögen, bepflanze: Mangold und (die Blätter von) Roter Bete, Wirsing und Brokkoli und Rosenkohl, und auf dem Grundstück die (Knospen der) Rosen auch nur für sie da sind. Deshalb bin ich natürlich ihre Freundin geworden. Ich bin der Gemüsemarkt, und der trägt keine Waffe.

Heute Morgen stand die Ricke, die gewaltig gewachsen ist in den letzten Jahren, mit einem jungen Rickenkind, also einem weiblichen Kalb, das wahrscheinlich ihr Kitz von diesem Jahr ist, hinter dem Haus. Ich sah es vom Schreibtischfenster aus, ging nach unten, hoffte, von der Küche aus näher heranzukommen, und bin dann im Anbau, der Werkstatt, ans Fenster getreten, dort, wo die große Eiche ganz nahe ist. Und klar hat die Rehkuh mich gesehen und klar hatte sie keine Angst. Und also standen wir da, standen nur durch eine Scheibe getrennt, zwei drei Meter voneinander entfernt, und schauten.

Als ich mich endlich traute das Handy zu heben, um ein Foto zu machen, wurde das Gerät, das sich vor mein Gesicht schob, doch zu einer Waffe. Oder wenigstens zu einem so fremden Gegenstand, dass die Ricke sich erschreckte, umdrehte und samt Kalb einige Meter den Hang hinaufrannte.

Ich hätte gerne noch eine Weile so gestanden. Warum konnte ich nicht einfach stillstehen, nichts tun, das Reh in mir Bild genug sein lassen, es aufnehmen, speichern. Das Bild des fremden Gesichts in meinem. Warum hat es mir nicht gereicht? Warum wollte ich es festhalten, ein Foto haben? Als ob die Schönheit des Moments in einer Fotografie gespeichert wird.

Über ein Jahr lang habe ich nun meine Begegnungen mit der Natur schriftlich festgehalten, mich selbst in Wahrnehmung geschult, auch um andere, meine Leser*innen zu ermutigen, das zu tun.

Während dieser Zeit habe ich immer auch fotografiert, all das worüber ich schrieb aufgenommen. Und klar, ich schaue mir die Fotos gerne an. Aber es ist Papier. Was ich spüre ist etwas anderes: Es ist – egal, ob es das Nachdenken ist über Moos, oder Baum, oder Biber – wesenhafter und vielleicht deshalb auch wesentlicher für mich: im besten Sinne also wirklich nachhaltig.

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