Woche zwei und schon altes Eisen (2)
Ans Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) kommen jedes Jahr über 400 Kunstschaffende aus Literatur, Komposition und Bildender Kunst, um an ihren Projekten zu arbeiten. Im Oktober/November 2022 verbringt Carola Gruber sechs Wochen dort im Rahmen des Internationalen Stipendiums Oberpfälzer Künstlerhaus. Für das Literaturportal Bayern hält sie (literarische) Eindrücke von ihrem Aufenthalt fest.
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Meine zweite Woche am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) liegt hinter mir, und schon gehöre ich zum alten Eisen: Es ist bereits Zeit für die ersten Abschiede. Viele Fellows bleiben zwei oder drei Wochen am VCCA – also wesentlich kürzer als die sechs Wochen, die Christina Kirchinger, Philipp Ortmeier und ich mit dem Internationalen Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus da sind. Und so verabschieden sich im Lauf der Woche von uns bereits einige Fellows, die vor uns oder gleichzeitig mit uns angekommen sind.
Wenn die einen gehen, kommen die anderen. Und so gibt es auch in dieser Woche wieder oft die Gelegenheit die bereits eingeübte Frage zu stellen: What are you working on?
Wie auf einem Kunstfestival
Aushang an einer Tür im VCCA: drei Veranstaltungen werden angekündigt
Diese Woche habe ich gleich fünf Mal die Gelegenheit, die Werke anderer Fellows zu erleben. Einige tun sich zusammen, um ihre Arbeiten bei einem gemeinsamen Termin zu präsentieren – es fühlt sich fast wie auf einem kleinen Kunstfestival an: Karen Fuchs, Sonjie Solomon, Beth Katleman und Chrissy Baucom laden uns am Montag und am Mittwoch in ihre Ateliers. (Am Freitag davor hatten bereits Christina Kirchinger, Christine Hiebert, Karla Wozniak, Deborah Kirklin und John Kelly ihre Türen für uns geöffnet.) Bei Lesungen am Dienstag und am Donnerstag höre ich Texte von Karolina Letunova sowie von Irina Reyn, Michael Waters, Ruth Knafo Setton (siehe unten). Am gleichen Tag darf ich zum ersten Mal auch die Arbeit eines Komponisten am VCCA hören: drei Stücke von Tim Kloth.
Musical und fesselnde Kurzgeschichte
Dieser hat die Bearbeitung eines Stoffes wieder aufgenommen, mit dem er sich bereits während eines früheren Aufenthalts am VCCA Ende der 1980er-Jahre befasst hatte: der Fall Sam Sheppard. Der Arzt wurde im Jahr 1954 wegen des Mordes an seiner Frau zu lebenslanger Haft verurteilt – unter reger Anteilnahme der Medien. Zwölf Jahre später wurde er bei einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Sheppards Verurteilung unter dem Eindruck der hetzenden Berichterstattung insbesondere der Lokalpresse ist in die Geschichte der Justizirrtümer eingegangen. Der Stoff lässt Tim nicht los. Er hat ihn bereits als Musical bearbeitet (zusammen mit Gary Hopper) und nun zu einigen Stücken Videos mit Zeitdokumenten und Auszügen aus der damaligen Berichterstattung angefertigt.
Von den Texten, die ich diese Woche höre, beeindruckt mich eine Kurzgeschichte von Ruth Knafo Setton am meisten. Sie liest für uns eine gekürzte Fassung ihrer preisgekrönten Geschichte Swamp Girl. Darin begegnet ein 14-jähriges Mädchen auf einem Jahrmarkt einem Schlangenmenschen, Rubbermann. Der Text baut eine starke erotische Spannung zwischen den beiden Figuren auf und lässt uns Zuhörende bangen, was als Nächstes kommt. Mit weiblichem Begehren setzt sie sich immer wieder auseinander, sagt die Autorin im anschließenden Gespräch – ansonsten eher in Romanform, seltener in Kurzgeschichten. Diese hier ist in voller Länge online nachzulesen.
Schreib das Bild!
Pedro Ponce beim VCCA Salon am Sweet Briar College
Zusätzlich zu den internen Veranstaltungen am VCCA besuche ich auch den öffentlichen VCCA Salon am Sweet Briar College. Dort erläutert Pedro Ponce, wie hilfreich Bildende Kunst für sein Schreiben ist – etwas, das er auch seinen Studierenden an der St. Lawrence University zu vermitteln versucht. So war er bei der Arbeit an seinem Roman Piazza de Chiricco lange auf der Suche nach der richtigen Form und kam schließlich zur Erkenntnis: „just write the painting“. Letztlich verfasste er seinen Roman als Collage.
Auch Christina Kirchinger zeichnete wichtige Stationen ihres künstlerischen Werdegangs nach – ebenfalls eine Suche nach dem passenden künstlerischen Ausdruck. Christina ist fasziniert von Räumlichkeit und interessiert sich für die Tiefe des Raumes sowie dafür, wie diese in eine Fläche übersetzt werden kann. Hierfür hat sie mit der Zeit eine immer stärker reduzierte Bildsprache gefunden.
Zum Abschluss dieser sehr kulturell reichhaltigen Woche ist am Samstagabend Movie Night: The Square (2017). Über den Film sind wir uns so wunderbar uneins, dass wir noch beim Frühstück am Folgetag miteinander diskutieren: Hat der Film, eine Satire der Stockholmer Kunstwelt, eigentlich nur bereits Bekanntes gezeigt? War er zu lang? Was hat es mit diesen seltsam verzögerten Reaktionen der Figuren angesichts brenzliger Situationen auf sich? Wir einigen uns darauf, dass er einige starke Szenen enthält, die wohl im Gedächtnis bleiben werden.
Fundstück der Woche
Große Auswahl im Buchladen in Lynchburg: regalweise Bibelausgaben
Bei meinem Ausflug in einen Buchladen in Lynchburg staune ich etwas, als ich auch vier Regale voll mit unterschiedlichen Bibelausgaben vorfinde. Im Angebot stehen unter anderem eine katholische Bibel, eine Bibel in 365 Geschichten, einige Kinderbibeln und Studienbibeln, darunter auch eine Studienbibel für Frauen (darin wird die geneigte Leserin zum Beispiel an die besonders wünschenswerten weiblich kodierten Charaktereigenschaften wie Bescheidenheit und Gehorsam erinnert). Direkt benachbart zu den Bibeln und zwischen weiteren Regalen zum Thema Religion befinden sich zwei Regale mit Fiction, gewissermaßen eingeschoben – diese Sortierung finde ich erfrischend ehrlich.
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Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).
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Ans Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) kommen jedes Jahr über 400 Kunstschaffende aus Literatur, Komposition und Bildender Kunst, um an ihren Projekten zu arbeiten. Im Oktober/November 2022 verbringt Carola Gruber sechs Wochen dort im Rahmen des Internationalen Stipendiums Oberpfälzer Künstlerhaus. Für das Literaturportal Bayern hält sie (literarische) Eindrücke von ihrem Aufenthalt fest.
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Meine zweite Woche am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) liegt hinter mir, und schon gehöre ich zum alten Eisen: Es ist bereits Zeit für die ersten Abschiede. Viele Fellows bleiben zwei oder drei Wochen am VCCA – also wesentlich kürzer als die sechs Wochen, die Christina Kirchinger, Philipp Ortmeier und ich mit dem Internationalen Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus da sind. Und so verabschieden sich im Lauf der Woche von uns bereits einige Fellows, die vor uns oder gleichzeitig mit uns angekommen sind.
Wenn die einen gehen, kommen die anderen. Und so gibt es auch in dieser Woche wieder oft die Gelegenheit die bereits eingeübte Frage zu stellen: What are you working on?
Wie auf einem Kunstfestival
Aushang an einer Tür im VCCA: drei Veranstaltungen werden angekündigt
Diese Woche habe ich gleich fünf Mal die Gelegenheit, die Werke anderer Fellows zu erleben. Einige tun sich zusammen, um ihre Arbeiten bei einem gemeinsamen Termin zu präsentieren – es fühlt sich fast wie auf einem kleinen Kunstfestival an: Karen Fuchs, Sonjie Solomon, Beth Katleman und Chrissy Baucom laden uns am Montag und am Mittwoch in ihre Ateliers. (Am Freitag davor hatten bereits Christina Kirchinger, Christine Hiebert, Karla Wozniak, Deborah Kirklin und John Kelly ihre Türen für uns geöffnet.) Bei Lesungen am Dienstag und am Donnerstag höre ich Texte von Karolina Letunova sowie von Irina Reyn, Michael Waters, Ruth Knafo Setton (siehe unten). Am gleichen Tag darf ich zum ersten Mal auch die Arbeit eines Komponisten am VCCA hören: drei Stücke von Tim Kloth.
Musical und fesselnde Kurzgeschichte
Dieser hat die Bearbeitung eines Stoffes wieder aufgenommen, mit dem er sich bereits während eines früheren Aufenthalts am VCCA Ende der 1980er-Jahre befasst hatte: der Fall Sam Sheppard. Der Arzt wurde im Jahr 1954 wegen des Mordes an seiner Frau zu lebenslanger Haft verurteilt – unter reger Anteilnahme der Medien. Zwölf Jahre später wurde er bei einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Sheppards Verurteilung unter dem Eindruck der hetzenden Berichterstattung insbesondere der Lokalpresse ist in die Geschichte der Justizirrtümer eingegangen. Der Stoff lässt Tim nicht los. Er hat ihn bereits als Musical bearbeitet (zusammen mit Gary Hopper) und nun zu einigen Stücken Videos mit Zeitdokumenten und Auszügen aus der damaligen Berichterstattung angefertigt.
Von den Texten, die ich diese Woche höre, beeindruckt mich eine Kurzgeschichte von Ruth Knafo Setton am meisten. Sie liest für uns eine gekürzte Fassung ihrer preisgekrönten Geschichte Swamp Girl. Darin begegnet ein 14-jähriges Mädchen auf einem Jahrmarkt einem Schlangenmenschen, Rubbermann. Der Text baut eine starke erotische Spannung zwischen den beiden Figuren auf und lässt uns Zuhörende bangen, was als Nächstes kommt. Mit weiblichem Begehren setzt sie sich immer wieder auseinander, sagt die Autorin im anschließenden Gespräch – ansonsten eher in Romanform, seltener in Kurzgeschichten. Diese hier ist in voller Länge online nachzulesen.
Schreib das Bild!
Pedro Ponce beim VCCA Salon am Sweet Briar College
Zusätzlich zu den internen Veranstaltungen am VCCA besuche ich auch den öffentlichen VCCA Salon am Sweet Briar College. Dort erläutert Pedro Ponce, wie hilfreich Bildende Kunst für sein Schreiben ist – etwas, das er auch seinen Studierenden an der St. Lawrence University zu vermitteln versucht. So war er bei der Arbeit an seinem Roman Piazza de Chiricco lange auf der Suche nach der richtigen Form und kam schließlich zur Erkenntnis: „just write the painting“. Letztlich verfasste er seinen Roman als Collage.
Auch Christina Kirchinger zeichnete wichtige Stationen ihres künstlerischen Werdegangs nach – ebenfalls eine Suche nach dem passenden künstlerischen Ausdruck. Christina ist fasziniert von Räumlichkeit und interessiert sich für die Tiefe des Raumes sowie dafür, wie diese in eine Fläche übersetzt werden kann. Hierfür hat sie mit der Zeit eine immer stärker reduzierte Bildsprache gefunden.
Zum Abschluss dieser sehr kulturell reichhaltigen Woche ist am Samstagabend Movie Night: The Square (2017). Über den Film sind wir uns so wunderbar uneins, dass wir noch beim Frühstück am Folgetag miteinander diskutieren: Hat der Film, eine Satire der Stockholmer Kunstwelt, eigentlich nur bereits Bekanntes gezeigt? War er zu lang? Was hat es mit diesen seltsam verzögerten Reaktionen der Figuren angesichts brenzliger Situationen auf sich? Wir einigen uns darauf, dass er einige starke Szenen enthält, die wohl im Gedächtnis bleiben werden.
Fundstück der Woche
Große Auswahl im Buchladen in Lynchburg: regalweise Bibelausgaben
Bei meinem Ausflug in einen Buchladen in Lynchburg staune ich etwas, als ich auch vier Regale voll mit unterschiedlichen Bibelausgaben vorfinde. Im Angebot stehen unter anderem eine katholische Bibel, eine Bibel in 365 Geschichten, einige Kinderbibeln und Studienbibeln, darunter auch eine Studienbibel für Frauen (darin wird die geneigte Leserin zum Beispiel an die besonders wünschenswerten weiblich kodierten Charaktereigenschaften wie Bescheidenheit und Gehorsam erinnert). Direkt benachbart zu den Bibeln und zwischen weiteren Regalen zum Thema Religion befinden sich zwei Regale mit Fiction, gewissermaßen eingeschoben – diese Sortierung finde ich erfrischend ehrlich.
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Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).