„Notwendigkeit der Geister“. Betrachtungen von Dagmar Leupold
Dagmar Leupold (*1955 in Niederlahnstein) studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie in Marburg, Tübingen und New York und lebt als freie Autorin in München. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Unter ihren zahlreichen Werken sind u.a. Byrons Feldbett (2001), Eden Plaza (2002), Nach den Kriegen (2004) und Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal (2009) zu nennen. Für ihr schriftstellerisches Werk hat Dagmar Leupold etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand (2013). Ihr Roman Die Witwen (2016) war zudem für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen ihre Romane Lavinia (2019) und Dagegen die Elefanten! (2022).
*
Zwei Fragen beschäftigen mich seit geraumer Zeit:
Welches Menschenbild liegen der Political Correctness und, damit einhergehend, dem puristischen Furor rund um das Thema der kulturellen Aneignung zugrunde?
Und welche Folgen hat das für die Kunst und die Kunstschaffenden?
Die ersten Initiativen unter dem Label der Political Correctness waren durchaus emanzipatorischer Natur: Studenten der University of California protestierten gegen die Vorherrschaft der old, white, male Europeans in der Lehre und im Lehrstoff und plädierten für eine paritätische Repräsentanz der Vielfalt der Kulturen und Gender. Rasch jedoch wurde aus dem progressiven Ansatz eine starre, dogmatische Reglementierung von Sprachverwendung mit schwerwiegenden Folgen: Die Vorstellung der Inkommensurabilität jedes Individuums wurde abgelöst von einem statistisch und algorithmisch determinierten Konzept des Menschen als Merkmalsträger, als Summe seiner Merkmale. Denken, Fühlen und Handeln der so Klassifizierten richten sich nach Maßgabe der jeweiligen Determinanten (Herkunft, Gender, Klasse, Generation etc.) aus. So wird im Handumdrehen aus der behaupteten Vorhersagbarkeit des Verhaltens auf der Basis der bestehenden Merkmale eine handlungsanweisende Vorschrift oder – schlimmer noch – ein denkkategorisches Vorurteil. Das Verheerende an diesem deterministischen Konditionierungsmodell ist, informationsökonomisch betrachtet, seine Verwertbarkeit und, politisch betrachtet, seine Instrumentalisierung. Alles, was als vorhersagbar gilt, ist berechenbar und damit suggestiv. Nun wäre es albern zu leugnen, dass Menschen Prägungen kultureller, sozialer und genetischer Natur unterliegen, aber selbstverständlich kann man diese selbstkritisch reflektieren und sich dazu in nicht generalisierbarer und unvorhersehbarer Weise verhalten. Und somit dem deterministischen Ansatz der Merkmalsträgerschaft ein Korrektiv entgegensetzen. Menschen sind nämlich Generalisten, etwas, woran die Entwickler von Künstlicher Intelligenz, Deep Learning hin oder her, noch scheitern. D.h. sie haben die Fähigkeit Widersprüche, Vielfalt und Varianz zu integrieren, zu akzeptieren und produktiv anzuverwandeln. Ich bin Trägerin des Merkmals „weiblich“, so weit, so gut, so what? Ich bin auch Sprachinhaberin, „Verwalterin“ eines bestimmten Gehirns, Wissende und Unwissende – und verspüre nicht die geringste Lust, mich einhegen zu lassen. Einhegung ist immer verbunden mit Kontrolle.
Die Essayistin Sylvia Bovenschen spricht in ihrer wichtigen Studie Die imaginierte Weiblichkeit von „Kasernierung“. Das starre Sprachkorsett, das alle Äußerungen im öffentlichen Raum, die künstlerischen eingeschlossen, einzwängt sowie bestimmte Themen bestimmten Gruppen zuteilt, beraubt Äußerungen ihres subjektiven Zungenschlags. Dieser ist jedoch Voraussetzung nicht nur für gelungene Kommunikation jenseits von Formaten und Kodizes, sondern auch für die ästhetische Anverwandlung und Transformation im Medium der Sprache. Und zusätzlich torpediert das Correctness-Regime das ohnehin angeschlagene Vertrauen in die der Sprache innewohnende Differenzierungsfähigkeit. Die erfährt nur, wer eigenständig um Ausdruck ringt – alles andere ist Kapitulation vor den ubiquitär auftretenden Auto-Complete- und Spracherkennungsfunktionen. (Wie schon Kant wusste, als er in seiner Schrift Was ist Aufklärung? die Vormünder dafür schalt, dass sie „ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und [dann] sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen [...] wagen durften“.) Wer die Gängelung beklagt und geißelt, gerät in Verdacht, mit rechts zu paktieren, denn dort ist das Wehgeschrei groß, dass das Gendermainstreaming und andere politisch korrekte Sprachverordnungen das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränkten. Wobei dies sich immer häufiger, immer brachialer zum Recht auf Pöbeln pervertiert, vor allen Dingen im Netz, das anonyme Wortmeldungen erleichtert. Es gerät zur geradezu akrobatischen Leistung, sich einerseits gegen die Vereinnahmung durch die Feinde der Political Correctness zu wehren, wie auch gegen die Tyrannei dieser selbst – ohne wiederum zu verkennen, dass Regelungen, die zu einem respektvollen sozialen Miteinander verhelfen sollen, sinnvoll sind. Allerdings nur als dynamische Konstrukte, als kontinuierlicher zivilisatorischer Aushandlungsprozess, an dem alle partizipieren können und niemand die Deutungshoheit beanspruchen kann. Und es darf nicht verschleiert werden, dass die sprachliche Regelung des sozialen Miteinanders trotz ihrer anti-diskriminatorischen Stoßrichtung Diskriminierung keineswegs beseitigt. Das wäre erst dann der Fall, wenn Political Correctness tatsächliche politische Teilhabe und Gleichheit bewirkte – und davon ist sie unendlich weit entfernt. Nicht einmal gegen die Sprachverrohung von rechts kann sie etwas ausrichten.
Im zu Beginn skizzierten Menschenbild der Political Correctness ist ausgeschlossen, dass wir anders agieren, sprechen, fühlen, handeln als die uns zugewiesenen Merkmale es vorsehen. Das ist umso folgenreicher und bestürzender, wie zu Anfang bereits angesprochen, als dies auch einer ökonomischen Verwertbarkeit Tür und Tor öffnet: Was ist profitabler als ein algorithmisch berechenbarer Mensch? Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein, heißt der Werbeslogan einer großen Drogeriekette und stellt damit das Konsument-Sein als dem Menschen wesenhaft dar.
Kraftstoff – also Voraussetzung für Bewegung, Entwicklung und Veränderung – liefert aber die genuin menschliche Fähigkeit zu imaginieren, Möglichkeitsräume zu entwerfen, uns in andere einzufühlen, Phantastisches zu denken und zu träumen. Kurz: die Normativität des Faktischen zu durchbrechen und das mir als Merkmalsträger Zugewiesene zu transzendieren. Diese Fähigkeit – neue Verknüpfungen zu bilden und Widersprüchliches als Synchronizität zu erleben, wie es etwa im Traum und in poetischen, assoziativen Verfahren geschieht – macht uns zu kunstaffinen, kunstfähigen Wesen. Was wiederum bedeutet, dass wir mit Nicht-Antizipierbarkeit, nämlich des Todeszeitpunkts, und ihrem Antipoden, der Gewissheit zu sterben, produktiv und kreativ umgehen können. In Gedichten, in Romanen, auf der Bühne und auf der Leinwand stellen wir das unter Beweis und begegnen der ökonomischen Bedrängnis, die zu Formaten greift; der politischen, die zu Frames greift und der politisch korrekten, die zu Kodizes greift, mit dem Wagnis der Anverwandlung, des Spiels, der Einbildungskraft, des jedem Kind vertrauten „als ob“. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Es gibt eine unselige Verkettung zwischen ökonomisch und politisch Gewolltem, wobei sich paradoxerweise die Vorschriften von rechts und links entgegenkommen. Ökonomisch gewollt ist der kommerzielle Erfolg, der Blockbuster, Kontrollinstanz ist die Quote (funktional äquivalent zur ideologischen Zensur). Also her mit den Formaten, den Krimis und Soaps. Gegen die nichts einzuwenden ist, in jedem von uns koexistiert die Freude am Konfektionierten, Vorhersehbaren friedlich mit derjenigen, die das Neue, Fremde, Überraschende, die Zumutung sucht. Wäre da nicht der Markt, der Monokulturen favorisiert und folglich ein allzu weit aufgefächertes „Delta“ des Mainstreams zu verhindern weiß. Rechts-politisch – mehrere Versuche der AfD in der Vor-Corona-Zeit Theaterprogramme zu beeinflussen oder sogar Aufführungen zu verhindern – geschieht die Kontrolle durch Framing, mit ähnlichen Ergebnissen wie die gerade genannten: mainstreamige Unterhaltungskost, restaurativer Kitsch, beides ist zutiefst affirmativ. Und links-politisch geschieht sie durch die Political Correctness und strikte Zuweisungen, die zum Schutz von Minderheiten Sprech- und Darstellungsverbote erteilt und verbindliche Codes vorschreibt – auch hier herrschen die Logik des Auto-Complete, Eindimensionalität und Säuberungsfuror. Sie treten im aufklärerischem Gewand auf, auch bei den nachträglich verlangten Korrekturen in literarischen Texten, Filmen und Theaterstücken. Gleichschaltung und Ausbildung von Geschmacksmonopolen sind die Folgen. Kritische, experimentierfreudige, riskante Kunst ist in die Defensive geraten, obwohl doch genau dies zu sein ihr Kerngeschäft und Anliegen ist. Kritische, ungehorsame Kunst taugt nicht als Illustrationsagentur – Peter von Matts treffender Begriff – im Dienste welcher Ideologie oder Gesellschaftstheorie auch immer. Wäre sie es – wie könnte sie dann ihrer für jede freie, demokratische Gesellschaft vitalen Aufgabe nachkommen, Wahrnehmungskorrektiv und Erkenntnismedium zu sein, eine Verständigungsplattform für die Selbstbefragung im öffentlichen Raum zu bieten? Wie, wenn nicht als freie, kann sie lustvolles, neugieriges Lesen, Schauen und Hören nicht nur auf Buchseiten, auf Bühnen, in Kinosälen und in Museen ermöglichen, sondern auch in Schulen, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen? Enno Stahl spricht in seinem gerade erschienenen Buch Die Sprache der Neuen Rechten mit Blick auf das Bildungssystem zurecht von „kulturellen Verödungsdynastien“.
Kunst ist in der Klemme, eingeklemmt zwischen wirtschaftlichen (Erfolgs-)Zwängen, allwaltendem neo-liberalen Wettbewerbsmodus („Eventisierung“) und politischen Beeinflussungsversuchen bzw. fehlender Unterstützung. Die Folge dieses nicht minder beunruhigenden Klimawandels ist auch ein „Artensterben“, gegen das es leider keine breite Mobilisierung gibt. Weder freitags noch sonst. Verlage publizieren kaum noch Gedichtbände und kurze Prosa, Programmkinos und Galerien schließen, kleine Theater kämpfen, schon vor Corona ums Überleben, um Zuschauer.
Es ist Aufgabe, Auftrag und Verantwortung der Politik, der von uns gewählten Politiker, uns, den Bewohnern eines politischen und sozialen Gefüges, einen Praxisraum für unsere lebenswichtige Befähigung zum Kunstschaffen und zur Kunsterfahrung einzurichten. Und ihn zu schützen. Vor den Zumutungen der permanenten Profitmaximierung ebenso wie vor der Instrumentalisierung und Manipulation durch rechte Thinktanks und durch Sprachzensur von links. Wir, die Künstler, dürfen uns nicht einschüchtern lassen durch das wachsende Misstrauen in Fiktion, Imagination und Anverwandlung, und wir müssen dem positivistischen Authentizitätsfuror die Stirn bieten. Nicht nur im Metabolismus und in der Reproduktion gilt, dass Neues nur entstehen kann, wenn das Eigene und das Andere sich vermischen dürfen. Die Parthenogenese taugt nicht als Modell für künstlerische und kreative Prozesse – sie produziert nur Klone und verhindert die Ausbildung der für eine lebendige Kultur so wichtigen hybriden Neuschöpfungen. Gerade in sogenannten postfaktischen Zeiten ist es von zentraler Bedeutung, darauf zu bestehen, dass künstlerische Gestaltung, symbolische Repräsentanz und traumbegabte Vorstellungskraft nicht fakes generieren, sondern eine neue Sicht auf Wirklichkeit ermöglichen und uns von zutiefst verinnerlichten Wahrnehmungskonventionen erlösen können. Wer der Sprache (oder den Bildern) auferlegt, „korrekt“ zu sein, macht mundtot, verhindert die Erfahrbarkeit des uns Unbekannten oder Fremden und letztlich die Ausbildung von Empathie – denn im Konfektionierten begegnen wir ausschließlich Kopien unseres Selbsts. Das ist Follower-Logik. Wer der Sprache (oder den Bildern) auferlegt „korrekt“ zu sein, leugnet die geschichtliche Verfasstheit von Sprache und Kultur, die sich als Zeitsignatur in die Kunstwerke einschreibt.
Denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen.
Das schreibt Schiller in seiner 1793 entstandenen Streitschrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen.
Wir sollten die „Notwendigkeit der Geister“ als schönste Ressource würdigen und die Töchter und Söhne der Freiheit, die Künste, mit allen Kräften verteidigen. Sonst warten wir vergeblich auf Enkel.
„Notwendigkeit der Geister“. Betrachtungen von Dagmar Leupold>
Dagmar Leupold (*1955 in Niederlahnstein) studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie in Marburg, Tübingen und New York und lebt als freie Autorin in München. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Unter ihren zahlreichen Werken sind u.a. Byrons Feldbett (2001), Eden Plaza (2002), Nach den Kriegen (2004) und Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal (2009) zu nennen. Für ihr schriftstellerisches Werk hat Dagmar Leupold etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand (2013). Ihr Roman Die Witwen (2016) war zudem für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen ihre Romane Lavinia (2019) und Dagegen die Elefanten! (2022).
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Zwei Fragen beschäftigen mich seit geraumer Zeit:
Welches Menschenbild liegen der Political Correctness und, damit einhergehend, dem puristischen Furor rund um das Thema der kulturellen Aneignung zugrunde?
Und welche Folgen hat das für die Kunst und die Kunstschaffenden?
Die ersten Initiativen unter dem Label der Political Correctness waren durchaus emanzipatorischer Natur: Studenten der University of California protestierten gegen die Vorherrschaft der old, white, male Europeans in der Lehre und im Lehrstoff und plädierten für eine paritätische Repräsentanz der Vielfalt der Kulturen und Gender. Rasch jedoch wurde aus dem progressiven Ansatz eine starre, dogmatische Reglementierung von Sprachverwendung mit schwerwiegenden Folgen: Die Vorstellung der Inkommensurabilität jedes Individuums wurde abgelöst von einem statistisch und algorithmisch determinierten Konzept des Menschen als Merkmalsträger, als Summe seiner Merkmale. Denken, Fühlen und Handeln der so Klassifizierten richten sich nach Maßgabe der jeweiligen Determinanten (Herkunft, Gender, Klasse, Generation etc.) aus. So wird im Handumdrehen aus der behaupteten Vorhersagbarkeit des Verhaltens auf der Basis der bestehenden Merkmale eine handlungsanweisende Vorschrift oder – schlimmer noch – ein denkkategorisches Vorurteil. Das Verheerende an diesem deterministischen Konditionierungsmodell ist, informationsökonomisch betrachtet, seine Verwertbarkeit und, politisch betrachtet, seine Instrumentalisierung. Alles, was als vorhersagbar gilt, ist berechenbar und damit suggestiv. Nun wäre es albern zu leugnen, dass Menschen Prägungen kultureller, sozialer und genetischer Natur unterliegen, aber selbstverständlich kann man diese selbstkritisch reflektieren und sich dazu in nicht generalisierbarer und unvorhersehbarer Weise verhalten. Und somit dem deterministischen Ansatz der Merkmalsträgerschaft ein Korrektiv entgegensetzen. Menschen sind nämlich Generalisten, etwas, woran die Entwickler von Künstlicher Intelligenz, Deep Learning hin oder her, noch scheitern. D.h. sie haben die Fähigkeit Widersprüche, Vielfalt und Varianz zu integrieren, zu akzeptieren und produktiv anzuverwandeln. Ich bin Trägerin des Merkmals „weiblich“, so weit, so gut, so what? Ich bin auch Sprachinhaberin, „Verwalterin“ eines bestimmten Gehirns, Wissende und Unwissende – und verspüre nicht die geringste Lust, mich einhegen zu lassen. Einhegung ist immer verbunden mit Kontrolle.
Die Essayistin Sylvia Bovenschen spricht in ihrer wichtigen Studie Die imaginierte Weiblichkeit von „Kasernierung“. Das starre Sprachkorsett, das alle Äußerungen im öffentlichen Raum, die künstlerischen eingeschlossen, einzwängt sowie bestimmte Themen bestimmten Gruppen zuteilt, beraubt Äußerungen ihres subjektiven Zungenschlags. Dieser ist jedoch Voraussetzung nicht nur für gelungene Kommunikation jenseits von Formaten und Kodizes, sondern auch für die ästhetische Anverwandlung und Transformation im Medium der Sprache. Und zusätzlich torpediert das Correctness-Regime das ohnehin angeschlagene Vertrauen in die der Sprache innewohnende Differenzierungsfähigkeit. Die erfährt nur, wer eigenständig um Ausdruck ringt – alles andere ist Kapitulation vor den ubiquitär auftretenden Auto-Complete- und Spracherkennungsfunktionen. (Wie schon Kant wusste, als er in seiner Schrift Was ist Aufklärung? die Vormünder dafür schalt, dass sie „ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und [dann] sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen [...] wagen durften“.) Wer die Gängelung beklagt und geißelt, gerät in Verdacht, mit rechts zu paktieren, denn dort ist das Wehgeschrei groß, dass das Gendermainstreaming und andere politisch korrekte Sprachverordnungen das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränkten. Wobei dies sich immer häufiger, immer brachialer zum Recht auf Pöbeln pervertiert, vor allen Dingen im Netz, das anonyme Wortmeldungen erleichtert. Es gerät zur geradezu akrobatischen Leistung, sich einerseits gegen die Vereinnahmung durch die Feinde der Political Correctness zu wehren, wie auch gegen die Tyrannei dieser selbst – ohne wiederum zu verkennen, dass Regelungen, die zu einem respektvollen sozialen Miteinander verhelfen sollen, sinnvoll sind. Allerdings nur als dynamische Konstrukte, als kontinuierlicher zivilisatorischer Aushandlungsprozess, an dem alle partizipieren können und niemand die Deutungshoheit beanspruchen kann. Und es darf nicht verschleiert werden, dass die sprachliche Regelung des sozialen Miteinanders trotz ihrer anti-diskriminatorischen Stoßrichtung Diskriminierung keineswegs beseitigt. Das wäre erst dann der Fall, wenn Political Correctness tatsächliche politische Teilhabe und Gleichheit bewirkte – und davon ist sie unendlich weit entfernt. Nicht einmal gegen die Sprachverrohung von rechts kann sie etwas ausrichten.
Im zu Beginn skizzierten Menschenbild der Political Correctness ist ausgeschlossen, dass wir anders agieren, sprechen, fühlen, handeln als die uns zugewiesenen Merkmale es vorsehen. Das ist umso folgenreicher und bestürzender, wie zu Anfang bereits angesprochen, als dies auch einer ökonomischen Verwertbarkeit Tür und Tor öffnet: Was ist profitabler als ein algorithmisch berechenbarer Mensch? Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein, heißt der Werbeslogan einer großen Drogeriekette und stellt damit das Konsument-Sein als dem Menschen wesenhaft dar.
Kraftstoff – also Voraussetzung für Bewegung, Entwicklung und Veränderung – liefert aber die genuin menschliche Fähigkeit zu imaginieren, Möglichkeitsräume zu entwerfen, uns in andere einzufühlen, Phantastisches zu denken und zu träumen. Kurz: die Normativität des Faktischen zu durchbrechen und das mir als Merkmalsträger Zugewiesene zu transzendieren. Diese Fähigkeit – neue Verknüpfungen zu bilden und Widersprüchliches als Synchronizität zu erleben, wie es etwa im Traum und in poetischen, assoziativen Verfahren geschieht – macht uns zu kunstaffinen, kunstfähigen Wesen. Was wiederum bedeutet, dass wir mit Nicht-Antizipierbarkeit, nämlich des Todeszeitpunkts, und ihrem Antipoden, der Gewissheit zu sterben, produktiv und kreativ umgehen können. In Gedichten, in Romanen, auf der Bühne und auf der Leinwand stellen wir das unter Beweis und begegnen der ökonomischen Bedrängnis, die zu Formaten greift; der politischen, die zu Frames greift und der politisch korrekten, die zu Kodizes greift, mit dem Wagnis der Anverwandlung, des Spiels, der Einbildungskraft, des jedem Kind vertrauten „als ob“. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Es gibt eine unselige Verkettung zwischen ökonomisch und politisch Gewolltem, wobei sich paradoxerweise die Vorschriften von rechts und links entgegenkommen. Ökonomisch gewollt ist der kommerzielle Erfolg, der Blockbuster, Kontrollinstanz ist die Quote (funktional äquivalent zur ideologischen Zensur). Also her mit den Formaten, den Krimis und Soaps. Gegen die nichts einzuwenden ist, in jedem von uns koexistiert die Freude am Konfektionierten, Vorhersehbaren friedlich mit derjenigen, die das Neue, Fremde, Überraschende, die Zumutung sucht. Wäre da nicht der Markt, der Monokulturen favorisiert und folglich ein allzu weit aufgefächertes „Delta“ des Mainstreams zu verhindern weiß. Rechts-politisch – mehrere Versuche der AfD in der Vor-Corona-Zeit Theaterprogramme zu beeinflussen oder sogar Aufführungen zu verhindern – geschieht die Kontrolle durch Framing, mit ähnlichen Ergebnissen wie die gerade genannten: mainstreamige Unterhaltungskost, restaurativer Kitsch, beides ist zutiefst affirmativ. Und links-politisch geschieht sie durch die Political Correctness und strikte Zuweisungen, die zum Schutz von Minderheiten Sprech- und Darstellungsverbote erteilt und verbindliche Codes vorschreibt – auch hier herrschen die Logik des Auto-Complete, Eindimensionalität und Säuberungsfuror. Sie treten im aufklärerischem Gewand auf, auch bei den nachträglich verlangten Korrekturen in literarischen Texten, Filmen und Theaterstücken. Gleichschaltung und Ausbildung von Geschmacksmonopolen sind die Folgen. Kritische, experimentierfreudige, riskante Kunst ist in die Defensive geraten, obwohl doch genau dies zu sein ihr Kerngeschäft und Anliegen ist. Kritische, ungehorsame Kunst taugt nicht als Illustrationsagentur – Peter von Matts treffender Begriff – im Dienste welcher Ideologie oder Gesellschaftstheorie auch immer. Wäre sie es – wie könnte sie dann ihrer für jede freie, demokratische Gesellschaft vitalen Aufgabe nachkommen, Wahrnehmungskorrektiv und Erkenntnismedium zu sein, eine Verständigungsplattform für die Selbstbefragung im öffentlichen Raum zu bieten? Wie, wenn nicht als freie, kann sie lustvolles, neugieriges Lesen, Schauen und Hören nicht nur auf Buchseiten, auf Bühnen, in Kinosälen und in Museen ermöglichen, sondern auch in Schulen, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen? Enno Stahl spricht in seinem gerade erschienenen Buch Die Sprache der Neuen Rechten mit Blick auf das Bildungssystem zurecht von „kulturellen Verödungsdynastien“.
Kunst ist in der Klemme, eingeklemmt zwischen wirtschaftlichen (Erfolgs-)Zwängen, allwaltendem neo-liberalen Wettbewerbsmodus („Eventisierung“) und politischen Beeinflussungsversuchen bzw. fehlender Unterstützung. Die Folge dieses nicht minder beunruhigenden Klimawandels ist auch ein „Artensterben“, gegen das es leider keine breite Mobilisierung gibt. Weder freitags noch sonst. Verlage publizieren kaum noch Gedichtbände und kurze Prosa, Programmkinos und Galerien schließen, kleine Theater kämpfen, schon vor Corona ums Überleben, um Zuschauer.
Es ist Aufgabe, Auftrag und Verantwortung der Politik, der von uns gewählten Politiker, uns, den Bewohnern eines politischen und sozialen Gefüges, einen Praxisraum für unsere lebenswichtige Befähigung zum Kunstschaffen und zur Kunsterfahrung einzurichten. Und ihn zu schützen. Vor den Zumutungen der permanenten Profitmaximierung ebenso wie vor der Instrumentalisierung und Manipulation durch rechte Thinktanks und durch Sprachzensur von links. Wir, die Künstler, dürfen uns nicht einschüchtern lassen durch das wachsende Misstrauen in Fiktion, Imagination und Anverwandlung, und wir müssen dem positivistischen Authentizitätsfuror die Stirn bieten. Nicht nur im Metabolismus und in der Reproduktion gilt, dass Neues nur entstehen kann, wenn das Eigene und das Andere sich vermischen dürfen. Die Parthenogenese taugt nicht als Modell für künstlerische und kreative Prozesse – sie produziert nur Klone und verhindert die Ausbildung der für eine lebendige Kultur so wichtigen hybriden Neuschöpfungen. Gerade in sogenannten postfaktischen Zeiten ist es von zentraler Bedeutung, darauf zu bestehen, dass künstlerische Gestaltung, symbolische Repräsentanz und traumbegabte Vorstellungskraft nicht fakes generieren, sondern eine neue Sicht auf Wirklichkeit ermöglichen und uns von zutiefst verinnerlichten Wahrnehmungskonventionen erlösen können. Wer der Sprache (oder den Bildern) auferlegt, „korrekt“ zu sein, macht mundtot, verhindert die Erfahrbarkeit des uns Unbekannten oder Fremden und letztlich die Ausbildung von Empathie – denn im Konfektionierten begegnen wir ausschließlich Kopien unseres Selbsts. Das ist Follower-Logik. Wer der Sprache (oder den Bildern) auferlegt „korrekt“ zu sein, leugnet die geschichtliche Verfasstheit von Sprache und Kultur, die sich als Zeitsignatur in die Kunstwerke einschreibt.
Denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen.
Das schreibt Schiller in seiner 1793 entstandenen Streitschrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen.
Wir sollten die „Notwendigkeit der Geister“ als schönste Ressource würdigen und die Töchter und Söhne der Freiheit, die Künste, mit allen Kräften verteidigen. Sonst warten wir vergeblich auf Enkel.