Observationsverhör mit Roman Ehrlich (5)

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/instblog/2022/klein/ehrlich_filmstill_500.jpg
Filmstill aus "7. Literarischer Salon auf Schloss Edelstetten - Roman Ehrlich" (c) Literaturschloss Edelstetten

Das Projekt hieß Writing under Observation; eingeladen in die Klausur der Schwabenakademie Irsee war als Landgastschreiber der Autor Roman Ehrlich. Roman Ehrlich verbrachte von April bis Mai 2021 mehrere Wochen in Irsee. Eine in diesem Rahmen organisierte Lesung im Schloss Edelstetten kann hier als Video besichtigt werden.

Begleitet wurde Ehrlichs Aufenthalt von einem literaturwissenschaftlich-ethnologischen Seminar (LMU München und Universität Augsburg), in dem Roman Ehrlich in der Seminarsitzung wöchentlich Rede und Antwort stand. Zusätzlich führten die Teilnehmenden insgesamt fünf Observationsverhöre, die viele Themen umfassten, sich auf einzelne Seminarsitzungen bezogen und auf die sogenannten Produktionstagebücher, die Ehrlich einmal in der Woche auf seinem Blog postete. Wir dokumentieren hier die Texte, die im Rahmen von Writing under Observation entstanden sind.

*

„Denkt man an einem anderen Ort anders über das eigene Schreiben?“ 

Gespräch mit Observationsgruppe (IV) am 12. Mai 2021

 

Lieber Roman, herzlich willkommen und schön, dass Du zu unserem letzten Observationsverhör da bist. Wie geht es Dir aktuell und wie geht es mit dem Schreiben voran?

Mir geht es ganz gut. Ich bin heute durch den Wald gelaufen und habe vorher ein paar Tage nicht in Irsee verbracht. Das Schreiben ist wie immer schwierig. Also ich würde sagen: der Prozess des Schreibens – divers, der Rest ganz okay.

 

Was am Schreiben ist schwierig?

Die Situation, in der ich mich hier gerade befinde, ist schon sehr speziell. Ich habe im Vorfeld vielleicht ein bisschen unterschätzt, wie komplex sie am Ende sein würde, beziehungsweise wie sehr sie sich auf mich und meine Konzentration auswirken würde. Dabei meine ich vor allem die Tatsache, dass ich hier aus meinem normalen Umfeld herausgelöst bin, und in Irsee an einem Ort bin, den ich nicht kenne und den ich mir erst erschließen muss. Gleichzeitig ist dabei zusätzlich diese Beobachtungssituation installiert. Die ist aber auch virtuell – ich könnte hier jetzt den Computer zuklappen und dann wäre die Beobachtung auch schon vorbei. Ich denke das natürlich immer mit, zusätzlich zu den wöchentlichen Textgaben ins Internet und ins Seminar, über die auch viel nachgedacht werden muss. Ich habe hier in einer anderen Intensität über die Grundsätze nachgedacht, und dieses Nachdenken führt meistens dazu, dass das Schreiben am Roman für eine Weile ausgesetzt wird. Also je mehr Reflexion passiert, umso langsamer geht es eigentlich voran. Es scheint mir die Regel zu sein – zumindest bestätigt sie sich immer weiter.

 

Hast Du das Gefühl, Du beschäftigst Dich mehr mit unserem Projekt als mit dem Buch, das Du eigentlich schreiben möchtest?

Das wäre ganz schön, wenn das so wäre. Aber zum Beispiel haben wir uns ja auch noch nicht mal die Zeit für eine kurze Vorstellung genommen. Solche Sachen gehen mir dann im Nachgang noch länger durch den Kopf, und ich ärgere mich über solche Nachlässigkeiten. Tatsächlich ist es ja eher so, dass ich mich quasi über den Filter einer vermeintlichen Beobachterposition oder einer imaginierten Erwartungshaltung selbst beobachte. Diese Selbstbetrachtung ist vielleicht viel intensiver, als sie es normalerweise wäre, und dazu kommen dann natürlich auch alle Grundsatzfragen wieder dazu – wenn sie gestellt werden. Und wenn sie nicht gestellt werden, dann stelle ich sie mir selber. Sowas wie: „Warum?, „Was machst Du da?“, „Warum machst Du das so und nicht anders?“, „Warum dauert das so lange?“. Die bekommen nochmal eine andere Intensität. Ich komme ja eigentlich gar nicht dazu, Euch in der gleichen Intensität zurückzubeobachten. Aber das ist ja auch gar nicht angelegt.

 

Das stimmt, wir sind aber für alle Fragen offen! Vielleicht holen wir das Vorstellen einfach nach. [Vorstellungsrunde] Das würde thematisch ganz gut passen: Fehlt es Dir, oder hat es Dir während des Projekts gefehlt, gleichermaßen einen Einblick in unsere Arbeit zu bekommen: wer wir sind, und was wir eigentlich mit Deinem Werk anstellen?

Ich finde es sehr interessant und hoffe auch, dass ich im Nachklapp ein bisschen davon mitbekommen werde. Auch Texte, die vielleicht noch im Seminar entstehen. Diese Gespräche sind ja dominiert davon, dass ich antworte, und weniger davon, dass ich etwas frage. Vielleicht hätte ich von Anfang an eine andere Dynamik forcieren müssen. Aber ich habe mich in gewisser Weise auch in Höflichkeit geübt. Ich hätte natürlich auch jeden Freitag über die volle Zeit das Seminar besuchen können, für mich wäre es dann aber auch eine Vollzeitveranstaltung geworden, die noch mehr Zeit vom Schreiben abgezogen hätte. Ich hatte von Anfang an die Sorge, und hätte sie dann noch stärker gehabt, dass das Projekt irgendwann ein sehr eng um sich selbst kreisendes Geschäft wird, in dem ich darüber nachdenke, wie ich beobachtet werde, und dabei wiederum beobachtet werde. Dann sind wir ja irgendwann schnell in einer Endlosschleife gefangen. Von daher war der Gedanke von Anfang an eher, dass ich abseits dieser Beobachtungssituation und dieses Kontextes versuchen sollte, etwas in diese Texte hereinzuholen, und überhaupt in das Sprechen und in das Nachdenken.

 

An einer Stelle im Produktionstagebuch „Gastland-Ableger“ vom 10. Mai 2021 heißt es: „Der Landgastschreiber denkt, dass auch der Gedanke, der unter Selbst- und Fremdbeobachtung verfertigt wird, unter der Frage, ob er ein kluger Gedanke ist, der den Denker als schlauen Schreiber ausweisen würde, nie wirklich treffen kann, weil ihn das Wollen vom Ziel abgelenkt hat.“ Heißt das letztendlich, dass das Schreiben, nur wenn es unverkrampft und unbewusst und vor allem auch ohne Beobachtung stattfindet, ein Ziel erreichen kann?

Das mit dem Ziel ist natürlich eine schwierige Sache, beziehungsweise eine schwammige Vorstellung. Was sollte das sein? Welches Ziel würde man erreichen wollen? Vielleicht einen guten Text, vielleicht eine treffende Formulierung? Es ist sehr interessant, wie diese Metaphern in das Sprechen über die Literatur und über die Sprache Einzug gefunden haben. Dass man sagt: „es gibt eine treffende Formulierung“, die wohl offenbar ein Ziel hatte, das sie anvisiert und getroffen hat. Und dass diese Formulierung dann tatsächlich etwas beschreiben oder benennen kann. Ich glaube schon, dass es eine Art von Beiläufigkeit oder Ungezwungenheit gibt, die zu besseren oder anders treffenden Formulierungen führen kann. Dieser ganze Text, aus dem gerade zitiert wurde, der dreht sich ja um die Frage: Wenn ich etwas sehr will, und mich sehr angestrengt darauf konzentriere (wie zum Beispiel auf diese Situation im Größeren), bekomme ich dann noch das, was ich möchte? Werde ich es dann überhaupt erreichen?

In dem angesprochenen Produktionstagebuch geht es um ein Murmelspiel. Das ist ein Auszug aus einem Text von J. D. Salinger. Für ihn war es, denke ich, ein ewiges Ziel im Schreiben nicht zu sehr Formvorgaben zu erfüllen, oder überhaupt nur zu sehr Schriftsteller sein, oder ein gutes Buch schreiben zu wollen. Diese ganze Eitelkeit steht einem auch irgendwie ständig im Weg, man will etwas erreichen, und plötzlich ist man dann mit seinem Willen, und seiner ganzen Fehlbarkeit am operieren, die man als verletzter und verletzbarer Mensch hat, und die Wahrscheinlichkeit nimmt nur ab, dass man etwas trifft, das über einen selbst hinausgeht.

Das ist dann der springende Punkt: Man hofft immer einen Zustand zu erreichen, der von einem selbst abstrahiert, der etwas Erhöhtes hat, etwas, das mehr ist als das eigene Leben, mehr ist als das, was man in seinem Leben selber zurechtdenkt und zurechtschreibt. Da gibt es viele schöne Beispiele aus der Literatur, bei denen das gelingt. Ich möchte dann gerne glauben, dass sie in Momenten geschrieben wurden, in denen dieses Loslassen zumindest ein Stück weit möglich gewesen ist.

 

Hat das Landgastschreiber-Projekt eigentlich überhaupt funktioniert?

Es ist ja ein Experiment, von daher kann es eigentlich nur funktionieren. Sein Gelingen ist nicht daran gebunden, ob ich mich angemessen repräsentiert, oder ordentlich beobachtet fühle – wir sitzen alle hier, und wir sprechen miteinander, das Seminar findet statt, das Lesen findet statt und das Schreiben findet statt. Von daher ist das Experiment eigentlich schon geglückt. Es sind alle anwesend, alle Faktoren können beobachtet werden. Wie das letztendlich ausgewertet wird, beziehungsweise ob das am Ende überhaupt bewertet werden muss, steht nochmal auf einem anderen Blatt. Für die Zukunft, sollte dieses Projekt fortgeführt werden, würde ich aber vielleicht vorschlagen, die beiden Dinge zu trennen: dass man nicht gleichzeitig eine Beobachtungsinstanz einführt und jemanden an einen anderen Ort versetzt, mit dem die Person sich auseinandersetzen muss und an dem sie das eigene Arbeiten vielleicht nochmal auf eine andere Art reflektiert.

Ich kann mir vorstellen, dass es ein literaturwissenschaftliches Interesse daran geben kann: Denkt man an einem anderen Ort anders über das eigene Schreiben? Wenn man aus der eigenen Suppe herauskommt, aus den eigenen Kontexten und den Gesprächen, die man sich ja selber aussucht, indem man sich die Leute selber ausgesucht hat, mit denen man sie führt. Passiert bei so einem Ortswechsel auch etwas im Nachdenken über das Schreiben? Das ist eine interessante Frage, und wäre bestimmt auch für das Seminar interessant zu beobachten. Gleichzeitig finde ich diese Verschränkung aber auch sehr üppig in ihren Anforderungen. Wenn man beides gleichzeitig fährt, dann müsste man sich von vornherein darauf einstellen, dass man außer diesem Projekt nicht viel anderes tun wird. Dann muss dieses Seminar und diese Beobachtungsperspektive sich auch darauf einstellen, dass sie keinen Prozess der Arbeit am Roman beobachten kann – dazu müsste man Roland Barthes lesen, und für alles andere kann man den Landgastschreiber beobachten.

Wenn ich jetzt in Berlin säße und dreimal die Woche die ein oder andere Verabredung mit diesem Seminar hätte, dann könnte über die Textarbeit anders gesprochen werden. Oder wenn der Text, an dem ich gerade arbeite, schon weiter fortgeschritten wäre, wenn wir uns zum Beispiel im Sommer letztes Jahr auf diese Art zusammengefunden hätten. Ich hätte im März die erste Fassung von Malé abgegeben gehabt: Gerade gab es das Lektorat, das sagt der Lektor, das macht mich fuchsig, das verstehe ich total gut – gerade können wir zum Beispiel nur per Skype lektorieren, was bedeutet das eigentlich? Und inwiefern ähnelt das der Tatsache, dass wir jetzt gerade nur Videoschalten machen können? Verschiedene Szenarien hätten jeweils andere Beobachtungsgrundlagen, und würden damit zu anderen Ergebnissen führen. Harte Theorie kommt hierbei sicherlich nicht heraus, empirisch darf sich das nicht nennen, denke ich. Aber ja, das wäre vielleicht mein Vorschlag, wenn das Projekt weiterginge.

 

Unser Seminar ist schon fast zu Ende, am kommenden Freitag haben wir unsere letzte Sitzung. Wie geht es für Dich weiter? Wie lange bist Du noch in Irsee? Im Anschluss kannst Du Dich dann ja endlich auf das Schreiben konzentrieren.

Das stimmt – und jetzt habe ich mich ja gerade daran gewöhnt – am Freitag ist das letzte Seminar, und eine Woche später, am Freitag, fahre ich nach Hause nach Berlin. Und es ist tatsächlich so, dass ich mich innerlich schon darauf eingestellt habe, dass ich die wirklich konzentrierte Textarbeit, wie ich sie gewohnt bin, dann fortführen werde, wenn ich zu Hause bin. Ich habe hier zwar im Nachdenken über diesen Text schon auch Fortschritte gemacht, und parallel noch andere Sachen unabhängig von Seminar und Aufenthalt gehabt, über die ich etwas mehr begriffen habe, was ich eigentlich mache. Und in den Begegnungen hier habe ich festgestellt, dass meine Neugierde eine Art von Kanalisiertheit und Zielgerichtetheit hat, insofern, als ich in diese Gespräche Fragen einbringe, die das Buch betreffen, und die Aussagen der Leute in einem anderen Resonanzraum widerhallen. Es hat auf jeden Fall ein Prozess und auch ein Fortschritt stattgefunden. Aber es hat sich auch wieder gezeigt, dass zumindest ich zu Hause wahrscheinlich doch am besten schreiben kann.

 

Wärst Du gerne länger in Irsee geblieben, oder findest Du es nicht schlecht, wieder nach Hause zu gehen?

Ich finde es schon gut, nach Hause gehen zu können. Es gibt sicherlich gute Gründe, noch hier zu bleiben: Es gibt nette Leute und ganz fabelhafte Wege, auf denen man wandern kann, aber ja, es ist eben auch nicht mein Leben. Ich bin ja aus guten Gründen aus einem eher ländlichen Kontext in die Stadt gezogen – ich kann hier zu Gast sein, aber ich würde nie etwas anderes sein als Gast. Ich glaube, ich könnte hier auch nach vierzig Jahren nur Gast sein. Ich habe das erlebt, soweit es geht. Wenn jetzt morgen die Beschränkungen zurückgenommen würden und sich alle auf einmal nicht mehr sorgen müssten, ansteckend zu sein oder sich anzustecken, und man herumlaufen könnte wie früher, dann wäre das vielleicht etwas anderes. Dann würde ich mir denken: Okay, dann machen wir hier nochmal zwei, drei Wochen Normalzustand in diesem Ort, um das mal herausgefunden zu haben. Heute habe ich aber auch erfahren, dass ich noch einmal zurückkomme, weil die jetzt ausgefallenen Veranstaltungen verlegt werden konnten, und im September 2021 nachgeholt werden, womit der Ort von mir im Herbst dann vielleicht unter anderen Bedingungen nochmal begangen werden kann.

 

Eine von diesen Veranstaltungen findet morgen statt, eine Lesung: Was wirst Du lesen, wie bereitest Du Dich vor? Weißt Du schon, worum es thematisch gehen wird?

Die thematische Rahmung wird sein, dass es dieses Projekt gibt, dass ich hier bin, und dass ich einer Öffentlichkeit vorgestellt werden soll, von daher werde ich versuchen, eine Art Medley auf der Grundlage des letzten Buches und von ein paar Auszügen aus den Dingen, die ich hier geschrieben habe, zusammenzubauen. Mal sehen, wie viel mir davon bis morgen gelingen kann. Das lese ich, dann gibt es noch ein Gespräch und das ist es dann auch schon. Gerade bei solchen Online-Veranstaltungen sollte man darauf achten, dass man es nicht überzieht, also nicht so, wie wir diese Telegramveranstaltungen [Lesung der Literaturshow NRW, 7. Dezember 2020] überzogen haben, die waren ja auch beide zu lang.

 

Ja, es ist sehr spannend, wie Lesungen im digitalen Raum überhaupt stattfinden können...

Ich habe das, was wir morgen machen, schon drei andere Male gemacht, in Literaturhäusern, die entsprechend ausgerüstet waren. Man konnte sich mit Abstand und Masken und Testen und so weiter auf eine Bühne setzen, und mit jemandem unterhalten und lesen, es gab aber auch richtige Kameras und Mikrofone, was einen großen Unterscheid macht: Ich lese in meine Tastatur, und meine Laptopkamera filmt mich dabei. Für professionell aufgezeichnete Formate gibt es dann vielleicht doch noch eine Geduld oder einen Bedarf, weil sie wieder so ein bisschen näher am Fernsehen sind, also eine wahnsinnig entschleunigte, hochverkopfte Form des Fernsehens.

Andererseits diese Konferenzästhetik – es würde mich wirklich wundern, wenn jemand das noch weiterhin durchhalten könnte. Sich nach einem Jahr noch eine Lesung von einer Stunde reinzuziehen, und nicht währenddessen irgendwann zu merken, dass man schon angefangen hat Staub zu saugen. Meine Hoffnung ist, dass wir die Lesung relativ kurz halten können, aber auch so, dass sie etwas Prägnantes bekommt. Dafür ist es auch sehr relevant, dass es zumindest die Simulation dieses Auratischen einer Lesungsveranstaltung mit richtigen Menschen gibt. Also dass man sich noch nicht geschlagen gegeben hat, sozusagen, und das Blecherne akzeptiert.

 

Wir fragen uns auch schon, wie wir uns von der Digitalität überhaupt wieder erholen sollen.

Ja, ich habe keine Ahnung. Das ist eine der Sorgen, dass eine Abwanderung in die Virtualität stattfindet, die vielleicht vielerorts gar nicht mehr wirklich rückgängig zu machen ist. Und ich habe auch viele Leute sagen hören, dass sie das jetzt gemütlicher finden, dass das so nice ist, dass man nicht mehr herumfahren muss, nicht mehr in die Arbeit fahren, die Straßen sind schön leer, und was auch immer. Das muss man vielleicht auch wieder zurückkriegen: dass man sich daran freut, dass es wieder voll ist und dass die anderen natürlich auch stören, aber es ist ja auch wichtig, sich stören zu lassen. Das ungestörte Leben vergeht so rasend schnell, das möchte auch keiner.

Und das Zweite ist dann diese Art, vom bösen Blick wieder loszukommen, also die Anderen als die Spreader zu sehen, und als die, die ihre Masken nicht ordentlich aufsetzen, als die zu eng an Dir Vorbeilaufenden, und als die, die auf irgendwelche bescheuerten Hygienedemos gehen. Das ist wirklich ein gefährdetes Gut: die Neugier an den Anderen, draußen, wo sie wirklich sind.

 

Das können wir bestätigen, der persönliche Austausch, die Impressionen, die man sonst durch Begegnungen und Lebenserfahrungen sammelt, fehlen. Hat die Situation auch Dich als Autor verändert, oder kannst Du das noch nicht beurteilen?

Ich habe bei mir immer das Gefühl, dass diese ganzen Prozesse so unwahrscheinlich langsam ablaufen, dass ich darüber noch gar keine Aussage treffen kann.

 

Irgendwann schreibst Du nur noch in Zoom-Bildschirmen, und dann ist der Punkt erreicht, an dem man merkt, dass es einen zu sehr eingenommen hat.

Genau, alle anderen haben die Pandemie dann längst wieder vergessen, und fragen sich: „Was macht denn der da?“ Meistens dauert das ziemlich lange, und deshalb fühlt diese Situation sich für mich unwirklich an. Ich gehe davon aus, dass Begegnungen, die ich hier habe, Sachen, die ich sehe, und Dinge, die ich wahrnehme, schon in Texte einfließen werden, aber sicherlich erst später, das ist bei mir nicht so unmittelbar.

Sobald man in diesen Zustand übertreten kann, in dem man nicht genau zielt, oder es nicht so sehr will: dann passiert etwas, und es passiert dann auch in genau dem Moment, das ist das Schöne daran. Aber die Reflexion über den Ort, darüber, was das bedeutet und was mein Hiersein bedeutet, was diese Gespräche bedeuten, die ich geführt habe, ist, denke ich, nicht sofort einzuarbeiten in einen fortlaufenden Fließtext, an dem man die ganze Zeit schreibt. Das wäre dann eher eine journalistische Art zu schreiben. Diese Fähigkeit, Sachen zeitnah zu fassen und im Text zu behandeln und zu veröffentlichen, beeindruckt mich immer, und ich beneide sie auch.

 

Schlägt sich die aktuelle Situation und insbesondere dieses ‚Abgeschottetsein‘ in Irsee indirekt auf die Grundstimmung Deiner Texte nieder? Herrscht da vielleicht unbewusst eine Stimmung vor, die dann doch im Text greifbar werden könnte?

Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, ob das so eine Tiefendimension hat. Ich habe gerade erst letzte Woche ein Podcast-Gespräch mit der Leiterin vom literarischen Zentrum in Göttingen geführt. Den Podcast kann man nachhören, er heißt boxenstopp und ist für einen Kongress gedacht, auf dem verschiedene Schreibende von Gegenwartsliteratur eingeladen sind, miteinander darüber zu sprechen, ob diese aktuelle Krise eine ist, die das Schreiben beeinflusst, oder ob das Schreiben sich nicht ohnehin immer von einem krisenhaften Zustand speist, den das Leben auch davor schon hatte und danach haben wird. Aber ich glaube schon, dass man, wenn man hauptsächlich Texte schreibt, mit der Krisenhaftigkeit des Daseins und dem prekären Status der Persönlichkeit vertraut ist, und dass es immer wieder Zustände gibt, in denen man nicht mehr weiß, wer man ist und warum, und was das soll, was da draußen passiert.

Die Grundstimmung meiner Texte war vorher vielleicht auch keine fröhliche oder unbeschwerte, das hat sich also in der Pandemie nicht stark verändert. Bestimmte Tendenzen sind in dieser Zeit schon stark vergrößert und verstärkt worden, aber ich empfinde das selbst nicht so, als hätte mein Schreiben oder mein Empfinden dadurch eine andere Qualität bekommen oder sich stark verändert. Am Anfang hatte ich sogar eher das Gefühl: Das Leben, wie ich es führe, ist eigentlich gut darauf ausgerichtet, in eine Lockdownsituation reinzukommen und sich nicht so wahnsinnig viel zu verändern. Es war ja ohnehin eine selbstgewählte Quarantäne, aber ja, nein, ich glaube – ich kann auch einfach ‚nein‘ sagen.

 

Das Gespräch führten Andrea Bodenmüller, Katharina Junker, Viola Müller und Alina Tempelhoff.