Kultur trotz Corona: „Eine Gedankenreise zu Sofia Andrejewna Tolstaja und ihrem Mann“. Von Lena Gorelik
Lena Gorelik (* 1981 in Sankt Petersburg) kam 1992 mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie studierte Journalismus und Osteuropastudien in München, wo sie auch heute lebt. Bisher hat die vielfach ausgezeichnete Autorin belletristische und journalistische Texte sowie Reiseliteratur veröffentlicht. Ihr bislang letzter Roman Mehr Schwarz als Lila erschien 2017 und war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. 2018 erhielt Lena Gorelik das Arbeitsstipendium für Autor*innen der Stadt München. 2020 wurde die Autorin und Essayistin als Ordentliches Mitglied in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen. Bereits im Frühjahr 2020 schrieb Lena Gorelik einen Corona-Blog, den sie im Herbst mit einer mehrteiligen Reihe im Literaturportal Bayern ergänzte. 2021 erschien ihr aktueller Roman Wer wir sind im Rowohlt Verlag.
Mit dem vorliegenden Text über Sofja Andrejewna Tolstaja (1844-1919) und ihrem Mann, dem russischen Schriftsteller, Philosophen und Sozialutopisten Leo (Lew) Tolstoi (1828-1910), beteiligt sich Lena Gorelik an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Schrieb er, schrieb ich. Eine Gedankenreise zu Sofia Andrejewna Tolstaja und ihrem Mann
Schrieb er. Jeden Morgen, wie wild. Jeden Morgen, jeden Tag, all die Worte. Hielt inne. Suchte, fand nichts. Suchte, beim Spaziergang, zwischen den Bäumen, kamen sie manchmal schneller, die Worte. Als wüsste sein Kopf, dass er gerade keinen Bleistift zur Hand hatte. Schrieb frenetisch, Wort für Wort, Buchstabe nach Buchstabe, all die Linien, all die Fragen. Alles, was nicht durchgestrichen ist.
Manchmal bellte ein Hund.
Nachmittags dann, die Arbeit mit ihr. Er war es, der ihr die Tür öffnete, wie sie herein kam, ihre Augen, die immerzu etwas wollten. Er senkte die seinen, einfach um dem Wollen zu entgehen. Senkte die Augen seinen Gedanken entgegen. Er schrieb, sie war es, die ihm zuhörte.
Oder auf ihn hörte, wer braucht sie schon, diese feinlinigen, feinsinnigen Unterschiede. Er nicht, doch nicht dieser große Mann. Schrieb ich, schreibe ich, stelle keine Fragen, höre nur. Höre nur, was ich denke.
Schrieb sie. Abends schrieb sie, nachts wahrscheinlich noch, in den Nächten, in denen keines der Kinder fieberte, schrie, in den seltenen Nächten. Wenn die Hunde ganz still waren, wenn die Hunde schliefen, dieser hündische, tierische Drang zu bellen. Der Drang zu schreien, der zu schreiben, seiner, ihrer, meiner. Ich schreibe am Morgen, höre, höre Fragen.
Sie stickte. Feine, bunte Fäden, feingliedrige, bewegliche Finger, die Nadel, die in den Finger pikst. Schmerzen, die im Unterbauch, ein Kind, das sich in diesem bewegt, oder eines, das sich eben nicht mehr bewegt, ständige Schmerzen. Sechzehn Kinder, ein Stich nach dem anderen, der weiße Stoff irgendwann von blumigen Mustern durchzogen. Wenn die Kinder schliefen, wenn keines mehr hustete, und kein Weinen mehr zu hören war, wenn keine Tränen waren, saß sie an seinen Worten. Alles, was nicht durchgestrichen worden war. Worte, die Sätze, die Muster, die Geschichten bildeten, einfach so, oder durch Arbeit, durch seine, durch ihre, durch seine natürlich, die großen Romane, die eben der große Mann schrieb. Manchmal schrieb er, manchmal schrie er, und wenn ihr die Augen zufielen, in jenen Nächten, stellte sie sich ans Fenster, die kalte Luft, die über das Gesicht wischte wie ein nasser Waschlappen, und dann schrie das Kind, das wieder gestillt werden musste, eines der Kinder, schon wieder. So schreibe ich sie. Worte, Sätze, Geschichten, wovon handelten sie, von ihm, von ihr, von ihnen, von Beziehungsgeflechten, von Menschen, von befreundeten Menschen, verhassten, jenen, auf die man herabsah, aus moralischen Gründen. Abends versammelten sich Gäste im Salon, Klaviermusik, viele gesprochene Worte, gestapelte Teller, die Hunde bellten nachts so gut wie nie.
Manchmal hielt er beim Schreiben inne. Manchmal bellte, während er innehielt, ein Hund. Dann schrie er. Ihre Angst war leise, es war eine müde Angst, so war das Leben.
Manchmal bellte ein Hund, er schrie, sie wies Leute an, den Hunden die Mäuler zu halten, die sabbernden, tropfenden Mäuler, Hände, die gegen Zähne kämpfen, seid leise, Ihr Köter, jetzt. Er schrieb. Die Kinder lernten früh, leise zu sein in jenen Stunden, lernten vielleicht die Wälder kennen.
Schrieb er, schrieb sie. Schrieb sie abends, schrieb sie nach dem Stillen, schrieb sie in den frühen Morgenstunden, schrieb sie, wenn er schlief. Ich kann sie mir nicht tagsüber beim Schreiben vorstellen, ich kann es einfach nicht. Schrieb sie langsam, suchte sie nach Worten, hatte sie nicht die Zeit, nach Worten zu suchen, schrieb sie nur. Vielleicht wollte sie auch nicht.
Schreibe ich, heute. Schreibe ich über ihn, über sie. Gelesene Worte, Bilder im Kopf, Jahrzehnte dazwischen, ein Jahrhundert gar. All diese Fragen, was darf ich schreiben. Schrieb er, hatte er Fragen.
Wie sie aufsteht, als er ihr diese Worte liest. Eine Novelle. Etwas Neues, von langer Hand geplant. Wie sie etwas sagt, erzürnt oder leise oder unverständlich, weil die Tränen die Sprache verwischen, sie stellen sich der Meinung einfach in den Weg.
Das darfst du nicht schreiben.
Hat sie das jemals gesagt, schreibe ich das, lasse ich sie das sagen, sage ich das zu mir.
Das darfst du nicht schreiben. Alle werden denken, dass ich. Alle werden sagen. Ich will das nicht, sagt sie diesen Satz, einmal, zweimal, die Schmerzen nach den Fehlgeburten, die Schmerzen zwischen den Geburten, all die Worte, die über sie, die über alles, was ihr lieb ist, all die Worte, die ihr Leben verwischen.
Lies, was ich geschrieben habe, hat sie das jemals gesagt.
Er sagt nichts, seine Wut sagt alles. Aus allen Fenstern, bis die Hunde wieder bellen, diesmal aus Angst. Geschrei, geschlagene Türen, das Kindermädchen geht mit den Kleinen in den Wald. Er schreibt, darf nicht gestört werden. Im Wald geht er manchmal spazieren, ist da allein, kann alles durchdenken, alles, was er zu sagen, zu schreiben hat. Wort für Wort, Geschichte für Geschichte, Mensch für Mensch, Mann für Mann, Frau für Frau, wenn er zurückkehrt, was macht sie gerade, wo ist sie. Stickt sie, arbeitet sie an seinen Worten, hat eines der Kinder Fieber bekommen, das gibt es immer, in jeder Familie, ein Sorgenkind. Ich habe mir nicht gemerkt, wie ihr Sorgenkind hieß.
Fragt er sie, nach ihrem Tag, fragt er sie, nach ihr. Nach ihren Worten.
Das darfst du nicht schreiben.
Fragt er sich, was er darf, gab es vielleicht kein Dürfen, weil alles Schreiben ein Müssen war, ist es vielleicht immer noch so. Unten warteten sie am Tisch, warteten, bis er ihnen die Welt und alles andere erklärte. Er strich sich, wenn er sprach, durch den Bart, das muss ich natürlich schreiben, wie er sich durch den Bart streicht. Weil ich die Bilder kenne, der große Mann mit dem langen Bart, und seine Frau, irgendwo, hinter ihm, manchmal die Hand auf seiner Schulter. Schreibe ich.
Kultur trotz Corona: „Eine Gedankenreise zu Sofia Andrejewna Tolstaja und ihrem Mann“. Von Lena Gorelik>
Lena Gorelik (* 1981 in Sankt Petersburg) kam 1992 mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie studierte Journalismus und Osteuropastudien in München, wo sie auch heute lebt. Bisher hat die vielfach ausgezeichnete Autorin belletristische und journalistische Texte sowie Reiseliteratur veröffentlicht. Ihr bislang letzter Roman Mehr Schwarz als Lila erschien 2017 und war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. 2018 erhielt Lena Gorelik das Arbeitsstipendium für Autor*innen der Stadt München. 2020 wurde die Autorin und Essayistin als Ordentliches Mitglied in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen. Bereits im Frühjahr 2020 schrieb Lena Gorelik einen Corona-Blog, den sie im Herbst mit einer mehrteiligen Reihe im Literaturportal Bayern ergänzte. 2021 erschien ihr aktueller Roman Wer wir sind im Rowohlt Verlag.
Mit dem vorliegenden Text über Sofja Andrejewna Tolstaja (1844-1919) und ihrem Mann, dem russischen Schriftsteller, Philosophen und Sozialutopisten Leo (Lew) Tolstoi (1828-1910), beteiligt sich Lena Gorelik an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Schrieb er, schrieb ich. Eine Gedankenreise zu Sofia Andrejewna Tolstaja und ihrem Mann
Schrieb er. Jeden Morgen, wie wild. Jeden Morgen, jeden Tag, all die Worte. Hielt inne. Suchte, fand nichts. Suchte, beim Spaziergang, zwischen den Bäumen, kamen sie manchmal schneller, die Worte. Als wüsste sein Kopf, dass er gerade keinen Bleistift zur Hand hatte. Schrieb frenetisch, Wort für Wort, Buchstabe nach Buchstabe, all die Linien, all die Fragen. Alles, was nicht durchgestrichen ist.
Manchmal bellte ein Hund.
Nachmittags dann, die Arbeit mit ihr. Er war es, der ihr die Tür öffnete, wie sie herein kam, ihre Augen, die immerzu etwas wollten. Er senkte die seinen, einfach um dem Wollen zu entgehen. Senkte die Augen seinen Gedanken entgegen. Er schrieb, sie war es, die ihm zuhörte.
Oder auf ihn hörte, wer braucht sie schon, diese feinlinigen, feinsinnigen Unterschiede. Er nicht, doch nicht dieser große Mann. Schrieb ich, schreibe ich, stelle keine Fragen, höre nur. Höre nur, was ich denke.
Schrieb sie. Abends schrieb sie, nachts wahrscheinlich noch, in den Nächten, in denen keines der Kinder fieberte, schrie, in den seltenen Nächten. Wenn die Hunde ganz still waren, wenn die Hunde schliefen, dieser hündische, tierische Drang zu bellen. Der Drang zu schreien, der zu schreiben, seiner, ihrer, meiner. Ich schreibe am Morgen, höre, höre Fragen.
Sie stickte. Feine, bunte Fäden, feingliedrige, bewegliche Finger, die Nadel, die in den Finger pikst. Schmerzen, die im Unterbauch, ein Kind, das sich in diesem bewegt, oder eines, das sich eben nicht mehr bewegt, ständige Schmerzen. Sechzehn Kinder, ein Stich nach dem anderen, der weiße Stoff irgendwann von blumigen Mustern durchzogen. Wenn die Kinder schliefen, wenn keines mehr hustete, und kein Weinen mehr zu hören war, wenn keine Tränen waren, saß sie an seinen Worten. Alles, was nicht durchgestrichen worden war. Worte, die Sätze, die Muster, die Geschichten bildeten, einfach so, oder durch Arbeit, durch seine, durch ihre, durch seine natürlich, die großen Romane, die eben der große Mann schrieb. Manchmal schrieb er, manchmal schrie er, und wenn ihr die Augen zufielen, in jenen Nächten, stellte sie sich ans Fenster, die kalte Luft, die über das Gesicht wischte wie ein nasser Waschlappen, und dann schrie das Kind, das wieder gestillt werden musste, eines der Kinder, schon wieder. So schreibe ich sie. Worte, Sätze, Geschichten, wovon handelten sie, von ihm, von ihr, von ihnen, von Beziehungsgeflechten, von Menschen, von befreundeten Menschen, verhassten, jenen, auf die man herabsah, aus moralischen Gründen. Abends versammelten sich Gäste im Salon, Klaviermusik, viele gesprochene Worte, gestapelte Teller, die Hunde bellten nachts so gut wie nie.
Manchmal hielt er beim Schreiben inne. Manchmal bellte, während er innehielt, ein Hund. Dann schrie er. Ihre Angst war leise, es war eine müde Angst, so war das Leben.
Manchmal bellte ein Hund, er schrie, sie wies Leute an, den Hunden die Mäuler zu halten, die sabbernden, tropfenden Mäuler, Hände, die gegen Zähne kämpfen, seid leise, Ihr Köter, jetzt. Er schrieb. Die Kinder lernten früh, leise zu sein in jenen Stunden, lernten vielleicht die Wälder kennen.
Schrieb er, schrieb sie. Schrieb sie abends, schrieb sie nach dem Stillen, schrieb sie in den frühen Morgenstunden, schrieb sie, wenn er schlief. Ich kann sie mir nicht tagsüber beim Schreiben vorstellen, ich kann es einfach nicht. Schrieb sie langsam, suchte sie nach Worten, hatte sie nicht die Zeit, nach Worten zu suchen, schrieb sie nur. Vielleicht wollte sie auch nicht.
Schreibe ich, heute. Schreibe ich über ihn, über sie. Gelesene Worte, Bilder im Kopf, Jahrzehnte dazwischen, ein Jahrhundert gar. All diese Fragen, was darf ich schreiben. Schrieb er, hatte er Fragen.
Wie sie aufsteht, als er ihr diese Worte liest. Eine Novelle. Etwas Neues, von langer Hand geplant. Wie sie etwas sagt, erzürnt oder leise oder unverständlich, weil die Tränen die Sprache verwischen, sie stellen sich der Meinung einfach in den Weg.
Das darfst du nicht schreiben.
Hat sie das jemals gesagt, schreibe ich das, lasse ich sie das sagen, sage ich das zu mir.
Das darfst du nicht schreiben. Alle werden denken, dass ich. Alle werden sagen. Ich will das nicht, sagt sie diesen Satz, einmal, zweimal, die Schmerzen nach den Fehlgeburten, die Schmerzen zwischen den Geburten, all die Worte, die über sie, die über alles, was ihr lieb ist, all die Worte, die ihr Leben verwischen.
Lies, was ich geschrieben habe, hat sie das jemals gesagt.
Er sagt nichts, seine Wut sagt alles. Aus allen Fenstern, bis die Hunde wieder bellen, diesmal aus Angst. Geschrei, geschlagene Türen, das Kindermädchen geht mit den Kleinen in den Wald. Er schreibt, darf nicht gestört werden. Im Wald geht er manchmal spazieren, ist da allein, kann alles durchdenken, alles, was er zu sagen, zu schreiben hat. Wort für Wort, Geschichte für Geschichte, Mensch für Mensch, Mann für Mann, Frau für Frau, wenn er zurückkehrt, was macht sie gerade, wo ist sie. Stickt sie, arbeitet sie an seinen Worten, hat eines der Kinder Fieber bekommen, das gibt es immer, in jeder Familie, ein Sorgenkind. Ich habe mir nicht gemerkt, wie ihr Sorgenkind hieß.
Fragt er sie, nach ihrem Tag, fragt er sie, nach ihr. Nach ihren Worten.
Das darfst du nicht schreiben.
Fragt er sich, was er darf, gab es vielleicht kein Dürfen, weil alles Schreiben ein Müssen war, ist es vielleicht immer noch so. Unten warteten sie am Tisch, warteten, bis er ihnen die Welt und alles andere erklärte. Er strich sich, wenn er sprach, durch den Bart, das muss ich natürlich schreiben, wie er sich durch den Bart streicht. Weil ich die Bilder kenne, der große Mann mit dem langen Bart, und seine Frau, irgendwo, hinter ihm, manchmal die Hand auf seiner Schulter. Schreibe ich.