Kultur trotz Corona: „Die volle Ladung aus Schalke“. Von Carola Gruber
Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020).
Von Juni bis September 2021 war Carola Gruber als writer-in-residence in Gelsenkirchen und verfolgte dabei u.a. die Entstehung einer Kunstinstallation von Dawid Liftinger, Mabel Yu-ting Huang und Ole-Kristian Heyer im Rahmen der Transurban Residency in Schalke (Gelsenkirchen) mit. Der folgende Text gibt Eindrücke der Straßenzüge wieder, die bei der Transurban Residency in Schalke bespielt wurden; Ausschnitte daraus wurden bei der Performance „Floating Garden“ Ende Juli 2021 präsentiert.
Mit dem Text beteiligt sich Carola Gruber an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Die volle Ladung aus Schalke
Die Straßenbahn ist eine Raupe, die sich durch die Stadt frisst, ohne dass diese weniger wird. Du sitzt darin und siehst Leute ein- und aussteigen. Du bist nicht darunter.
Viertel heißt das hier. Viertel. Nicht Kiez. Manchmal auch Siedlung. Notfalls auch Quartier, aber eher nicht. Vor allem nicht Kiez. Hier ist nicht Berlin.
Laterne, Laterne
Schalke, Mond und Sterne
Die Leute sprechen von der roten Laterne. Ihre Stadt bildet das Rücklicht eines Autos namens BRD, vielleicht. Wieso kommst du an den Arsch des Rankings, ausgerechnet, fragen sie. Ich wusste nichts vom Ranking, sagst du, wusste nichts vom letzten Platz. Ich musste nachschauen, auf der Karte.
Du steigst aus. Du gehst links. Gehst nochmals links. Geradeaus.
Der weiße Container ist ein Kokon, in den sich eine Idee eingesponnen hat. Bald verlässt sie ihn als Schmetterling namens Kunst.
Der weiße Container ist ein Sarg, eckig und zuverlässig. Er trennt innen und außen. (Wo beginnt das Außen?)
Der weiße Container ist ein Spülmaschinen-Tab, das man hier abgelegt hat. Bald wird es sich aufgelöst haben. Oder?
Ich fahre nach Schalke, sagtest du deinen Freunden, die ebenfalls noch nie etwas vom Ranking gehört haben. Deine Freunde sagten: nicht nach Schalke, sondern auf Schalke. Wie im Fernsehen, im Radio, im Internet. Du gabst an mit Wissen, das du selbst gerade erst gelernt hast: Nach Schalke, in Schalke, nicht auf. Dir geht es nicht um Fußball.
Schalen aufgebrochener Sonnenblumenkerne an der Straßenbahnhaltestelle.
Auf dem Grilloplatz tollen Kinder durch die Wassersäulen des Brunnens, die Kleidung klebt an ihren Körpern. Ein Auto hält und hupt, saugt die Kinder samt Mutter ein. Auf einmal werden die Wassersäulen kleiner, als wüssten sie, dass sie nicht mehr gebraucht werden. (Ist das ein smarter Brunnen für die Stadt der Zukunft?)
Der weiße Container hat große spiegelnde Fenster: lädt zum Hineinschauen und verweigert sich doch.
Du setzt dich auf eine Bank am Brunnen.
Die Hinterlassenschaften früherer Besucher: medizinische Maske, Kronkorken, Zigarettenstummel, weitere Sonnenblumenkernschalen, die Verpackung eines Strohhalms, ein Kirschkern, ein Fetzen aus dem Werbeprospekt eines Supermarkts. Irgendetwas, vielleicht ein Mehrfachpack von Joghurt mit Knusperflakes, kostet 2,49 statt 2,99.
Schalke blüht auf, steht auf einem Blumenkasten aus Holz, gesponsert von einem Blumenladen. Mindestens für die ein oder zwei Quadratmeter im Kasten trifft das zu.
Kinder, andere Kinder als eben, fahren mit Tretroller und Mini-Segway Kreise auf dem Platz. Sie schreien – nicht Wörter, sondern Töne. Das scheint die einzige Kommunikationsform zu sein, die ihnen zur Verfügung steht.
An der Ampel hält ein Auto mit heruntergelassenen Fenstern, ein Lied schallt heraus. Jemand im Auto singt laut und falsch mit.
Der Grilloplatz mit Brunnen. Im Hintergrund die Kirche St. Joseph. Foto: Carola Gruber
Du überquerst die Kreuzung nach Norden. Gehst links an der Brücke vorbei.
Wind, eigentlich angenehm.
Eine Kneipe bietet sich als zertifizierte Impfstelle zum Zeckenschutz an. Eine Frau und ein Mann sitzen davor bei einem Bier. Sie sehen dich schräg an – oder du sie? Genügt es, im Zweifelsfall zu schwören, dass dich Fußball nicht interessiert? Oder ist das schlimmer, als für die falsche Mannschaft zu sein?
Ein paar Häuser weiter nutzt jemand die drei Fenster einer Erdgeschosswohnung für eine Ausstellung mit Dekofiguren. Es sieht aus wie drei Varianten des Paradieses. Erstens. Zwei Strandhütten, auf einer steht Tropical Paradise, dazu zwei Flamingos und eine große Ananas. Zweitens. Nordseeidylle mit Leuchtturm und Schifffahrtskapitän. Drittens. Gartenzwerge in Schalke-04-Fan-Montur, auf der Brust Schlägel und Eisen sowie der Schriftzug Glückauf.
Die Brücke ist eine Schildkröte, mit gewölbtem Rücken.
Die Brücke beugt sich über etwas, das sie verbergen will.
Die Brücke brütet etwas aus, unter ihren Fittichen.
Der Platz darunter wie die Donnersbergerbrücke in München: ein Verkehrsknotenpunkt, bei dem vergessen wurde, dass Leute manchmal auch zu Fuß unterwegs sind.
Ein Ort zum Abstellen, zum Abgestelltwerden.
Ein Ort, der sagt: hier nicht.
Keine Wendemöglichkeit für LKW
Privatparkplatz!
Der Gehweg, falls das einer sein soll, ist nur einen halben Meter breit.
Auf dem Privatparkplatz eine Familie, spielende Kinder – ein Picknick? Wieso hier?
An einem Brückenpfeiler steht einer, mustert dich. Sein Blick sagt: Was willst du hier? (Und er, was will er hier? Wartet er auf jemanden? Mit wem verabredet man sich an diesem Ort?)
Über euch die rollenden Reifen der Autos und eine Schwelle, über die sie fahren: das Geräusch von zwei kurz nacheinander auf dem Boden aufkommenden Hufpaaren, Ta-Dam.
Hier zu warten, bedeutet, ständig dieses Ta-Dam zu hören.
Dazu die Lüftung der E-Tankstation. Strom vom Band. Die volle Ladung aus Gelsenkirchen.
Die Sonne geht bald unter, hinter dem Fabrikgebäude links. Ein hoher Horizont.
Der Platz unter der Brücke ist eine überdachte Kuhle, schlechte Sicht zur Seite und keine nach oben.
Du machst Kehrt, hältst dich links, gehst unter der Brücke hindurch zu einer Treppe.
Weitere Hinterlassenschaften: eine Jack-Daniels-Flasche, eine Eistee- und eine Durstlöscher-Packung, eine Energy-Drink-Dose, eine Bananenkiste, ein Einkaufswagen, auf der Seite liegend, Kippen, Kronkorken, Hundekot, ein wild entsorgter Kühlschrank, das Gemüsefach liegt oben auf, ein Ayran-Becher. Alles leer, verbraucht.
Du gehst die Treppe hoch, weiter nach Norden, die Sonne, die hier oben noch lange nicht untergeht, zur Linken.
Neben dir fährt eine Straßenbahn, unter ihrem Gewicht senkt sich die Brücke, um gleich darauf zurück nach oben zu schwingen.
Die Asphaltdecke auf dem Gehweg hier oben ist eine nervöse Teenagerhaut, unterschwellig brodelnd, gereizt von der Sonne, dunkle, gewölbte Stellen, bereit aufzuplatzen (oder sich davon erholend).
Du bleibst stehen, schaust von der Brücke herunter.
Ein Fabrikgelände, leere Rollen, nebeneinander stehend, gestapelt. Ein Schild. Drahtentladestelle.
Zwei, drei Männer überholen dich, zwei kommen dir entgegen. Auf der anderen Seite der Fahrbahn gehen drei Jugendliche, darunter die erste Frau, die du auf der Brücke siehst.
Die Wände unbewohnter Orte und alter Fabrikhallen ziehen Graffiti an, ein Naturgesetz, das auch hier gilt. Was es zu sagen gab, aus Sicht der Sprühenden: Das dumpfe Herz schafft das stumpfe Hirn ... trotz Ausgangssperre. Und: ACAB Antifa. Und: Always Love Yourself! Und: Ultras GE.
Blick von der Berliner Brücke auf ein Fabrikgebäude. Foto: Carola Gruber
Du gehst weiter, in Richtung einer kreuzenden Stromleitung.
In einer Verkehrspause sind plötzlich zu hören: das Rauschen von Blättern im Wind, Vogelgezwitscher und, herübergeweht, Kirchenglocken.
Dann wieder das Rauschen rollender Reifen, Ta-Dam.
Ein Ort, der selbst bei Sonnenuntergang ungemütlich ist.
Du gehst weiter, blickst von der Brücke herunter.
Der Hof eines Firmengeländes, eine grün überwucherte Fahrbahn. Drei Gestalten, eine davon winkt.
Hinter der Brücke hältst du dich rechts.
Die nächste Fabrikhalle, diese hier mit zerbrochenen Fenstern. Das Gefühl, zu klein zu sein, zu kurz geraten für diesen Ort, ihn mit deinem Körper nicht hinreichend füllen zu können, Tor und Zaun höher als du, die Fahrbahn so breit, dass du dich darauf fast verlierst.
Rechts die ehemalige Pförtnerloge, links eine Briefkastenwand.
Du hältst dich rechts, hin zur Stelle, von der dir gerade gewunken wurde.
Fast geschafft.
Gelsenkirchen, im Juli 2021
Blick von der Berliner Brücke auf die Gleise am Schalker Bahnhof. Im Hintergrund der Nordsternturm mit der Skulptur „Herkules von Gelsenkirchen“ von Markus Lüpertz. Foto: Carola Gruber
Kultur trotz Corona: „Die volle Ladung aus Schalke“. Von Carola Gruber>
Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020).
Von Juni bis September 2021 war Carola Gruber als writer-in-residence in Gelsenkirchen und verfolgte dabei u.a. die Entstehung einer Kunstinstallation von Dawid Liftinger, Mabel Yu-ting Huang und Ole-Kristian Heyer im Rahmen der Transurban Residency in Schalke (Gelsenkirchen) mit. Der folgende Text gibt Eindrücke der Straßenzüge wieder, die bei der Transurban Residency in Schalke bespielt wurden; Ausschnitte daraus wurden bei der Performance „Floating Garden“ Ende Juli 2021 präsentiert.
Mit dem Text beteiligt sich Carola Gruber an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Die volle Ladung aus Schalke
Die Straßenbahn ist eine Raupe, die sich durch die Stadt frisst, ohne dass diese weniger wird. Du sitzt darin und siehst Leute ein- und aussteigen. Du bist nicht darunter.
Viertel heißt das hier. Viertel. Nicht Kiez. Manchmal auch Siedlung. Notfalls auch Quartier, aber eher nicht. Vor allem nicht Kiez. Hier ist nicht Berlin.
Laterne, Laterne
Schalke, Mond und Sterne
Die Leute sprechen von der roten Laterne. Ihre Stadt bildet das Rücklicht eines Autos namens BRD, vielleicht. Wieso kommst du an den Arsch des Rankings, ausgerechnet, fragen sie. Ich wusste nichts vom Ranking, sagst du, wusste nichts vom letzten Platz. Ich musste nachschauen, auf der Karte.
Du steigst aus. Du gehst links. Gehst nochmals links. Geradeaus.
Der weiße Container ist ein Kokon, in den sich eine Idee eingesponnen hat. Bald verlässt sie ihn als Schmetterling namens Kunst.
Der weiße Container ist ein Sarg, eckig und zuverlässig. Er trennt innen und außen. (Wo beginnt das Außen?)
Der weiße Container ist ein Spülmaschinen-Tab, das man hier abgelegt hat. Bald wird es sich aufgelöst haben. Oder?
Ich fahre nach Schalke, sagtest du deinen Freunden, die ebenfalls noch nie etwas vom Ranking gehört haben. Deine Freunde sagten: nicht nach Schalke, sondern auf Schalke. Wie im Fernsehen, im Radio, im Internet. Du gabst an mit Wissen, das du selbst gerade erst gelernt hast: Nach Schalke, in Schalke, nicht auf. Dir geht es nicht um Fußball.
Schalen aufgebrochener Sonnenblumenkerne an der Straßenbahnhaltestelle.
Auf dem Grilloplatz tollen Kinder durch die Wassersäulen des Brunnens, die Kleidung klebt an ihren Körpern. Ein Auto hält und hupt, saugt die Kinder samt Mutter ein. Auf einmal werden die Wassersäulen kleiner, als wüssten sie, dass sie nicht mehr gebraucht werden. (Ist das ein smarter Brunnen für die Stadt der Zukunft?)
Der weiße Container hat große spiegelnde Fenster: lädt zum Hineinschauen und verweigert sich doch.
Du setzt dich auf eine Bank am Brunnen.
Die Hinterlassenschaften früherer Besucher: medizinische Maske, Kronkorken, Zigarettenstummel, weitere Sonnenblumenkernschalen, die Verpackung eines Strohhalms, ein Kirschkern, ein Fetzen aus dem Werbeprospekt eines Supermarkts. Irgendetwas, vielleicht ein Mehrfachpack von Joghurt mit Knusperflakes, kostet 2,49 statt 2,99.
Schalke blüht auf, steht auf einem Blumenkasten aus Holz, gesponsert von einem Blumenladen. Mindestens für die ein oder zwei Quadratmeter im Kasten trifft das zu.
Kinder, andere Kinder als eben, fahren mit Tretroller und Mini-Segway Kreise auf dem Platz. Sie schreien – nicht Wörter, sondern Töne. Das scheint die einzige Kommunikationsform zu sein, die ihnen zur Verfügung steht.
An der Ampel hält ein Auto mit heruntergelassenen Fenstern, ein Lied schallt heraus. Jemand im Auto singt laut und falsch mit.
Der Grilloplatz mit Brunnen. Im Hintergrund die Kirche St. Joseph. Foto: Carola Gruber
Du überquerst die Kreuzung nach Norden. Gehst links an der Brücke vorbei.
Wind, eigentlich angenehm.
Eine Kneipe bietet sich als zertifizierte Impfstelle zum Zeckenschutz an. Eine Frau und ein Mann sitzen davor bei einem Bier. Sie sehen dich schräg an – oder du sie? Genügt es, im Zweifelsfall zu schwören, dass dich Fußball nicht interessiert? Oder ist das schlimmer, als für die falsche Mannschaft zu sein?
Ein paar Häuser weiter nutzt jemand die drei Fenster einer Erdgeschosswohnung für eine Ausstellung mit Dekofiguren. Es sieht aus wie drei Varianten des Paradieses. Erstens. Zwei Strandhütten, auf einer steht Tropical Paradise, dazu zwei Flamingos und eine große Ananas. Zweitens. Nordseeidylle mit Leuchtturm und Schifffahrtskapitän. Drittens. Gartenzwerge in Schalke-04-Fan-Montur, auf der Brust Schlägel und Eisen sowie der Schriftzug Glückauf.
Die Brücke ist eine Schildkröte, mit gewölbtem Rücken.
Die Brücke beugt sich über etwas, das sie verbergen will.
Die Brücke brütet etwas aus, unter ihren Fittichen.
Der Platz darunter wie die Donnersbergerbrücke in München: ein Verkehrsknotenpunkt, bei dem vergessen wurde, dass Leute manchmal auch zu Fuß unterwegs sind.
Ein Ort zum Abstellen, zum Abgestelltwerden.
Ein Ort, der sagt: hier nicht.
Keine Wendemöglichkeit für LKW
Privatparkplatz!
Der Gehweg, falls das einer sein soll, ist nur einen halben Meter breit.
Auf dem Privatparkplatz eine Familie, spielende Kinder – ein Picknick? Wieso hier?
An einem Brückenpfeiler steht einer, mustert dich. Sein Blick sagt: Was willst du hier? (Und er, was will er hier? Wartet er auf jemanden? Mit wem verabredet man sich an diesem Ort?)
Über euch die rollenden Reifen der Autos und eine Schwelle, über die sie fahren: das Geräusch von zwei kurz nacheinander auf dem Boden aufkommenden Hufpaaren, Ta-Dam.
Hier zu warten, bedeutet, ständig dieses Ta-Dam zu hören.
Dazu die Lüftung der E-Tankstation. Strom vom Band. Die volle Ladung aus Gelsenkirchen.
Die Sonne geht bald unter, hinter dem Fabrikgebäude links. Ein hoher Horizont.
Der Platz unter der Brücke ist eine überdachte Kuhle, schlechte Sicht zur Seite und keine nach oben.
Du machst Kehrt, hältst dich links, gehst unter der Brücke hindurch zu einer Treppe.
Weitere Hinterlassenschaften: eine Jack-Daniels-Flasche, eine Eistee- und eine Durstlöscher-Packung, eine Energy-Drink-Dose, eine Bananenkiste, ein Einkaufswagen, auf der Seite liegend, Kippen, Kronkorken, Hundekot, ein wild entsorgter Kühlschrank, das Gemüsefach liegt oben auf, ein Ayran-Becher. Alles leer, verbraucht.
Du gehst die Treppe hoch, weiter nach Norden, die Sonne, die hier oben noch lange nicht untergeht, zur Linken.
Neben dir fährt eine Straßenbahn, unter ihrem Gewicht senkt sich die Brücke, um gleich darauf zurück nach oben zu schwingen.
Die Asphaltdecke auf dem Gehweg hier oben ist eine nervöse Teenagerhaut, unterschwellig brodelnd, gereizt von der Sonne, dunkle, gewölbte Stellen, bereit aufzuplatzen (oder sich davon erholend).
Du bleibst stehen, schaust von der Brücke herunter.
Ein Fabrikgelände, leere Rollen, nebeneinander stehend, gestapelt. Ein Schild. Drahtentladestelle.
Zwei, drei Männer überholen dich, zwei kommen dir entgegen. Auf der anderen Seite der Fahrbahn gehen drei Jugendliche, darunter die erste Frau, die du auf der Brücke siehst.
Die Wände unbewohnter Orte und alter Fabrikhallen ziehen Graffiti an, ein Naturgesetz, das auch hier gilt. Was es zu sagen gab, aus Sicht der Sprühenden: Das dumpfe Herz schafft das stumpfe Hirn ... trotz Ausgangssperre. Und: ACAB Antifa. Und: Always Love Yourself! Und: Ultras GE.
Blick von der Berliner Brücke auf ein Fabrikgebäude. Foto: Carola Gruber
Du gehst weiter, in Richtung einer kreuzenden Stromleitung.
In einer Verkehrspause sind plötzlich zu hören: das Rauschen von Blättern im Wind, Vogelgezwitscher und, herübergeweht, Kirchenglocken.
Dann wieder das Rauschen rollender Reifen, Ta-Dam.
Ein Ort, der selbst bei Sonnenuntergang ungemütlich ist.
Du gehst weiter, blickst von der Brücke herunter.
Der Hof eines Firmengeländes, eine grün überwucherte Fahrbahn. Drei Gestalten, eine davon winkt.
Hinter der Brücke hältst du dich rechts.
Die nächste Fabrikhalle, diese hier mit zerbrochenen Fenstern. Das Gefühl, zu klein zu sein, zu kurz geraten für diesen Ort, ihn mit deinem Körper nicht hinreichend füllen zu können, Tor und Zaun höher als du, die Fahrbahn so breit, dass du dich darauf fast verlierst.
Rechts die ehemalige Pförtnerloge, links eine Briefkastenwand.
Du hältst dich rechts, hin zur Stelle, von der dir gerade gewunken wurde.
Fast geschafft.
Gelsenkirchen, im Juli 2021
Blick von der Berliner Brücke auf die Gleise am Schalker Bahnhof. Im Hintergrund der Nordsternturm mit der Skulptur „Herkules von Gelsenkirchen“ von Markus Lüpertz. Foto: Carola Gruber