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Kultur trotz Corona: „Dagegen die Elefanten!“ (2). Von Dagmar Leupold

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Schubertiade, Ölgemälde von Julius Schmid, 1897

Dagmar Leupold (*1955 in Niederlahnstein) studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie in Marburg, Tübingen und New York und lebt als freie Autorin in München. Für ihr schriftstellerisches Werk hat sie etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Ihr Roman Die Witwen war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr letzter Roman Lavinia erschien im August 2019. Ihr aktuell erscheinender Roman Dagegen die Elefanten! (2022) handelt von einem Mann in der Garderobe, einem Helden des Alltags, dem niemand dankt.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Romanauszug, den wir in zwei Teilen publizieren, beteiligt sich Dagmar Leupold an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Dagegen die Elefanten! (Auszug)

Im März

 

Es beginnt kalt. Wenn Herr Harald sich die Knospen der Magnolien anschaut, hat er den Eindruck, sie wollten sich wieder zurückziehen in ihre pelzige Schote. Verständlicherweise. Er hat Gänsehaut, als er im Schönsten Theater der Stadt eintrifft. Gänsehaut sieht man nur dann, wenn die Gans bereits gerupft ist. Das gibt zu denken.

Er besucht einen Liederabend, es ist sein freier Tag, ein außen wie innen frostiger Tag, denn eine Abendgestaltung ohne den Umhang einer – noch so entfernten – Musik setzt ihn aller Unbill aus. Es hagelt und stürmt, die Haut ist ungezogen, der Kopf saust, das Herz hinkt. Die Musik ist sein schützendes Federkleid. Und schon wieder ist er beim Gerupftsein. Herr Harald nimmt Platz.

Zu dritt treten sie ein, Sänger vorweg, ein berühmter Mann, dann sein Begleiter auf dem Klavier und schließlich, drei Schritte hinter diesem, eine mitteljunge Frau im schwarzen Kleid, das Haar offen, so geschnitten, dass es bei gebeugtem Kopf das Profil verbirgt. Frauen mit Dutt ängstigen Herrn Harald, wenn sie ihm einfallen, wendet er den Gedanken sofort ab. So wie man seinen Blick von etwas Unerfreulichem abwendet. Diese hier dagegen darf er anschauen, diese hier betrifft ihn. Mit den ersten Klängen beginnt seine Erholung, das Jucken lässt nach.

Die Umblätterin sitzt links vom Pianisten, einen halben Meter nach hinten versetzt, kippelt beinah auf der Stuhlkante, den rechten Fuß leicht vorgeschoben. Um schneller aufspringen zu können, Herr Harald nickt einverstanden, so muss es sein. Nervös ist er dennoch, er kennt die Pannen: zwei Seiten auf einmal umschlagen, da Capo-Anweisungen übersehen, zu spät oder zu früh umblättern. Seine Sitznachbarin dagegen ist gelassen, das Programmheft im Schoß, die Beine übergeschlagen, möglicherweise bereits eingenickt. Er will sie keinesfalls mit seiner Unruhe anstecken, gar wecken, und klemmt seine Hände zur Bezwingung zwischen die Knie. Ganz schmal ist die Umblätterin, ihr Gesicht liegt im Schatten, der Scheinwerfer ist auf die Noten und auf den Sänger gerichtet. Er macht sich zur Aufgabe, es zu erraten: feine Augenbrauen, gerade verlaufend über grauen Augen, deren unterer Lidrand leicht gereizt wirkt, vom Wind, von der Heizungsluft, vom Ausbleiben eines Blicks. Feinporige Haut, eher trocken und daher zu Falten neigend, feine Falten, plissiert an den Schläfen. Die Lippen sind im Zarten und Zurückgenommenen, geradezu Unfertigen des Gesichts das Üppigste: fest aufeinander gepresst vor Konzentration und doch voll, schimmernd und klar konturiert. Kein Lippenstift in alarmierendem Rot, höchstens rosa. Winterliches Ausfransen vorbei oder nie aufgetreten. Er lässt das Raten sein und traut einen kurzen Moment lang seinen Augen. Der Scheitel ist silbrig, also wurde bei dem kräftigen Fohlenbraun der glatten Haare nachgeholfen. Das macht seine Kollegin in der Oper auch. Zu Hause, nicht beim Friseur. Er sieht die Umblätterin vor dem beschlagenen Badezimmerspiegel stehen, in dem ihr Gesicht zerrinnt wie aus Wasserfarben, die Tönung tropft schlammig auf das verschlissene Handtuch, das ihr Unterkleid schützen soll. Das Handtuch stammt aus den Familienbeständen und war einmal ein witziges Geschenk der Großeltern an das Kind: ein 500-DM-Schein mit dem gemalten Porträt eines bartlosen Mannes, ausgeleierte Frotteemaschen hängen wie festgenähte Tränen auf dessen Wangen. Die Umblätterin föhnt ihr Haar, das im warmen Wind urlaubt. Herr Haralds Blick kehrt zur Bühne zurück, er ist sicher, dass im Schulterbereich des schönen schwarzen Kleids ein paar glänzende Haare hängengeblieben sind, sich schlängeln auf rauem Stoff, bei Reibung und trockener Luft unvermeidlich. Auch in den Krägen der von ihm verwahrten Mäntel findet er oft anhängliche Haare – und entfernt sie, als Zuständiger, in einem kleinen Abfalleimer. Diese Haare jedoch, die bestimmt nach Aprikosenshampoo duftenden zwei, drei Ausreißer, die im Nackenbereich und den Schultern der Umblätterin festhängen, die würde er mit sachten Fingerspitzen entfernen, ebenso sacht und zielstrebig wie sie die Noten umwendet. Daumen und Zeigefinger bilden dabei ein entschlossenes O, mit sanfter Gewalt zuschnappende Handschellen. Ein Zugriff, der das Entwischen der Seite verhindert, die behutsam, nach knappster Verwahrung, aus der Gefangenschaft nach links entlassen wird. Die Umblätterin setzt sich wieder, den Blick fest auf die Partitur gerichtet. Da stützt sich der Sänger mit einer Hand am Flügel ab, hebt das Kinn und schmettert: Auf jeden weißen Zettel möcht ich's schreiben, dein ist mein Herz. Dabei wölbt sich seine Brust mächtig, entlässt Zweifel und Verzweiflung. So ansteckend ist die Zuversicht, dass Herr Harald vom eigenen tiefen Ausatmen überrascht wird. Er lenkt seinen Blick zurück zu der Gestalt im Schatten, im Achtern des Geschehens, und denkt oval, als er das Gesicht der Umblätterin für sich zusammenfasst. Oval, wie die schönen Rahmen alter Fotografien von Menschen, die jemandes Ahnen sind.

Im Schönsten Theater der Stadt bricht die Pause an. Die Künstler bekommen geizig abgemessenen Applaus, die Beifallverausgabung hebt man sich für das Ende des Konzerts auf, wenn es um Zugaben geht. Ja, ja, so ist das immer, Herr Harald nickt kein bisschen verwundert und klatscht ausführlich. Beim ersten Abgang eilen der Sänger und der Pianist hurtigen Schritts Richtung Bühnenausgang, die Umblätterin setzt unsicher Fuß vor Fuß, eher zögerlich, und folgt in großem Abstand. Im Gehen klaubt sie ein Haar von der Schulter – das Haar, das er schon längst entfernt hatte. Sänger und Begleiter erscheinen zwei weitere Male, obwohl kaum jemand mehr klatscht, sie ist nicht dabei. Herr Harald schließt sich dem Strom der zum Buffet Drängelnden an, mit dem Abstand zum Vordermann, den auch sie zu Sänger und Begleiter eingehalten hat. Das ist eine Verbindung.

Er liebt das Schönste Theater der Stadt, auch weil die Garderoben hier keine Rangfolge kennen: teures Parkett, billige Galerie. Hier gibt es lediglich von links nach rechts aufsteigende Nummern. Jeder Besucher entscheidet selbst, wem er sein Eigentum in Verwahrung gibt, ganz gleich, wo er sitzt. Seine Kollegen in der Oper, die in den Rängen und in der Galerie arbeiten, verstünden, was er meint. Sie bewachen oft leeres Gestänge, denn die Stehplatzinhaber geben, obwohl es nichts kostet, selten etwas zur Behütung ab, sondern winden sich die Ärmel der Jacke um die Taille oder polstern damit die Brüstung, gegen die sie lehnen. Sie müssen sich in keine Schlange einreihen und sind dennoch die Letzten, die das Theater verlassen, weil sie unermüdlich applaudieren. Und übrigens auch zu taktvoll sind, um den Sängern, gar Sängerinnen, mit Feldstechern in den Rachen zu starren, aus dem geheimnisvoll die Töne entweichen. Töne, die den im Dämmer zu einem Körper verschmelzenden Zuhörern zur Atemluft werden. Außer bei denen, die ihre Poren verschließen, aber um die geht es jetzt nicht. Ja, der Musik wird gelauscht, aber eigentlich – Herr Harald geht bis zum Gartenausgang des Schönsten Theaters der Stadt, bevor er weiterdenkt –, eigentlich wird Musik eingeatmet. Durch die Haut.

Er steht auf dem Treppenabsatz, eine Hand auf dem Geländer, vor ihm erstreckt sich der Theatergarten, Kieswege, Rasen, ein Brunnen. Die Bäume noch unbelaubt, einzig ein paar mutige trauen sich und zeigen Hellgrün. Die Kastanienknospen, prall, sabbern Sirup. Herr Harald ist ein wenig im Weg, denen zum Beispiel, die zwei Gläser Schaumwein und ein Tellerchen mit Lachsschnittchen balancieren. Die Lachsfarbe gehört neben Lila zu Herrn Haralds verhasstesten. Sie prahlt, und man weiß nicht recht, womit und warum. Da war der Lachsersatz seiner Kindheit ehrlicher, er offenbarte seine knallige Künstlichkeit ohne Wenn und Aber, salziger als Blut. Er kauft sich nichts, stellt sich aber ein Getränk vor: Brause, Waldmeistergeschmack, ein ganzer junger Wald darin, sprudelnd vor Frühling. Schauer im Gaumen. Brausegaumenschauer. Wohlriechendes Labkraut. Weiße Sternblüten. Sehr still steht er, die Augen offen, aber blind, weil er gerade verkostet und mit Entkommen beschäftigt ist. Das ist, auch wenn es anders klingt, eine schöne Beschäftigung, eine, die die gesamte Vorstellungskraft fordert und jetzt dem Kissen aus blühendem Waldmeister ein Moosbett beschert, als Zugabe. Dort, wo der Schiefer wächst, gibt es zwar keine Wälder, aber es gibt sie dort, wohin Kinder mit rachitischer Veranlagung in Gesundungsferien verschickt wurden. Wegen der Trichterbrust. Ein Wort, das ein Loch bohrt bis ins Zentrum. Die Sonne, die sich so rar machte, wurde dagegen nicht wegen Vernachlässigung oder Unterlassung belangt. Die Sonne ist im Italienischen ein Mann, also gewissermaßen sein Stiefvater. Von Stiefvätern muss man sich nichts Gutes erwarten. Aber zurück zum Wald: Falls das Bett aus Moos für ein Liebespaar bereitet wäre, würde der Mann, falls wiederum ein schwarzes Kleid ausgezogen werden würde, dieses sorgfältig zusammenfalten und auf trockenes Laub legen, damit es unbeschadet bliebe. Und die Schuhe mit den Spitzen nach Norden ausrichten, wie einen Kompass. Verlaufen würde so nicht drohen. Und die sparsame Sonne wäre unerheblich, denn der Mann des Liebespaares hätte vorgesorgt: mit einem warmen Mantel, der beide bedeckte. Allein die schmalen Fesseln der Frau, ihre auch im Liegen wachsamen Sprunggelenke blieben unbedeckt. Nicht, um rasch aufspringen zu können, sondern aus Liebe zum Moos. In der Brusttasche spürt Herr Harald die beruhigende Festigkeit des Notizbuchs. Als der erste Gong ertönt, zückt er es rasch und notiert das Wort des Monats März: Moostrost.

Gewappnet und gekräftigt erreicht er seinen Platz, einige wenige müssen sich seinetwegen erheben, er dankt mit einem Neigen des Kopfes. Als er sich setzt, tut er das mit großer Umsicht, Klappstühle sind tückisch. Erstens. Und zweitens möchte er verhindern, dass ein zu energisches Hinsetzen seinen Geruch verbreitet, den er als klamm empfindet.

Die Tür des seitlichen Bühneneingangs öffnet sich, Applaus rauscht auf. Wieder geht der Pianist voran, das kinnlange Haar nach hinten frisiert, der Sänger folgt, die weiße Hemdbrust wie frisch gestärkt, als letzte die Umblätterin, gesenkten Kopfs. Ihre Wege trennen sich vor dem Flügel, die Herren umgehen ihn von vorn, sie von hinten. Sie nimmt Platz im lichtarmen Schwarz. Die Pause hat den Liederzyklus zerrissen, Herr Harald bedauert das und weiß, die Gastronomie ist schuld.

Sie sprach: Es kommt ein Regen, ade, ich geh nach Haus. Jetzt horcht Herr Harald auf: Ist es Einbildung oder hat sie ihn, als der Sänger diese Zeile anschlug und ausklingen ließ, nicht angeschaut? Mit einem Blick, der ausdrückt, dass sie Regen und Verregnetes kennt. Und gleich wieder zurück zur Partitur. Herr Harald entlässt ein lautloses Ja. Dann eine Schrecksekunde, sie steht wieder bereit, leicht nach rechts geneigt, der Pianist hat ihr mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken bedeutet, dass es der richtige Moment sei umzublättern. Ihre Hand schwebt über den Noten, greift und greift daneben, fliegt zurück, erwischt den Zipfel und wendet, mit einem Anflug von Ärger, die Seite zu rasch, die wölbt sich auf und droht in die alte Position zurück zu rutschen. Der Pianist versetzt ihr einen Schlag, sie flacht ab. Da wird er zornig, haut in die Tasten: Ach, Tränen machen nicht maiengrün, / machen tote Liebe nicht wieder blühen. Herr Harald entschuldigt sich leise, er wird sie nicht wieder ablenken. Schiebt die Hände unter die Oberschenkel, unterbindet damit das unruhige Kneten und Kratzen. Wenn du, denkt er und sucht dabei nicht den Blick der Umblätterin, wenn du deinen Mantel einmal beim Balkon links abgeben würdest, ich nähte ihm Flügel an.

Herr Harald schmerzen die Hände vom Applaus. Bei den Zugaben fehlt die Umblätterin, in der kleinen Kammer schlüpft sie in Jeans und Pullover, die paar grünlich-pulvrigen Laubschuppen vom Moosbett an ihrem Kleid bleiben unbemerkt? Ob sie Marie heißt? Ob sie Fahrrad fährt? Ob es in ihr nachsingt? Ob sie einen alten Vater pflegt? Einen jungen Mann liebt? Wo verwelken die Blumensträuße, die von den Künstlern routiniert mit Wangenküsschen in Empfang genommen werden? Warum legt sie niemand ihr in den Fahrradkorb?

Die Nacht wartet mit eisigem Wind auf, fies aus Nordost, der noch junge März gibt sich geschlagen. Und der Himmel da oben, wie ist er so weit. Herr Harald stellt den Kragen auf, streift die Handschuhe über. Warm füllt die Musikmahlzeit den Leib. Aber der Kragen kratzt, die Haut am Hals ist wund und schuppig. Und doch, wer ihn sähe, würde tatsächlich meinen, er denke an ein gutes Essen, so zufrieden ist sein Gesichtsausdruck. Er ist es, weil er es geschafft hat, die Erinnerung an das morgendliche Halswaschen des Harald-Kindes zu entwaffnen. Das ist eine Taktik, die in den Nachrichten als Deeskalation gelobt wird. So geht sie, die Deeskalation, am Beispiel Halswaschen vorgeführt: Zunächst genaues Aufrufen der Situation: Ein grober Erzieherzeigefinger rubbelt so lange rund um Nacken und unterhalb des Kinns, bis sich kleine Schmutzkügelchen rollend daran festsetzen, die dann dem Kind anklagend vor die Nase gehalten werden, zusammen mit einem tropfnassen, seifigen Waschlappen. Dreckspatz. Und die Entwaffnung geht so: Nichts wäre ich lieber als ein Vogel, gern ein Spatz, aber von mir aus auch ein Buchfink. Oder eine Bachstelze. Bachstelze. Ausnahmsweise ein zweites Wort des Monats.

In der U-Bahn Pulks von Konzertbesuchern. Wie Lehrer halten sie eine Notenkonferenz ab, Sänger und Klavierbegleiter werden in die nächste Klassenstufe versetzt, die Umblätterin kommt nicht vor. An deren linker Wade hat Herr Harald übrigens beim Abgang noch eine Laufmasche ausgemacht, trotz aller Vorsicht im Himmelreich des wohlriechenden Labkrauts. Marie könnte sein. Aber auch Johanna.

Er erreicht sein Wohnviertel, robuste Hausquader, jetzt freundlicher wegen der erleuchteten Fenster. Kaum Grünes. Er nennt es Steinzeit. Um bei der Heimkehr Grund zu Vorfreude zu haben, hat er Pudding vom Vorabend aufgehoben, den wird er als Nachspeise zu sich nehmen. Nein – schnabulieren. Im Wortesortiment gehört zu Süßem, zum Naschen, das Wort „schnabulieren“, zum Fleisch das Wort „verzehren“, zu Nudeln „verschlingen“, zu Suppe „schlürfen“. „Zu sich nehmen“ ist Verwaltungssprache, und die pflegt er nicht.

Er gibt, bereits ausgestreckt im Bett, eine Traumbestellung auf, Adressat unbekannt. Es wird nicht klappen, aber das bedeutet dann womöglich, dass er es nicht träumen muss, sondern erleben darf. Beim Frühstück, nach traumloser Nacht, erinnert er sich an den Ausspruch seiner Opernkollegin, der Türschließerin links, dass es Leben mit Walzer gibt und Leben ohne Walzer. An diesem Morgen versteht er es. Ohne Walzer: Der Tagesplan sieht einen Einkauf vor, ein Telefonat und Aufbruch zur Arbeit am späten Nachmittag. Durch das Küchenfenster dringt schlechtgelauntes Licht, das bereits anderswo im Einsatz war und nur noch spärlich auftritt. Herr Harald spült ab. Die Haut geht heute. Sie ist noch musikbeatmet. Marie oder Johanna, denkt er, ich komme dahinter.

Das Radio verkündet die Nachrichten. Er hört aufmerksam zu, die Bombenangriffe, die Schiffe, die Toten, die Börsen, das Öl, der Euro und das Klima. Alles hängt zusammen. Er hört es wie unter einem Vergrößerungsglas und in Zeitlupe. In der Verlangsamung und in der Nahaufnahme verfilzt alles zu krausem Geschwür, es wuchert, ein Gewirr grässlich verschlungener Leiber. Wenn ein Chirurg anfinge zu schneiden! Verblutete die Welt. Wachstum ist aus Wachs, alles schmilzt, glüht, zerfließt. Halt! ruft sich Herr Harald selbst zu. Beziehungsweise ruft er es Tibor zu, seinem Ansprechpartner. Tibor hat er gefunden, als er einmal, im August und aller Pflichten ledig, am Ufer des kalten reißenden Flusses, der die Stadt teilt, saß und an nichts dachte. Vor sich hin sann, als wäre die Welt aus Luft und Treibholz geschnitzt. Da stellte sich Tibor ein. Und höflich, den Kopf neigend, vor: Tibor, in anderer Buchstabenfolge auch Orbit. Ich stehe in Notfällen zur Verfügung. Das Wort „Ansprechpartner“ hat Herr Harald von der Telefongesellschaft entliehen und von den Hotlines, die sich rund um die Welt schlingen wie Breiten- und Längengrade. Seit jenem Augusttag trifft er sich gelegentlich mit Tibor, immer dann, wenn es eng wird um die Brust, also selten, man geht ja auch nicht mit jedem Schnupfen zum Lungenfachmann. Die Beratschlagung mit Tibor erfolgt nicht in Worten und Anweisungen, sondern besteht allein aus Umgebung und Erfassung. Orbit trifft zu, denn er, Herr Harald, ist der Zentralkörper, Tibor die Kreisbahn darum.

Der Abwasch ist erledigt, das Küchentuch nass vom Abtrocknen. Der Vorhang, der am Vorratsschrank die Tür ersetzt, einst leuchtend gelb, ist ausgebleicht, dabei trifft ihn nie ein Sonnenstrahl. Er verbirgt auf Regalen gestapelte Konserven und vor Jahren Eingemachtes: grüne Brechbohnen, „grün“ steht auf dem Etikett, aber die Bohnen haben im Verließ alle Farbe eingebüßt und sehen aus wie blasse Sprossen; außerdem Senfgurken, Ravioli in Tomatensoße und Tuttifrutti-Obstsalat. Und Ananasringe. Einmal hat das Harald-Kind an der Mittagstafel versucht, sich einen solchen Ring um den Finger zu wickeln wie einen Hula-Hoop-Reifen, der Finger wurde bestraft. Herr Harald denkt an die Konserven und luftversiegelten Obst-Häftlinge wie an Mitbewohner. Vor dem kleinlichen Fenster zum Hof, in dem blaue, braune und grüne Tonnen mit gerade geleerten Bäuchen herumstehen wie von Gott gewürfelt, zetert eine Krähe.