Kultur trotz Corona: „Die Kühlhäuser“. Von Kerstin Specht
Kerstin Specht (* 1956 in Kronach) studierte Germanistik, Philosophie und evangelische Theologie sowie an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. 1988 begann sie für das Theater zu schreiben. Schon mit der Veröffentlichung ihrer ersten Stücke („oberfränkische Trilogie“) machte sie sich als Vertreterin des kritischen Volksstücks in der Tradition von Horváth, Fleißer, Fassbinder, Kroetz und Sperr in der Theaterwelt einen Namen. 2013 wurde Spechts Odysseus! (zus. mit Manolis Manussakis) am Staatstheater Nürnberg uraufgeführt. Für ihr dramatisches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis (1990), dem Friedrich-Baur-Preis, dem Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis (1993), dem Kulturpreis der oberfränkischen Wirtschaft (1996), dem Marieluise-Fleißer-Preis (2005) sowie dem Ernst-Hoferichter-Preis (2011). 2002 erfolgte ihre Aufnahme in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2013 erhielt sie die Auszeichnung Pro Meritis scientiae et litterarum, 2014 ein Stipendium der Villa Concordia.
Mit dem folgenden unveröffentlichten Auszug aus ihrem aktuell entstehenden Roman Die Kühlhäuser beteiligt sich Kerstin Specht an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Die Kühlhäuser (Auszug)
Tale
Sahara-Sommer.
Wüstensand wird über die Alpen geblasen.
Sie hat das Herz eines Boxers gefunden.
Auf dem Bahnsteig. Der Zug nach Mannheim hat Verspätung.
Ach Mannheim. Sie würde gern einen Mann mit nach Hause nehmen.
Schon ist er da.
‚Du hast Augen wie Olympiaschwimmbecken in Mexiko, so blau.‘
Sie ist verwirrt, was hat sie mit Olympia zu tun? Und sie muss erstmal wegfahren.
Aber dann hat sie ihn zwei Tage später vor dem Kaufhof wiedergetroffen.
Ein Kreuz, breit wie ein Schrank, wie ein Boxer halt, eine schmale Taille, eine wunderbar eingedrückte Nase.
Sie sagt, ‚du siehst aus wie Belmondo.‘
Er sagt, ‚und du siehst aus wie Liza Minelli‘.
Das ist für sie kein Kompliment.
Er war schon lange nicht mehr im Kino.
Er ist ein Kosovo-Albaner.
Das Ende des Krieges ist für ihn ein Albtraum.
Er ist nur noch geduldet.
Er sagt, ‚herzlich willkommen in meiner Brust‘.
Heißere Kehllaute.
Sie besuchen seinen Onkel. Er ist schon zwanzig Jahre in Deutschland, er hat sich auf dem Bau die Knochen kaputt gemacht. Er hinkt leicht. Er lebt mit zwei anderen in einem einzigen Zimmer. An jeder Wand steht ein altes Sofa, drei rückenunfreundliche, durchgelegene, muffige Sofas. Die Luft ist grau vom Zigarettenqualm, eine Räucherkammer. Der Onkel ist Moslem, er raucht nicht. Er hustet die ganze Zeit, aber die anderen Beiden nehmen keine Rücksicht.
Der Onkel sagt, T. solle auf dem Bau arbeiten.
T. sagt, er könne nicht. Er sei krank, sein Rücken.
Der Onkel legt beide Handgelenke überkreuz.
Beim nächsten Mal lädt sie den Onkel zu einem Essen ein. Sie holt ihn ab. Er hat diesen fremden Rauch um sich, wie einen grauen Mantel. Im Bus zum Kapuzinerplatz küssen sich zwei Männer. Der Onkel schreit. Wenn er eine Pistole hätte, würde er schießen.
Sie sagt, ‚hier dürfen sich zwei Männer lieben, sie haben das Recht dazu‘.
‚Gott gibt kein Recht‘, sagt er. ‚Gott wird sie töten‘.
T. versucht eine Arbeit zu finden. Drei Tage schuftet er bei einem rumänischen Subunternehmer einer Reinigungsfirma, drei Tage putzen bei BMW. Am Ende sagt man ihm, er war nicht gut genug, nicht schnell genug, es war nur Probezeit, keine Bezahlung. Man holt sich schon die Nächsten, die bereitstehen für kostenloses Arbeiten.
T. fürchtet die Abschiebung. Sie gibt ihm Geld für den Rechtsanwalt, später für das Krankenhaus. Eine ziemliche Summe.
‚Ich dir nicht vergessen, bis ich gehen in Zukunft.
Bis ich schließen die Augen für immer.
Mein Herz fliegen jetzt.
Zukunft ist Friedhof.‘
‚Ach‘.
‚Du bist Legende für mich.
Weißt du was ist Legende.
Beckenbauer ist Legende.
Bleiben wir zusammen?‘
‚Nein‘.
‚Männer sind für dich wie Wasser unter der Brücke‘.
In seinem Zimmer im Asylantenwohnheim gleich hinter dem Bayerischen Rundfunk kann sie sich kaum mit ausgestreckten Armen im Kreis drehen, ohne anzuecken. Immerhin hat er einen Fernseher, da läuft eine stummgeschaltete Gerichtssendung. Auf den grünen Linoleumfluren kleine Mädchen, ohne Spielsachen, ohne Sprache, mit nichts als ihrem Körper. Der wird ihr Einsatz sein, ihr einzig möglicher. Wer immer sagt, diese Stadt sei eine reiche Stadt, der sollte ein paar Schritte zur Seite gehen. Weg von den Theaterstraßen, den großen Hotels. Gleich nebenan sind die Häuser voll. Voll von Kummer.
Wenn T. zu ihr nach Hause kommt und unten an den Schwarzafrikanern vorbei muss, die mit blonden Frauen vor dem Handyladen stehen, schluckt er vor Empörung.
‚Die nehmen uns unsere Frauen weg‘.
‚Was heißt unsere?‘
‚Ich bin Europäer.
Bleiben wir zusammen?‘
‚Vielleicht‘.
‚Machst mir Papiere?‘
Das ist sein Hochzeitsantrag.
‚Nein‘.
Sie wollte nie die symbiotische Verfettung eines Ehepaares erleben. Aber sie wollte auch nicht die Seeleneinsamkeitsabmagerung. Mit T. ist es irgendwas dazwischen. Es ist ihr recht.
Aber plötzlich ist er einfach weg. Spurlos. Sie weint vier Wochen lang. Sein Handy ist tot. Sie fürchtet, dass er es auch sei. Dann die Erlösung. Ein Freund von ihm kommt vorbei, erzählt erst mal von sich und dass er einen guten Job als Krankenpfleger hätte, eine feste Perspektive. Und dann erzählt er noch, dass es T. gut gehe, er sei in den Kosovo abgeschoben worden. Seine Frau hätte schon auf ihn gewartet.
‚Aber er ist doch geschieden!‘
‚Nein‘.
Kann das sein, dass T. sie so belogen hat?
‚Ich bin auch Albaner. Albaner sind so‘.
Der Typ rollt sich über sie und will sie allen Ernstes küssen.
Hält er sie für eine Ziege, die man weitergibt?
Sie schreit ihm das ins Ohr.
Er müsste jetzt taub sein.
Ein Anruf: T. ist an der ungarischen Grenze, versucht nach Österreich zu kommen.
Die Anspannung löst sich. Er lebt. Er ist nah.
Sie wünschte, Wände und Türen und Grenzen öffneten sich bereitwillig wie seine Männerarme. Sie ist bereit für ein Wunder. Sie sieht ihn wieder.
Wien Westbahnhof.
Er hatte es illegal bis Sopron geschafft, eine Horrorfahrt in einem verschlossenen Lieferwagen. Durch die kaputte Gummidichtung strömt ein wenig Luft. Das Glück der kaputten Dinge.
In Sopron hatten die Schlepper ihn ausgesetzt. Weiter kam nur, wer ein Taxi nach Wien bezahlen konnte. Die Iraner, die mit ihm an einem Tisch aßen, konnten losfahren.
T. musste drei Wochen auf ihr Geld warten, um weiter zu kommen. Über Umwege, über die Vermittlung des Onkels, erreichte es ihn.
‚Schreib darüber‘, sagt sie ihm. ‚Über die Schlepperwelt, über die Migranten, über deine Alpträume. Dein Rücken ist kaputt, aber deine Augen sind okay. Schreib auf, was du gesehen hast‘.
Er will es nicht.
‚Ich spreche nur Straßensprache.‘
‚Dann schreib in deiner Sprache.‘
Sie hätte es tun können, ihn befragen, mehr als sie es tat. Aber sie wollte die kostbare Zeit nicht dafür hergeben.
Sie gehen in Cafés, Beisel, Geschäfte. T. ist wie ein Kind im Süßwarenladen.
Sie probieren die dreißig Arten einen Kaffee zu bereiten: Mit Schlag, ohne Schlag ...
Abends ins Burgtheater, Glaube, Liebe, Hoffnung, sie sitzt vorne knapp hinter den Behindertenreihen, sie sieht ja schlecht. T. schaut vom Olymp herunter. Da hat er den vollen Blick auf die nackte Schauspielerin, die in einem Wassergraben treibt, auf die schöne Leich.
Am anderen Tag in der Albertina. Klimt und Schiele: die Brüste, die gespreizten Beine, vor allem die Sachen von Schiele, die so sind, dass sie nicht auf Teetassen gedruckt werden, betören ihn. Im Museumsquartier: eine nackte Frau schreitet durch den Raum, hochschwanger, ihre fast platzende Kugel, ihre Scham, den Blicken ausgesetzt.
T. ist Moslem, er sagt, er muss rausgehen.
Das ist eine Performance, sagt sie.
Nach einer Weile beruhigt er sich.
‚Können wir wieder rein?‘
Hotel am Graben. Vier Stunden das Bett nicht verlassen. Das hat er später immer wieder gesagt, wund, beide. Danach sind sie sternförmig auf der Steppdecke ausgebreitet, zwischen sich den gerade gekauften Katalog.
Betrachten die Schielefrauen. Adele, Wally, Gerti. Die masturbieren, zeigen ihre grünen Strümpfe, ihre Geschlechtsteile, sind schön. Die Körper haben ihr eigenes Licht.
Sie freut sich, ihm alles zu zeigen.
‚Das nennt man Kultur?‘
‚Das ist Kunst. Wenn Leute dabei stehen und sie betrachten, das ist Kultur.
Und die das organisieren und das bewerten, die sind der Betrieb.‘
T. war noch nie im Theater, noch nie im Museum.
Er ist begeistert.
Kunst ist für T. ab jetzt das erotische, öffentlich zugängliche Paradies.
Träume von Totalkunst und Totalliebe.
Und dann wieder eintauchen in die Hölle, im nächsten Moment.
Sie steigen in ein blaues Taxi ein, und er erkennt an dem Namen auf dem Armaturenbrett, dass der Fahrer aus dem Kosovo stammt.
Und er fragt, ‚wieviel hast du?‘
‚Sechzehn‘.
‚Und du?‘
‚Zwanzig‘.
Nur das.
T. weint.
Die Zahlen bedeuten: das sind die Toten in der Familie.
Diesen Augenblick wird sie nie vergessen. Der Fahrer, ein studierter Chemiker, ist lieber Taxifahrer in Wien, als im Kosovo am Ort des Grauens zu leben.
T. schluchzt. Er kann es nicht mehr kontrollieren. Erzählt von seiner Mutter, die keine Medikamente hat. Von seiner Angst, sie nicht mehr wiederzusehen.
‚Dann geh doch zurück. Kümmere dich‘.
‚Ich lieben dir, bis ich gehen in Zukunft, und Zukunft ist das Grab.‘
Und Vergangenheit ist auch das Grab.
Und dazwischen Versuche, ein Stück schönes Leben zu leben.
Sie ist allein, sie will diesen Belmondo wiedersehen.
Sie sehen sich auch wieder in Salzburg, in Linz, in St. Pölten.
Er lebt bei Albanern, wechselt oft die Schlafstellen, in St. Pölten haust er mit einem Kollegen auf einer halbfertigen Baustelle, er ist ungepflegt. Früher trug er strahlend weiße Hemden, jetzt sind sie grau. Er riecht nach dem Diesel, mit dem dort geheizt wird, aber es ist wie bei einem Kathodenstrahl im Vakuum, er elektrisiert sie jedesmal. Immer noch. Vielleicht nur, weil es so schwierig ist. Vielleicht hätte sie sich sonst längst getrennt.
Sie treffen sich einen Sommer lang, einen Herbst.
Die Bäume werfen die Blätter ab, sie fühlt sich ungeschützt, sie fühlt sich von Blicken verfolgt.
Sie sagt, ‚du musst wieder zurück, du hast keine Perspektive‘.
‚Nimm mich mit nach Deutschland, ich fahre mit dir über die Grenze. Mit dir, keiner wird mich kontrollieren. Du heilige Frau‘.
Sie ist nicht heilig, sie ist nur blass, sie ist nur nicht dunkelhäutig. Sie wird keiner kontrollieren. Ihn schon.
Ihn würden sie erkennen. Selbst wenn sie ihn rasierte und seine Haare blond färbte.
Unheiliger Abschied, Tränen, erstickende Küsse.
Sie kann es nicht.
Auf dem Bahnhof in St. Pölten steigt sie allein in den Zug. Er steht ganz verloren, er schwankt, sein Winken wird immer kleiner.
Sie fühlt sich wie eine Verräterin
seine Verräterin
aber er fällt nicht um
er stirbt nicht
er steht da
schiebt den Hut ins Genick
er sagt (vielleicht)
du bist zum Kotzen
oder sagt er
wie in der Originalfassung
c'est dégueulasse
- es ist zum Kotzen
Postskriptum:
Das Kosovo hat eine europäische Perspektive, sagt Wikipedia, das heißt die Aussicht, eines Tages der Europäischen Union beizutreten. Kosovo ist potentieller Beitrittskandidat und der einzige Balkanstaat, der noch keinen EU-Beitrittsantrag gestellt hat.
Kosovaren benötigen, im Gegensatz zu allen anderen Westbalkan-Staaten ein Visum, wenn sie in den Schengen-Raum einreisen wollen.
Die EU-Perspektive wurde auf dem Sofia-Gipfel 2018 und auf dem Zagreb-Gipfel 2020 bekräftigt.
Ach T.
die Perspektiven
Kultur trotz Corona: „Die Kühlhäuser“. Von Kerstin Specht>
Kerstin Specht (* 1956 in Kronach) studierte Germanistik, Philosophie und evangelische Theologie sowie an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. 1988 begann sie für das Theater zu schreiben. Schon mit der Veröffentlichung ihrer ersten Stücke („oberfränkische Trilogie“) machte sie sich als Vertreterin des kritischen Volksstücks in der Tradition von Horváth, Fleißer, Fassbinder, Kroetz und Sperr in der Theaterwelt einen Namen. 2013 wurde Spechts Odysseus! (zus. mit Manolis Manussakis) am Staatstheater Nürnberg uraufgeführt. Für ihr dramatisches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis (1990), dem Friedrich-Baur-Preis, dem Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis (1993), dem Kulturpreis der oberfränkischen Wirtschaft (1996), dem Marieluise-Fleißer-Preis (2005) sowie dem Ernst-Hoferichter-Preis (2011). 2002 erfolgte ihre Aufnahme in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2013 erhielt sie die Auszeichnung Pro Meritis scientiae et litterarum, 2014 ein Stipendium der Villa Concordia.
Mit dem folgenden unveröffentlichten Auszug aus ihrem aktuell entstehenden Roman Die Kühlhäuser beteiligt sich Kerstin Specht an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Die Kühlhäuser (Auszug)
Tale
Sahara-Sommer.
Wüstensand wird über die Alpen geblasen.
Sie hat das Herz eines Boxers gefunden.
Auf dem Bahnsteig. Der Zug nach Mannheim hat Verspätung.
Ach Mannheim. Sie würde gern einen Mann mit nach Hause nehmen.
Schon ist er da.
‚Du hast Augen wie Olympiaschwimmbecken in Mexiko, so blau.‘
Sie ist verwirrt, was hat sie mit Olympia zu tun? Und sie muss erstmal wegfahren.
Aber dann hat sie ihn zwei Tage später vor dem Kaufhof wiedergetroffen.
Ein Kreuz, breit wie ein Schrank, wie ein Boxer halt, eine schmale Taille, eine wunderbar eingedrückte Nase.
Sie sagt, ‚du siehst aus wie Belmondo.‘
Er sagt, ‚und du siehst aus wie Liza Minelli‘.
Das ist für sie kein Kompliment.
Er war schon lange nicht mehr im Kino.
Er ist ein Kosovo-Albaner.
Das Ende des Krieges ist für ihn ein Albtraum.
Er ist nur noch geduldet.
Er sagt, ‚herzlich willkommen in meiner Brust‘.
Heißere Kehllaute.
Sie besuchen seinen Onkel. Er ist schon zwanzig Jahre in Deutschland, er hat sich auf dem Bau die Knochen kaputt gemacht. Er hinkt leicht. Er lebt mit zwei anderen in einem einzigen Zimmer. An jeder Wand steht ein altes Sofa, drei rückenunfreundliche, durchgelegene, muffige Sofas. Die Luft ist grau vom Zigarettenqualm, eine Räucherkammer. Der Onkel ist Moslem, er raucht nicht. Er hustet die ganze Zeit, aber die anderen Beiden nehmen keine Rücksicht.
Der Onkel sagt, T. solle auf dem Bau arbeiten.
T. sagt, er könne nicht. Er sei krank, sein Rücken.
Der Onkel legt beide Handgelenke überkreuz.
Beim nächsten Mal lädt sie den Onkel zu einem Essen ein. Sie holt ihn ab. Er hat diesen fremden Rauch um sich, wie einen grauen Mantel. Im Bus zum Kapuzinerplatz küssen sich zwei Männer. Der Onkel schreit. Wenn er eine Pistole hätte, würde er schießen.
Sie sagt, ‚hier dürfen sich zwei Männer lieben, sie haben das Recht dazu‘.
‚Gott gibt kein Recht‘, sagt er. ‚Gott wird sie töten‘.
T. versucht eine Arbeit zu finden. Drei Tage schuftet er bei einem rumänischen Subunternehmer einer Reinigungsfirma, drei Tage putzen bei BMW. Am Ende sagt man ihm, er war nicht gut genug, nicht schnell genug, es war nur Probezeit, keine Bezahlung. Man holt sich schon die Nächsten, die bereitstehen für kostenloses Arbeiten.
T. fürchtet die Abschiebung. Sie gibt ihm Geld für den Rechtsanwalt, später für das Krankenhaus. Eine ziemliche Summe.
‚Ich dir nicht vergessen, bis ich gehen in Zukunft.
Bis ich schließen die Augen für immer.
Mein Herz fliegen jetzt.
Zukunft ist Friedhof.‘
‚Ach‘.
‚Du bist Legende für mich.
Weißt du was ist Legende.
Beckenbauer ist Legende.
Bleiben wir zusammen?‘
‚Nein‘.
‚Männer sind für dich wie Wasser unter der Brücke‘.
In seinem Zimmer im Asylantenwohnheim gleich hinter dem Bayerischen Rundfunk kann sie sich kaum mit ausgestreckten Armen im Kreis drehen, ohne anzuecken. Immerhin hat er einen Fernseher, da läuft eine stummgeschaltete Gerichtssendung. Auf den grünen Linoleumfluren kleine Mädchen, ohne Spielsachen, ohne Sprache, mit nichts als ihrem Körper. Der wird ihr Einsatz sein, ihr einzig möglicher. Wer immer sagt, diese Stadt sei eine reiche Stadt, der sollte ein paar Schritte zur Seite gehen. Weg von den Theaterstraßen, den großen Hotels. Gleich nebenan sind die Häuser voll. Voll von Kummer.
Wenn T. zu ihr nach Hause kommt und unten an den Schwarzafrikanern vorbei muss, die mit blonden Frauen vor dem Handyladen stehen, schluckt er vor Empörung.
‚Die nehmen uns unsere Frauen weg‘.
‚Was heißt unsere?‘
‚Ich bin Europäer.
Bleiben wir zusammen?‘
‚Vielleicht‘.
‚Machst mir Papiere?‘
Das ist sein Hochzeitsantrag.
‚Nein‘.
Sie wollte nie die symbiotische Verfettung eines Ehepaares erleben. Aber sie wollte auch nicht die Seeleneinsamkeitsabmagerung. Mit T. ist es irgendwas dazwischen. Es ist ihr recht.
Aber plötzlich ist er einfach weg. Spurlos. Sie weint vier Wochen lang. Sein Handy ist tot. Sie fürchtet, dass er es auch sei. Dann die Erlösung. Ein Freund von ihm kommt vorbei, erzählt erst mal von sich und dass er einen guten Job als Krankenpfleger hätte, eine feste Perspektive. Und dann erzählt er noch, dass es T. gut gehe, er sei in den Kosovo abgeschoben worden. Seine Frau hätte schon auf ihn gewartet.
‚Aber er ist doch geschieden!‘
‚Nein‘.
Kann das sein, dass T. sie so belogen hat?
‚Ich bin auch Albaner. Albaner sind so‘.
Der Typ rollt sich über sie und will sie allen Ernstes küssen.
Hält er sie für eine Ziege, die man weitergibt?
Sie schreit ihm das ins Ohr.
Er müsste jetzt taub sein.
Ein Anruf: T. ist an der ungarischen Grenze, versucht nach Österreich zu kommen.
Die Anspannung löst sich. Er lebt. Er ist nah.
Sie wünschte, Wände und Türen und Grenzen öffneten sich bereitwillig wie seine Männerarme. Sie ist bereit für ein Wunder. Sie sieht ihn wieder.
Wien Westbahnhof.
Er hatte es illegal bis Sopron geschafft, eine Horrorfahrt in einem verschlossenen Lieferwagen. Durch die kaputte Gummidichtung strömt ein wenig Luft. Das Glück der kaputten Dinge.
In Sopron hatten die Schlepper ihn ausgesetzt. Weiter kam nur, wer ein Taxi nach Wien bezahlen konnte. Die Iraner, die mit ihm an einem Tisch aßen, konnten losfahren.
T. musste drei Wochen auf ihr Geld warten, um weiter zu kommen. Über Umwege, über die Vermittlung des Onkels, erreichte es ihn.
‚Schreib darüber‘, sagt sie ihm. ‚Über die Schlepperwelt, über die Migranten, über deine Alpträume. Dein Rücken ist kaputt, aber deine Augen sind okay. Schreib auf, was du gesehen hast‘.
Er will es nicht.
‚Ich spreche nur Straßensprache.‘
‚Dann schreib in deiner Sprache.‘
Sie hätte es tun können, ihn befragen, mehr als sie es tat. Aber sie wollte die kostbare Zeit nicht dafür hergeben.
Sie gehen in Cafés, Beisel, Geschäfte. T. ist wie ein Kind im Süßwarenladen.
Sie probieren die dreißig Arten einen Kaffee zu bereiten: Mit Schlag, ohne Schlag ...
Abends ins Burgtheater, Glaube, Liebe, Hoffnung, sie sitzt vorne knapp hinter den Behindertenreihen, sie sieht ja schlecht. T. schaut vom Olymp herunter. Da hat er den vollen Blick auf die nackte Schauspielerin, die in einem Wassergraben treibt, auf die schöne Leich.
Am anderen Tag in der Albertina. Klimt und Schiele: die Brüste, die gespreizten Beine, vor allem die Sachen von Schiele, die so sind, dass sie nicht auf Teetassen gedruckt werden, betören ihn. Im Museumsquartier: eine nackte Frau schreitet durch den Raum, hochschwanger, ihre fast platzende Kugel, ihre Scham, den Blicken ausgesetzt.
T. ist Moslem, er sagt, er muss rausgehen.
Das ist eine Performance, sagt sie.
Nach einer Weile beruhigt er sich.
‚Können wir wieder rein?‘
Hotel am Graben. Vier Stunden das Bett nicht verlassen. Das hat er später immer wieder gesagt, wund, beide. Danach sind sie sternförmig auf der Steppdecke ausgebreitet, zwischen sich den gerade gekauften Katalog.
Betrachten die Schielefrauen. Adele, Wally, Gerti. Die masturbieren, zeigen ihre grünen Strümpfe, ihre Geschlechtsteile, sind schön. Die Körper haben ihr eigenes Licht.
Sie freut sich, ihm alles zu zeigen.
‚Das nennt man Kultur?‘
‚Das ist Kunst. Wenn Leute dabei stehen und sie betrachten, das ist Kultur.
Und die das organisieren und das bewerten, die sind der Betrieb.‘
T. war noch nie im Theater, noch nie im Museum.
Er ist begeistert.
Kunst ist für T. ab jetzt das erotische, öffentlich zugängliche Paradies.
Träume von Totalkunst und Totalliebe.
Und dann wieder eintauchen in die Hölle, im nächsten Moment.
Sie steigen in ein blaues Taxi ein, und er erkennt an dem Namen auf dem Armaturenbrett, dass der Fahrer aus dem Kosovo stammt.
Und er fragt, ‚wieviel hast du?‘
‚Sechzehn‘.
‚Und du?‘
‚Zwanzig‘.
Nur das.
T. weint.
Die Zahlen bedeuten: das sind die Toten in der Familie.
Diesen Augenblick wird sie nie vergessen. Der Fahrer, ein studierter Chemiker, ist lieber Taxifahrer in Wien, als im Kosovo am Ort des Grauens zu leben.
T. schluchzt. Er kann es nicht mehr kontrollieren. Erzählt von seiner Mutter, die keine Medikamente hat. Von seiner Angst, sie nicht mehr wiederzusehen.
‚Dann geh doch zurück. Kümmere dich‘.
‚Ich lieben dir, bis ich gehen in Zukunft, und Zukunft ist das Grab.‘
Und Vergangenheit ist auch das Grab.
Und dazwischen Versuche, ein Stück schönes Leben zu leben.
Sie ist allein, sie will diesen Belmondo wiedersehen.
Sie sehen sich auch wieder in Salzburg, in Linz, in St. Pölten.
Er lebt bei Albanern, wechselt oft die Schlafstellen, in St. Pölten haust er mit einem Kollegen auf einer halbfertigen Baustelle, er ist ungepflegt. Früher trug er strahlend weiße Hemden, jetzt sind sie grau. Er riecht nach dem Diesel, mit dem dort geheizt wird, aber es ist wie bei einem Kathodenstrahl im Vakuum, er elektrisiert sie jedesmal. Immer noch. Vielleicht nur, weil es so schwierig ist. Vielleicht hätte sie sich sonst längst getrennt.
Sie treffen sich einen Sommer lang, einen Herbst.
Die Bäume werfen die Blätter ab, sie fühlt sich ungeschützt, sie fühlt sich von Blicken verfolgt.
Sie sagt, ‚du musst wieder zurück, du hast keine Perspektive‘.
‚Nimm mich mit nach Deutschland, ich fahre mit dir über die Grenze. Mit dir, keiner wird mich kontrollieren. Du heilige Frau‘.
Sie ist nicht heilig, sie ist nur blass, sie ist nur nicht dunkelhäutig. Sie wird keiner kontrollieren. Ihn schon.
Ihn würden sie erkennen. Selbst wenn sie ihn rasierte und seine Haare blond färbte.
Unheiliger Abschied, Tränen, erstickende Küsse.
Sie kann es nicht.
Auf dem Bahnhof in St. Pölten steigt sie allein in den Zug. Er steht ganz verloren, er schwankt, sein Winken wird immer kleiner.
Sie fühlt sich wie eine Verräterin
seine Verräterin
aber er fällt nicht um
er stirbt nicht
er steht da
schiebt den Hut ins Genick
er sagt (vielleicht)
du bist zum Kotzen
oder sagt er
wie in der Originalfassung
c'est dégueulasse
- es ist zum Kotzen
Postskriptum:
Das Kosovo hat eine europäische Perspektive, sagt Wikipedia, das heißt die Aussicht, eines Tages der Europäischen Union beizutreten. Kosovo ist potentieller Beitrittskandidat und der einzige Balkanstaat, der noch keinen EU-Beitrittsantrag gestellt hat.
Kosovaren benötigen, im Gegensatz zu allen anderen Westbalkan-Staaten ein Visum, wenn sie in den Schengen-Raum einreisen wollen.
Die EU-Perspektive wurde auf dem Sofia-Gipfel 2018 und auf dem Zagreb-Gipfel 2020 bekräftigt.
Ach T.
die Perspektiven