Kultur trotz Corona: Eine Prosaminiatur von Slata Roschal
Slata Roschal (*1992 in St. Petersburg) ist Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin und lebt in München. Auf Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften wurde sie 2018 mit dem Jury- sowie dem Publikumspreis beim Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern ausgezeichnet. 2021 veröffentlichte Slata Roschal ihren zweiten Gedichtband Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere aus bei hochroth München. Der Band war einer von 10 Titeln von Bayerns besten Independent Büchern 2021. Im Herbst desselben Jahres bekam Roschal das Aufenthaltsstipendium des Adalbert-Stifter-Vereins in Oberplan/Horní Planá sowie das Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern „Junge Kunst und neue Wege“ für ein Romanprojekt. 2022 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin.
Mit der folgenden unveröffentlichten Prosaminiatur beteiligt sich Slata Roschal an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Es hilft sich vorzustellen, als wäre man ein anderer, ein offensichtlich in seinen Möglichkeiten eingeschränkter, hilfloser, mitleidserregender Mensch mit besonderen Ansprüchen und verminderter Leistungsfähigkeit, an die normalen Erwartungen, sagen wir mal, nicht angepasster Leistungsfähigkeit, sagen wir, ein spezieller und nicht wirklich nutzbringender, ein am besten zu ersetzender, aber doch irgendwie, auf seine Weise, liebenswürdiger Mensch, und vom sozialen Standpunkt aus gesehen muss ja nicht jeder alle Erwartungen erfüllen, und solche Leute, solche kreischenden Subjekte, braucht es auch irgendwo, zur Abwechslung, und außerdem kann ich mich nicht austauschen und nicht einen anderen, flotten, guten, anstelle meiner Selbst nehmen. Also akzeptiere ich den, der ich bin, ich brauche fünf Stunden für eine Seite Text, und dann nicht mal einen wirklich guten, nicht mal einen herausragenden, ich seufze und beiße die Zähne zusammen und lächle mich selbst schief an, wie ein geschulter Sozialarbeiter, super machst du das, eine ganze Seite hast du da geschafft, ich vergleiche dich mit keinem zu deinem Nachteil, du bist gut wie du bist, ich akzeptiere dich so, wie du bist, eingeschränkt, faul und unfähig zur Leistung.
Eine große, fleischige, ungemein lästige Fliege, vielleicht flog sie während der letzten warmen Tage in die Wohnung, als Fenster und Türen offenstanden, fand faulende Kirschen und Melonenschalen unter dem Waschbecken, gewöhnte sich an uns, unsere trägen Bewegungen, und dann, als der Regen kam und sie die Fenster geschlossen vorfand, hatte sie keinen Grund mehr, sich nach draußen zu bemühen. Sie wurde angelockt von der Wärme unserer Körper, vielleicht lebte sie früher in einem Stall, auf den Rücken von Kühen, Schafen und Ziegen, kitzelte sie in den Nasenhöhlen, klebte an ihren Augen, und jetzt ist sie bei uns, setzt sich auf unsere Hände, auf entblößte Beine, findet eine kleine Wunde am Knie, landet, wartet, reibt sich die Ärmchen, und versucht, an dem Blut zu saugen.
Vielleicht wird das Leben so vergehen, aufgebraucht für die Redaktion fremder Artikel, langweiliger Essays, für endlose Emails von morgens bis abends, was bin ich eigentlich wert und warum traue ich mich nicht, das zu machen, was ich will, ich weiß nicht mal, was ich will, ich will alles auf einmal, eine gute Stelle pro forma mit genug Geld, und dann endloses Schreiben, an meinen eigenen, endlosen Sätzen. Der Psychoanalytiker neulich meinte, das gehöre eben zum Leben dazu, das Unsichersein und das Traurigsein, und ich meinte, dass es ein ziemlich bescheuerter Satz sei, dieses Dazugehören, als ob nicht alles in der Welt irgendwie dazugehöre, und er meinte, nein, es gebe Dinge, die gehörten nicht dazu, welche, wollte ich wissen, Einhörner, sagte er plötzlich, oder Meerjungfrauen, vielleicht war es ihm selber peinlich, wir schwiegen, und ich meinte dann, nein, Meerjungfrauen können genauso Teil des realen Lebens sein, warum sollten sie es nicht sein, wenn Sie meinen, dass jede depressive Gehirnregung gar, jede Phantasie dazugehöre ̶
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Slata Roschal (*1992 in St. Petersburg) ist Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin und lebt in München. Auf Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften wurde sie 2018 mit dem Jury- sowie dem Publikumspreis beim Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern ausgezeichnet. 2021 veröffentlichte Slata Roschal ihren zweiten Gedichtband Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere aus bei hochroth München. Der Band war einer von 10 Titeln von Bayerns besten Independent Büchern 2021. Im Herbst desselben Jahres bekam Roschal das Aufenthaltsstipendium des Adalbert-Stifter-Vereins in Oberplan/Horní Planá sowie das Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern „Junge Kunst und neue Wege“ für ein Romanprojekt. 2022 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin.
Mit der folgenden unveröffentlichten Prosaminiatur beteiligt sich Slata Roschal an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Es hilft sich vorzustellen, als wäre man ein anderer, ein offensichtlich in seinen Möglichkeiten eingeschränkter, hilfloser, mitleidserregender Mensch mit besonderen Ansprüchen und verminderter Leistungsfähigkeit, an die normalen Erwartungen, sagen wir mal, nicht angepasster Leistungsfähigkeit, sagen wir, ein spezieller und nicht wirklich nutzbringender, ein am besten zu ersetzender, aber doch irgendwie, auf seine Weise, liebenswürdiger Mensch, und vom sozialen Standpunkt aus gesehen muss ja nicht jeder alle Erwartungen erfüllen, und solche Leute, solche kreischenden Subjekte, braucht es auch irgendwo, zur Abwechslung, und außerdem kann ich mich nicht austauschen und nicht einen anderen, flotten, guten, anstelle meiner Selbst nehmen. Also akzeptiere ich den, der ich bin, ich brauche fünf Stunden für eine Seite Text, und dann nicht mal einen wirklich guten, nicht mal einen herausragenden, ich seufze und beiße die Zähne zusammen und lächle mich selbst schief an, wie ein geschulter Sozialarbeiter, super machst du das, eine ganze Seite hast du da geschafft, ich vergleiche dich mit keinem zu deinem Nachteil, du bist gut wie du bist, ich akzeptiere dich so, wie du bist, eingeschränkt, faul und unfähig zur Leistung.
Eine große, fleischige, ungemein lästige Fliege, vielleicht flog sie während der letzten warmen Tage in die Wohnung, als Fenster und Türen offenstanden, fand faulende Kirschen und Melonenschalen unter dem Waschbecken, gewöhnte sich an uns, unsere trägen Bewegungen, und dann, als der Regen kam und sie die Fenster geschlossen vorfand, hatte sie keinen Grund mehr, sich nach draußen zu bemühen. Sie wurde angelockt von der Wärme unserer Körper, vielleicht lebte sie früher in einem Stall, auf den Rücken von Kühen, Schafen und Ziegen, kitzelte sie in den Nasenhöhlen, klebte an ihren Augen, und jetzt ist sie bei uns, setzt sich auf unsere Hände, auf entblößte Beine, findet eine kleine Wunde am Knie, landet, wartet, reibt sich die Ärmchen, und versucht, an dem Blut zu saugen.
Vielleicht wird das Leben so vergehen, aufgebraucht für die Redaktion fremder Artikel, langweiliger Essays, für endlose Emails von morgens bis abends, was bin ich eigentlich wert und warum traue ich mich nicht, das zu machen, was ich will, ich weiß nicht mal, was ich will, ich will alles auf einmal, eine gute Stelle pro forma mit genug Geld, und dann endloses Schreiben, an meinen eigenen, endlosen Sätzen. Der Psychoanalytiker neulich meinte, das gehöre eben zum Leben dazu, das Unsichersein und das Traurigsein, und ich meinte, dass es ein ziemlich bescheuerter Satz sei, dieses Dazugehören, als ob nicht alles in der Welt irgendwie dazugehöre, und er meinte, nein, es gebe Dinge, die gehörten nicht dazu, welche, wollte ich wissen, Einhörner, sagte er plötzlich, oder Meerjungfrauen, vielleicht war es ihm selber peinlich, wir schwiegen, und ich meinte dann, nein, Meerjungfrauen können genauso Teil des realen Lebens sein, warum sollten sie es nicht sein, wenn Sie meinen, dass jede depressive Gehirnregung gar, jede Phantasie dazugehöre ̶