Kultur trotz Corona: „Meine Haushalde“. Von Carola Gruber
Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020).
Mit dem folgenden literarischen Rückblick auf ihre Zeit als writer-in-residence in Gelsenkirchen, Sommer 2021, beteiligt sich Carola Gruber an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Meine Haushalde
Halb sechs Uhr morgens. Ich kann nicht schlafen, bereits seit ein paar Stunden, knipse das Licht an, setze mich auf, nehme den Laptop auf den Schoß und tippe ein paar Wörter für den Text, an dem ich gerade arbeite.
In wenigen Tagen ist meine Abschlusslesung als writer in residence in Gelsenkirchen, der Gedanke treibt mich um. Ich kann es nicht glauben, dass bereits die Zeit für den Abschied gekommen ist.
05:41 Uhr. In einer Stunde geht die Sonne auf. Eigentlich verbringe ich die ersten Stunden des Tages gern am Schreibtisch mit meinen Texten, bevor ich mich auf das einlasse, was ich großspurig „die Welt“ nenne.
Doch heute möchte ich etwas anders machen als sonst. Den Sonnenaufgang draußen sehen. Von der Wohnung ist es etwa eine halbe Stunde zu meiner Haushalde, der Halde Rheinelbe. Ich packe meine Sachen und ziehe los.
Nebel über dem Wissenschaftspark. Der Mond ist eine helle Sichel am dunklen Himmel, die Wege im Park noch nicht klar umrissen.
An der Leithestraße bleibe ich auf einer Verkehrsinsel stehen, um einen Lieferwagen vorbeizulassen. Der Wagen bleibt ebenfalls stehen, der Fahrer winkt mir, ich solle gehen, ich winke ihm, er solle fahren, wir wiederholen das Spiel noch zweimal auf der ansonsten leeren Straße, bis ich aufgebe und die Fahrbahn überquere.
Im Rheinelbe-Park stehen Vögel auf dem Weg. Sie scheinen vergessen zu haben, dass sie Flugtiere sind, laufen, hüpfen, sobald ich mich nähere. Dann erinnern sie sich plötzlich und flattern auf. Ein Spatz, eine Amsel.
Am Halfsmannsweg biege ich links ab, rechts geht es zum Halfmannshof.
Morgenstimmung auf dem Halfmannsweg in Gelsenkirchen. Foto: Carola Gruber
Mein erster Besuch auf dem Halfmannshof. Ich war erst wenige Tage in Gelsenkirchen und ging zu einer Ausstellungseröffnung, der ersten Kulturveranstaltung seit Langem, bei der ich mit Leuten ins Gespräch kam. Ich war unsicher, ob ich die Maske auch im Freien tragen sollte, behielt sie erst auf, setzte sie später ab, wie die anderen um mich herum.
An dem Tag hatte ich Heimweh, fühlte mich durch einen Kommentar auf meinem Blog unter Druck, Dinge schön und beachtlich zu finden – was mich erst recht blockierte. Zur Veranstaltung hatte ich mich nur widerwillig aufgerafft, mir vorgenommen, nach einer halben Stunde zu gehen, oder wann auch immer es nicht mehr unhöflich wäre.
Tatsächlich blieb ich bis Mitternacht. Es tat gut, Kunst wieder vor Ort zu erleben. Und mit Leuten ins Gespräch zu kommen, unter anderem mit einem überzeugten Gelsenkirchener, der mir von der Gegend vorschwärmte und prophezeite, ich werde mich ins Ruhrgebiet verlieben. „Wenn Du wieder nach München zurückgehst“, begann er einen Satz und korrigierte sich sofort: „Falls Du wieder nach München zurückgehst“. Falls. Er sagte es in einem Tonfall, der eigentlich meinte: Das wird nicht passieren.
Er erzählte mir von den schlechten und den guten Seiten des Ruhrgebiets. Dem ÖPNV, der Autofixiertheit, der Tatsache, dass Radfahren hier was für Lebensmüde sei, der ewigen Bergbauromantik. Das einzig Positive, das mir später einfiel, waren die Halden. Wahrscheinlich erwähnte er noch andere Dinge, etwa die Leute – er empfahl mir, mit möglichst vielen zu sprechen. Doch das, woran ich mich erinnerte, war, wie verzückt er von den Halden gesprochen hatte, diesen Hügeln aus aufgeschüttetem Abraum des Bergbaus, mit Kunstwerken auf den Spitzen und einem guten Ausblick auf die Umgebung. Eine dringende Empfehlung.
Bergbauromantik im Flöz Dickebank im Stadtteil Ückendorf. Foto: Carola Gruber
Laub raschelt unter meinen Füßen auf meinem Weg zum Sonnenaufgang. Kurz überlege ich, ob es Herbstlaub von letztem Jahr sein kann, aber nein, dafür raschelt es viel zu eilfertig und frisch unter meinen Schuhsohlen. Wann ist der Herbst gekommen, wie konnte mir das entgehen?
Ein Typ mit Hund sieht mich von der anderen Straßenseite her an, als sei ich gar nicht befugt, mich hier um die Uhrzeit aufzuhalten – ohne Hund, ohne äußeren Grund.
Ich gehe schnell, will den Sonnenaufgang nicht verpassen. Mir wird warm, und ich ziehe meinen Anorak aus.
Ein Kaninchen hoppelt von rechts nach links über den ansteigenden Weg. Und ich frage mich, ob es im Aberglauben auch eine Deutung für querende Kaninchen gibt.
Zwei Wochen nach meinem Besuch auf dem Halfmannshof stieg ich zum ersten Mal auf eine Halde: die Halde Rheinelbe, kurz vor Sonnenuntergang. An den Tagen zuvor hatte ich wie im Rausch einen Text für ein Kunstprojekt in Schalke geschrieben.
Diesen Text hatte ich soeben meinem Erstleser geschickt, war gespannt auf seine Reaktion. Um mich abzulenken und mich vom langen Sitzen zu erholen, brach ich zu einem Spaziergang auf. Kam endlich der Empfehlung nach.
Auf dem Weg hinauf gingen vor und hinter mir junge Leute. Ich wusste nicht, was mich erwartete, vielleicht ein Party-Hotspot (in München hätte ein solcher Ort das Zeug dazu). Doch dass überhaupt Leute unterwegs waren, beruhigte mich.
Oben fiel die Anspannung der letzten Tage, in denen ich intensiv an dem Text gearbeitet hatte, von mir ab. Der Mond spiegelte sich im Teich, eine zartrosa Schicht lag über dem Horizont. Ein klarer Abend, gute Fernsicht, einzelne Gebäude im urbanen Panorama noch zu erkennen, Lichter.
Mehr noch als die Aussicht gefiel mir die Atmosphäre dort oben, eine besondere Ruhe schien von dem Ort auszugehen. Gern wäre ich länger geblieben, trat jedoch schon bald den Rückweg in der aufziehenden Dunkelheit an.
Zurück in der Wohnung erwartete mich die Rückmeldung meines Erstlesers – der Text gefiel ihm, und ich nahm mir vor, auf die Halde zurückkehren.
Genau um 06:41 Uhr bin ich oben auf der Halde Rheinelbe. Doch das erhoffte Sonnenaufgangs-Spektakel bleibt aus. Nebel und tiefhängende Wolken. Am Himmel ein Fleck, etwas heller als das Weißgrau drumherum. Ich setze mich an den Fuß der Skulptur, der Himmelstreppe, so hin, dass ich den hellen Fleck sehe.
Die Landschaft ist wie in mehrere Lagen Pauspapier gepackt, Schicht um Schicht verdichtet bis zum Horizont.
Neben mir eine zerrissene McDonald’s-Tüte, der Inhalt quillt heraus, eckige Verpackungen aus Pappe, die mal Burger und Nuggets enthielten. Eine Serviette wiegt sich im Wind wie eine Alge in der Strömung am Meeresboden.
Ein Schwarm Vögel zieht vorbei, von rechts nach links (in die gleiche Richtung wie das Kaninchen eben), quert einmal mein Sichtfeld, als wolle er sichergehen, dass ich ihn wirklich bemerke.
Die Skulptur Tiger and Turtle von Heike Mutter und Ulrich Genth auf der Heinrich-Hildebrand-Höhe in Duisburg. Foto: Carola Gruber
Seit meinem ersten Ausflug vor mehr als anderthalb Monaten war ich einige Male hier. Auch auf anderen Halden war ich, Hoheward, Tetraeder, Tiger and Turtle, Pluto, doch nur auf dieser hier mehrmals, meiner Haushalde.
Erst am Vorabend war ich hier, telefonierte und besprach die Planung für die Abschlusslesung: Wie viele Leute passten gemäß aktueller Verordnungen in den Raum, wie mussten die Stühle angeordnet werden und so weiter.
Die Sonne stand groß und pink über dem Horizont, fast tropisch. Dabei war mir kalt. Ich trug meinen Anorak und hatte das sichere Gefühl, dass der Sommer vorbei ist.
Nach dem Auflegen sah ich mich um. Die Zeche Zollverein in Essen, der Tetraeder in Bottrop, der Herkules auf dem Nordsternturm, das Kraftwerk in Scholven, die Halde Rungenberg, die Arena. Dinge hatten – anders als noch vor anderthalb Monaten – einen Namen. Einige von ihnen habe ich in den letzten Wochen besucht. Andere würde ich noch gern sehen, vielleicht bei einem späteren Besuch einmal, sage ich mir.
Die Wolken zogen in unterschiedlicher Geschwindigkeit vorbei, die vorderen schneller und dunkler als die dahinter. Ich schrieb ein paar Eindrücke in mein Notizbuch, Fetzen, im Vertrauen darauf, dass sie sich, wie schon oft, zu einem Text fügen würden.
Grillen zirpten. Offenbar hatte ihnen noch keiner Bescheid gesagt, dass der Sommer vorbei war.
Die Umrisse im Panorama verschmolzen nach und nach miteinander. Nur die Horizontlinie blieb übrig. Einzelne Lichter durchbrachen das Dunkel, der Förderturm der Zeche Zollverein wurde grün angestrahlt, mit roter Beleuchtung im Kontrast dazu.
Ausblick von der Halde Rheinelbe auf das Stadtgebiet Gelsenkirchen. Im Hintergrund das Kraftwerk in Scholven (links) und die Arena (rechts). Foto: Carola Gruber
Jetzt, bei meinem morgendlichen Ausflug, sind die Grillen verstummt. Stattdessen zu hören: die Rufe von Krähen, das Rauschen regelmäßigen Verkehrs, Autoreifen, die auf Schotter fahren, das Piepen eines LKWs im Rückwärtsgang.
Ein Schwarm Vögel fliegt von links nach rechts, vielleicht der gleiche, der eben in die entgegengesetzte Richtung flog. Das Hin- und Herfliegen der Vögel erinnert mich an mein Ankommen, kurzes Verweilen und baldiges Abreisen.
Der Nebel zieht zu, die Schichten Pauspapier werden dicker, selbst der Strommast am Fuß der Halde ist nicht mehr klar zu sehen, die Leitungen, die von ihm abgehen, verschwinden im Nichts.
Ich sitze auf einer Insel im Nebelmeer, der Schotter unter mir ist der Strand. Ich werde die Halden vermissen, die Ruhe und den Platz hier oben, den Abstand zu den Dingen.
Doch neben Wehmut ist da auch auch Dankbarkeit. Für die vielen Dinge, die mir in den letzten Wochen geschenkt wurden.
Ein Raum fürs Schreiben. Mehrere Heißgetränke. Auch Kaltgetränke. Essen. Autofahrten zwecks Sightseeing. Gespräche. Geschichten von früher, von jetzt. Bücher. Applaus nach einer Lesung. Tipps für Unternehmungen. Ein Atelierbesuch. Hilfe beim Tragen meiner Einkäufe vom Supermarkt bis zur Haustür. Ein Bibliotheksausweis. Tröstende Worte. Konzert, Theateraufführung, Performances, Ausstellungsbesuche. Begegnungen mit Schreibinteressierten. Beratung bezüglich eines ÖPNV-Tickets. Viele Fragen (etwa: Was brauche ich, was ist mir wichtig?). Flyer. Aufkleber. Aufmerksamkeit. ÖPNV-Ticket. Geld. Die Begeisterung für Halden. Stadt- und Parkführungen. Ausdrucke meiner Texte. Menschliche Wärme von Leuten, die mich kaum kennen. Zeit, Vertrauen und Freiheit.
Als ich aufbreche, ist die Kälte in meine Glieder gekrochen, und ich genieße es, mich wieder zu bewegen.
Inzwischen ist der Tag bereits in vollem Gange, trivial und geschäftig: Radfahrer auf der Kray-Wanner-Bahn; ein dickes Mädchen, das mich neugierig ansieht, als ich vor einer Infotafel stehe; ein Mann, der auf der Leithestraße bei seiner Mitfahrgelegenheit einsteigt; ein Altkleidercontainer, der geleert wird.
Der Zauber des frühen Morgens ist vorbei.
Kultur trotz Corona: „Meine Haushalde“. Von Carola Gruber>
Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020).
Mit dem folgenden literarischen Rückblick auf ihre Zeit als writer-in-residence in Gelsenkirchen, Sommer 2021, beteiligt sich Carola Gruber an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Meine Haushalde
Halb sechs Uhr morgens. Ich kann nicht schlafen, bereits seit ein paar Stunden, knipse das Licht an, setze mich auf, nehme den Laptop auf den Schoß und tippe ein paar Wörter für den Text, an dem ich gerade arbeite.
In wenigen Tagen ist meine Abschlusslesung als writer in residence in Gelsenkirchen, der Gedanke treibt mich um. Ich kann es nicht glauben, dass bereits die Zeit für den Abschied gekommen ist.
05:41 Uhr. In einer Stunde geht die Sonne auf. Eigentlich verbringe ich die ersten Stunden des Tages gern am Schreibtisch mit meinen Texten, bevor ich mich auf das einlasse, was ich großspurig „die Welt“ nenne.
Doch heute möchte ich etwas anders machen als sonst. Den Sonnenaufgang draußen sehen. Von der Wohnung ist es etwa eine halbe Stunde zu meiner Haushalde, der Halde Rheinelbe. Ich packe meine Sachen und ziehe los.
Nebel über dem Wissenschaftspark. Der Mond ist eine helle Sichel am dunklen Himmel, die Wege im Park noch nicht klar umrissen.
An der Leithestraße bleibe ich auf einer Verkehrsinsel stehen, um einen Lieferwagen vorbeizulassen. Der Wagen bleibt ebenfalls stehen, der Fahrer winkt mir, ich solle gehen, ich winke ihm, er solle fahren, wir wiederholen das Spiel noch zweimal auf der ansonsten leeren Straße, bis ich aufgebe und die Fahrbahn überquere.
Im Rheinelbe-Park stehen Vögel auf dem Weg. Sie scheinen vergessen zu haben, dass sie Flugtiere sind, laufen, hüpfen, sobald ich mich nähere. Dann erinnern sie sich plötzlich und flattern auf. Ein Spatz, eine Amsel.
Am Halfsmannsweg biege ich links ab, rechts geht es zum Halfmannshof.
Morgenstimmung auf dem Halfmannsweg in Gelsenkirchen. Foto: Carola Gruber
Mein erster Besuch auf dem Halfmannshof. Ich war erst wenige Tage in Gelsenkirchen und ging zu einer Ausstellungseröffnung, der ersten Kulturveranstaltung seit Langem, bei der ich mit Leuten ins Gespräch kam. Ich war unsicher, ob ich die Maske auch im Freien tragen sollte, behielt sie erst auf, setzte sie später ab, wie die anderen um mich herum.
An dem Tag hatte ich Heimweh, fühlte mich durch einen Kommentar auf meinem Blog unter Druck, Dinge schön und beachtlich zu finden – was mich erst recht blockierte. Zur Veranstaltung hatte ich mich nur widerwillig aufgerafft, mir vorgenommen, nach einer halben Stunde zu gehen, oder wann auch immer es nicht mehr unhöflich wäre.
Tatsächlich blieb ich bis Mitternacht. Es tat gut, Kunst wieder vor Ort zu erleben. Und mit Leuten ins Gespräch zu kommen, unter anderem mit einem überzeugten Gelsenkirchener, der mir von der Gegend vorschwärmte und prophezeite, ich werde mich ins Ruhrgebiet verlieben. „Wenn Du wieder nach München zurückgehst“, begann er einen Satz und korrigierte sich sofort: „Falls Du wieder nach München zurückgehst“. Falls. Er sagte es in einem Tonfall, der eigentlich meinte: Das wird nicht passieren.
Er erzählte mir von den schlechten und den guten Seiten des Ruhrgebiets. Dem ÖPNV, der Autofixiertheit, der Tatsache, dass Radfahren hier was für Lebensmüde sei, der ewigen Bergbauromantik. Das einzig Positive, das mir später einfiel, waren die Halden. Wahrscheinlich erwähnte er noch andere Dinge, etwa die Leute – er empfahl mir, mit möglichst vielen zu sprechen. Doch das, woran ich mich erinnerte, war, wie verzückt er von den Halden gesprochen hatte, diesen Hügeln aus aufgeschüttetem Abraum des Bergbaus, mit Kunstwerken auf den Spitzen und einem guten Ausblick auf die Umgebung. Eine dringende Empfehlung.
Bergbauromantik im Flöz Dickebank im Stadtteil Ückendorf. Foto: Carola Gruber
Laub raschelt unter meinen Füßen auf meinem Weg zum Sonnenaufgang. Kurz überlege ich, ob es Herbstlaub von letztem Jahr sein kann, aber nein, dafür raschelt es viel zu eilfertig und frisch unter meinen Schuhsohlen. Wann ist der Herbst gekommen, wie konnte mir das entgehen?
Ein Typ mit Hund sieht mich von der anderen Straßenseite her an, als sei ich gar nicht befugt, mich hier um die Uhrzeit aufzuhalten – ohne Hund, ohne äußeren Grund.
Ich gehe schnell, will den Sonnenaufgang nicht verpassen. Mir wird warm, und ich ziehe meinen Anorak aus.
Ein Kaninchen hoppelt von rechts nach links über den ansteigenden Weg. Und ich frage mich, ob es im Aberglauben auch eine Deutung für querende Kaninchen gibt.
Zwei Wochen nach meinem Besuch auf dem Halfmannshof stieg ich zum ersten Mal auf eine Halde: die Halde Rheinelbe, kurz vor Sonnenuntergang. An den Tagen zuvor hatte ich wie im Rausch einen Text für ein Kunstprojekt in Schalke geschrieben.
Diesen Text hatte ich soeben meinem Erstleser geschickt, war gespannt auf seine Reaktion. Um mich abzulenken und mich vom langen Sitzen zu erholen, brach ich zu einem Spaziergang auf. Kam endlich der Empfehlung nach.
Auf dem Weg hinauf gingen vor und hinter mir junge Leute. Ich wusste nicht, was mich erwartete, vielleicht ein Party-Hotspot (in München hätte ein solcher Ort das Zeug dazu). Doch dass überhaupt Leute unterwegs waren, beruhigte mich.
Oben fiel die Anspannung der letzten Tage, in denen ich intensiv an dem Text gearbeitet hatte, von mir ab. Der Mond spiegelte sich im Teich, eine zartrosa Schicht lag über dem Horizont. Ein klarer Abend, gute Fernsicht, einzelne Gebäude im urbanen Panorama noch zu erkennen, Lichter.
Mehr noch als die Aussicht gefiel mir die Atmosphäre dort oben, eine besondere Ruhe schien von dem Ort auszugehen. Gern wäre ich länger geblieben, trat jedoch schon bald den Rückweg in der aufziehenden Dunkelheit an.
Zurück in der Wohnung erwartete mich die Rückmeldung meines Erstlesers – der Text gefiel ihm, und ich nahm mir vor, auf die Halde zurückkehren.
Genau um 06:41 Uhr bin ich oben auf der Halde Rheinelbe. Doch das erhoffte Sonnenaufgangs-Spektakel bleibt aus. Nebel und tiefhängende Wolken. Am Himmel ein Fleck, etwas heller als das Weißgrau drumherum. Ich setze mich an den Fuß der Skulptur, der Himmelstreppe, so hin, dass ich den hellen Fleck sehe.
Die Landschaft ist wie in mehrere Lagen Pauspapier gepackt, Schicht um Schicht verdichtet bis zum Horizont.
Neben mir eine zerrissene McDonald’s-Tüte, der Inhalt quillt heraus, eckige Verpackungen aus Pappe, die mal Burger und Nuggets enthielten. Eine Serviette wiegt sich im Wind wie eine Alge in der Strömung am Meeresboden.
Ein Schwarm Vögel zieht vorbei, von rechts nach links (in die gleiche Richtung wie das Kaninchen eben), quert einmal mein Sichtfeld, als wolle er sichergehen, dass ich ihn wirklich bemerke.
Die Skulptur Tiger and Turtle von Heike Mutter und Ulrich Genth auf der Heinrich-Hildebrand-Höhe in Duisburg. Foto: Carola Gruber
Seit meinem ersten Ausflug vor mehr als anderthalb Monaten war ich einige Male hier. Auch auf anderen Halden war ich, Hoheward, Tetraeder, Tiger and Turtle, Pluto, doch nur auf dieser hier mehrmals, meiner Haushalde.
Erst am Vorabend war ich hier, telefonierte und besprach die Planung für die Abschlusslesung: Wie viele Leute passten gemäß aktueller Verordnungen in den Raum, wie mussten die Stühle angeordnet werden und so weiter.
Die Sonne stand groß und pink über dem Horizont, fast tropisch. Dabei war mir kalt. Ich trug meinen Anorak und hatte das sichere Gefühl, dass der Sommer vorbei ist.
Nach dem Auflegen sah ich mich um. Die Zeche Zollverein in Essen, der Tetraeder in Bottrop, der Herkules auf dem Nordsternturm, das Kraftwerk in Scholven, die Halde Rungenberg, die Arena. Dinge hatten – anders als noch vor anderthalb Monaten – einen Namen. Einige von ihnen habe ich in den letzten Wochen besucht. Andere würde ich noch gern sehen, vielleicht bei einem späteren Besuch einmal, sage ich mir.
Die Wolken zogen in unterschiedlicher Geschwindigkeit vorbei, die vorderen schneller und dunkler als die dahinter. Ich schrieb ein paar Eindrücke in mein Notizbuch, Fetzen, im Vertrauen darauf, dass sie sich, wie schon oft, zu einem Text fügen würden.
Grillen zirpten. Offenbar hatte ihnen noch keiner Bescheid gesagt, dass der Sommer vorbei war.
Die Umrisse im Panorama verschmolzen nach und nach miteinander. Nur die Horizontlinie blieb übrig. Einzelne Lichter durchbrachen das Dunkel, der Förderturm der Zeche Zollverein wurde grün angestrahlt, mit roter Beleuchtung im Kontrast dazu.
Ausblick von der Halde Rheinelbe auf das Stadtgebiet Gelsenkirchen. Im Hintergrund das Kraftwerk in Scholven (links) und die Arena (rechts). Foto: Carola Gruber
Jetzt, bei meinem morgendlichen Ausflug, sind die Grillen verstummt. Stattdessen zu hören: die Rufe von Krähen, das Rauschen regelmäßigen Verkehrs, Autoreifen, die auf Schotter fahren, das Piepen eines LKWs im Rückwärtsgang.
Ein Schwarm Vögel fliegt von links nach rechts, vielleicht der gleiche, der eben in die entgegengesetzte Richtung flog. Das Hin- und Herfliegen der Vögel erinnert mich an mein Ankommen, kurzes Verweilen und baldiges Abreisen.
Der Nebel zieht zu, die Schichten Pauspapier werden dicker, selbst der Strommast am Fuß der Halde ist nicht mehr klar zu sehen, die Leitungen, die von ihm abgehen, verschwinden im Nichts.
Ich sitze auf einer Insel im Nebelmeer, der Schotter unter mir ist der Strand. Ich werde die Halden vermissen, die Ruhe und den Platz hier oben, den Abstand zu den Dingen.
Doch neben Wehmut ist da auch auch Dankbarkeit. Für die vielen Dinge, die mir in den letzten Wochen geschenkt wurden.
Ein Raum fürs Schreiben. Mehrere Heißgetränke. Auch Kaltgetränke. Essen. Autofahrten zwecks Sightseeing. Gespräche. Geschichten von früher, von jetzt. Bücher. Applaus nach einer Lesung. Tipps für Unternehmungen. Ein Atelierbesuch. Hilfe beim Tragen meiner Einkäufe vom Supermarkt bis zur Haustür. Ein Bibliotheksausweis. Tröstende Worte. Konzert, Theateraufführung, Performances, Ausstellungsbesuche. Begegnungen mit Schreibinteressierten. Beratung bezüglich eines ÖPNV-Tickets. Viele Fragen (etwa: Was brauche ich, was ist mir wichtig?). Flyer. Aufkleber. Aufmerksamkeit. ÖPNV-Ticket. Geld. Die Begeisterung für Halden. Stadt- und Parkführungen. Ausdrucke meiner Texte. Menschliche Wärme von Leuten, die mich kaum kennen. Zeit, Vertrauen und Freiheit.
Als ich aufbreche, ist die Kälte in meine Glieder gekrochen, und ich genieße es, mich wieder zu bewegen.
Inzwischen ist der Tag bereits in vollem Gange, trivial und geschäftig: Radfahrer auf der Kray-Wanner-Bahn; ein dickes Mädchen, das mich neugierig ansieht, als ich vor einer Infotafel stehe; ein Mann, der auf der Leithestraße bei seiner Mitfahrgelegenheit einsteigt; ein Altkleidercontainer, der geleert wird.
Der Zauber des frühen Morgens ist vorbei.