Kultur trotz Corona: Schullektüre und Junges Lesen (5). Von Leander Steinkopf
Die Corona-Krise hat das Sozialleben gerade junger Menschen stark beeinträchtigt. Darüber hinaus wurde ihre Schulbildung ins Digitale verlagert, wo manches auf der Strecke blieb. Gerade in sozialer Isolation kann Literatur eine Stütze sein, die einem hilft mit den Problemen des Lebens klarzukommen. Somit ist es ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Frage zu befassen, welche Literatur in der Jugend gebraucht wird – und was Schullektüre leisten könnte. Dazu soll diese Interviewreihe einen Beitrag leisten.
Im Interview: Julia Weber, 1983 geboren in Tansania, ist ausgebildete Fotofachangestellte, studierte am Literaturinstitut in Biel und lebt in Zürich. Sie gründete den Literaturdienst, die Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“ und das feministische Autorinnenkollektiv „RAUF“. Der Roman Immer ist alles schön erschien 2017 beim Limmat Verlag. 2021 stand sie auf der Shortlist für den Ingeborg-Bachmann-Preis. Im Frühling 2022 erscheint ihr zweites Buch Die Vermengung ebenfalls beim Limmat Verlag. Zur Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation hat sie die Erzählung „Liebe Philine“ beigesteuert.
Interviewer: Leander Steinkopf (*1985) lebt nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv seit einigen Jahren in München. Von ihm erschienen verschiedene Bücher, u.a. der Roman Stadt der Feen und Wünsche bei Hanser Berlin. Er ist Herausgeber der Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation bei Claassen.
Mit der folgenden zehnteiligen Interviewreihe beteiligt sich Leander Steinkopf an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Wie kamst Du zum Schreiben?
Ich habe angefangen Tagebuch zu schreiben. Und wenn ich jetzt zurückgehe in diese Zeit, wenn ich in den alten Tagebüchern lese, dann merke ich, das war eigentlich schon Prosa, da war so viel Fiktion drin. Ich hatte gar nicht so großen Liebeskummer, wie es da drinsteht, in diesen Büchern mit den großen, zerbrochenen Herzen auf den Seiten, aber durch das Aufschreiben wurde der kleine Liebeskummer, der niemanden interessiert, nicht mal mich so richtig, zu etwas Großem und irgendwie auch feierlich.
Wann und wodurch entstand Dein Interesse für Literatur?
Angefangen hat es mit Wir Kinder von Bullerbü, das Lesen auf jeden Fall, am Tisch in meinem Zimmer, mit einer Lampe, die die Seiten beleuchtet hat und ich sagte dem Rest meiner Familie, ich lese jetzt und will meine Ruhe. Das gab mir ein Gefühl der Autonomie, etwas Selbstbestimmung. Und so richtig umgehauen, weil mir nicht bewusst war, wie sehr Literatur berühren kann, hat mich dann Die schwarzen Brüder.
Aber von der Lust am Lesen zur Lust am Selbstschreiben bin ich gekommen durch ein Gedicht von Lichtenstein, Die Dämmerung.
Ich bin aber nicht hauptsächlich über das Lesen zu meinem eigenen Schreiben gekommen. Ich denke, dass ich auch eine andere Kunstform hätte finden können für das, was ich sagen oder zeigen will.
Die Tatsache, dass man aus verschiedenen seltsamen, kleinen Zeichen eine ganze Welt bauen kann, indem man sie aneinanderreiht und sie dann wiederum entziffert und im Kopf zu Bildern gemacht werden, das ist phänomenal.
Was kann Literatur, was Serien und Filme nicht können?
Alles muss selbst gemacht werden, alles, was man fühlt und erlebt und durch die Geschichten plötzlich weiß, ist aus diesen seltsamen Zeichen entstanden, die auf dem Papier aufgereiht sind. Das finde ich fantastisch und manchmal, wenn ich ein Buch gelesen habe und die Figuren so sehr erlebt habe, zu kennen scheine, dann bin ich irgendwie auch stolz auf mich, dass ich das aus diesen As und Es und Hs herausgeholt habe.
Hat Dir Schullektüre im Leben weitergeholfen?
Erst als ich Die Dämmerung von Lichtenstein gelesen habe. Dann aber richtig.
Wenn Du Deutschlehrerin wärst, welches Buch würdest Du Deine Schüler lesen lassen? Und warum?
Ich glaube, warum mir die Bücher, die wir lasen in der Schule, immer ein bisschen fremd geblieben sind, war, weil die Lehrer*innen, die sie uns vermittelten, nicht so recht überzeugt waren von ihrer Liste an Büchern. Wenn jemand kam und sagte, das ist ein tolles Buch, ich liebe es, weil… Und lies es doch mal. Dann ist das was anderes, als wenn jemand sagt, der Besuch der alten Dame lesen wir jetzt auch noch. Ist von Dürrenmatt. Von dem gibt es ein Bild, auf dem hat er einen Papagei auf der Schulter. Und es ist wohl eine Gesellschaftskritik.
Warst Du eine gute Schülerin?
Nicht überdurchschnittlich. Ich hatte auch immer sehr, sehr viel anderes zu tun. Zu verstehen, warum wir überhaupt am Leben sind. Zu verstehen, warum man sich verliebt. Zu verstehen, warum Mathematik so ein wichtiges Fach sein soll. Zu verstehen, warum viele meiner Freunde an Gott glauben und ich nicht, warum er aber den meisten egal ist. Zu wissen, was man nach der Schule machen will. Gummitwist zu üben. Käfer sammeln. Heimlich rauchen. Sich verlieben.
Aber ich habe in der Schulzeit anhand sehr strenger und engstirniger Menschen gelernt, mir meine eigene Meinung zu bilden und für sie einzustehen. Dafür bin ich diesen engstirnigen und strengen Lehrer*innen sehr dankbar.
Wurde in Deiner Familie viel gelesen?
Meine Mutter hat mir viel Rafik Schami vorgelesen, das habe ich geliebt.
Hermann Hesse lag auch herum.
Was war das schönste Unterrichtserlebnis Deiner Schulzeit?
Ich habe einmal für einen Vortrag zum Thema Huhn ein Huhn mit in die Schule gebracht. Und dann ist dieses Huhn aus dem Käfig abgehauen und im Schulzimmer umhergerannt, geflattert, am Ende hat es sogar dem Lehrer auf das Lehrerpult geschissen. Das war großartig.
Julia, danke Dir für das Interview!
Kultur trotz Corona: Schullektüre und Junges Lesen (5). Von Leander Steinkopf>
Die Corona-Krise hat das Sozialleben gerade junger Menschen stark beeinträchtigt. Darüber hinaus wurde ihre Schulbildung ins Digitale verlagert, wo manches auf der Strecke blieb. Gerade in sozialer Isolation kann Literatur eine Stütze sein, die einem hilft mit den Problemen des Lebens klarzukommen. Somit ist es ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Frage zu befassen, welche Literatur in der Jugend gebraucht wird – und was Schullektüre leisten könnte. Dazu soll diese Interviewreihe einen Beitrag leisten.
Im Interview: Julia Weber, 1983 geboren in Tansania, ist ausgebildete Fotofachangestellte, studierte am Literaturinstitut in Biel und lebt in Zürich. Sie gründete den Literaturdienst, die Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“ und das feministische Autorinnenkollektiv „RAUF“. Der Roman Immer ist alles schön erschien 2017 beim Limmat Verlag. 2021 stand sie auf der Shortlist für den Ingeborg-Bachmann-Preis. Im Frühling 2022 erscheint ihr zweites Buch Die Vermengung ebenfalls beim Limmat Verlag. Zur Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation hat sie die Erzählung „Liebe Philine“ beigesteuert.
Interviewer: Leander Steinkopf (*1985) lebt nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv seit einigen Jahren in München. Von ihm erschienen verschiedene Bücher, u.a. der Roman Stadt der Feen und Wünsche bei Hanser Berlin. Er ist Herausgeber der Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation bei Claassen.
Mit der folgenden zehnteiligen Interviewreihe beteiligt sich Leander Steinkopf an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Wie kamst Du zum Schreiben?
Ich habe angefangen Tagebuch zu schreiben. Und wenn ich jetzt zurückgehe in diese Zeit, wenn ich in den alten Tagebüchern lese, dann merke ich, das war eigentlich schon Prosa, da war so viel Fiktion drin. Ich hatte gar nicht so großen Liebeskummer, wie es da drinsteht, in diesen Büchern mit den großen, zerbrochenen Herzen auf den Seiten, aber durch das Aufschreiben wurde der kleine Liebeskummer, der niemanden interessiert, nicht mal mich so richtig, zu etwas Großem und irgendwie auch feierlich.
Wann und wodurch entstand Dein Interesse für Literatur?
Angefangen hat es mit Wir Kinder von Bullerbü, das Lesen auf jeden Fall, am Tisch in meinem Zimmer, mit einer Lampe, die die Seiten beleuchtet hat und ich sagte dem Rest meiner Familie, ich lese jetzt und will meine Ruhe. Das gab mir ein Gefühl der Autonomie, etwas Selbstbestimmung. Und so richtig umgehauen, weil mir nicht bewusst war, wie sehr Literatur berühren kann, hat mich dann Die schwarzen Brüder.
Aber von der Lust am Lesen zur Lust am Selbstschreiben bin ich gekommen durch ein Gedicht von Lichtenstein, Die Dämmerung.
Ich bin aber nicht hauptsächlich über das Lesen zu meinem eigenen Schreiben gekommen. Ich denke, dass ich auch eine andere Kunstform hätte finden können für das, was ich sagen oder zeigen will.
Die Tatsache, dass man aus verschiedenen seltsamen, kleinen Zeichen eine ganze Welt bauen kann, indem man sie aneinanderreiht und sie dann wiederum entziffert und im Kopf zu Bildern gemacht werden, das ist phänomenal.
Was kann Literatur, was Serien und Filme nicht können?
Alles muss selbst gemacht werden, alles, was man fühlt und erlebt und durch die Geschichten plötzlich weiß, ist aus diesen seltsamen Zeichen entstanden, die auf dem Papier aufgereiht sind. Das finde ich fantastisch und manchmal, wenn ich ein Buch gelesen habe und die Figuren so sehr erlebt habe, zu kennen scheine, dann bin ich irgendwie auch stolz auf mich, dass ich das aus diesen As und Es und Hs herausgeholt habe.
Hat Dir Schullektüre im Leben weitergeholfen?
Erst als ich Die Dämmerung von Lichtenstein gelesen habe. Dann aber richtig.
Wenn Du Deutschlehrerin wärst, welches Buch würdest Du Deine Schüler lesen lassen? Und warum?
Ich glaube, warum mir die Bücher, die wir lasen in der Schule, immer ein bisschen fremd geblieben sind, war, weil die Lehrer*innen, die sie uns vermittelten, nicht so recht überzeugt waren von ihrer Liste an Büchern. Wenn jemand kam und sagte, das ist ein tolles Buch, ich liebe es, weil… Und lies es doch mal. Dann ist das was anderes, als wenn jemand sagt, der Besuch der alten Dame lesen wir jetzt auch noch. Ist von Dürrenmatt. Von dem gibt es ein Bild, auf dem hat er einen Papagei auf der Schulter. Und es ist wohl eine Gesellschaftskritik.
Warst Du eine gute Schülerin?
Nicht überdurchschnittlich. Ich hatte auch immer sehr, sehr viel anderes zu tun. Zu verstehen, warum wir überhaupt am Leben sind. Zu verstehen, warum man sich verliebt. Zu verstehen, warum Mathematik so ein wichtiges Fach sein soll. Zu verstehen, warum viele meiner Freunde an Gott glauben und ich nicht, warum er aber den meisten egal ist. Zu wissen, was man nach der Schule machen will. Gummitwist zu üben. Käfer sammeln. Heimlich rauchen. Sich verlieben.
Aber ich habe in der Schulzeit anhand sehr strenger und engstirniger Menschen gelernt, mir meine eigene Meinung zu bilden und für sie einzustehen. Dafür bin ich diesen engstirnigen und strengen Lehrer*innen sehr dankbar.
Wurde in Deiner Familie viel gelesen?
Meine Mutter hat mir viel Rafik Schami vorgelesen, das habe ich geliebt.
Hermann Hesse lag auch herum.
Was war das schönste Unterrichtserlebnis Deiner Schulzeit?
Ich habe einmal für einen Vortrag zum Thema Huhn ein Huhn mit in die Schule gebracht. Und dann ist dieses Huhn aus dem Käfig abgehauen und im Schulzimmer umhergerannt, geflattert, am Ende hat es sogar dem Lehrer auf das Lehrerpult geschissen. Das war großartig.
Julia, danke Dir für das Interview!