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26.01.2022, 09:00 Uhr
Nathalie Frank
Comic & Graphic Novel
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Foto: Mithila Borkar

„Rückkehr nach Nürnberg“. Ein Comicprojekt von Nathalie Frank (3)

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(c) Nathalie Frank

Nathalie Frank (*1984) studierte Politikwissenschaften in Frankreich, wo sie auch aufgewachsen ist. Seit 2011 lebt sie in Berlin und arbeitet als Comic-Autorin sowie als Kulturreporterin (arte Journal). Ihr aktuelles Comicbuchprojekt Rückkehr nach Nürnberg handelt davon, wie ihr diese Reise, die "Rückkehr" nach Nürnberg den Weg dafür bereitete, sich mit ihrer deutsch-jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen. 

Das Literaturportal Bayern begleitet den Entstehungsprozess dieses Projekts in Form einer Vorabpublikation mit freundlicher Genehmigung der Autorin – Folge 3.

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Postkarten aus Nürnberg

Jedes Kapitel wird durch eine „Postkarte“ aus Nürnberg eingeleitet, die den Gemütszustand, in dem ich mich befinde, wiedergibt und somit den Trauerprozess um die Heimat Deutschland in vier Phasen dekliniert. Ich habe mit einer alten Postkarte von Nürnberg experimentiert, die ich im Internet gefunden habe und die aus der Vorkriegszeit stammt, als die Synagoge noch stand. Ich habe die Synagoge in den ersten drei Postkarten aus der Stadtperspektive entfernt und sie auf der letzten Postkarte in einer gestrichelten Linie platziert, als ich beschloss, sie explizit wahrzunehmen.

Postkarte 1: Ich bin zum ersten Mal in Nürnberg

„Ich habe mit Deutschland nichts zu tun“, antwortete meine Großmutter, als sie mich vor ein paar Jahren in Berlin besuchte, und ich sie danach fragte, wie es sich anfühlte, in der Hauptstadt ihres Herkunftslandes zu sein. So wie mein Großvater ist sie in Deutschland geboren und hat in der frühen Jugend das Land mit ihrer jüdischen Familie verlassen, um Zuflucht vor den Nazis in Frankreich zu finden. Beide haben sich nach dem Krieg in Paris kennengelernt und dort eine Familie gegründet. Miteinander haben sie immer nur Französisch gesprochen, sie wurden später unsere „französischen Großeltern“. Es war kein Geheimnis, dass „Papy et Mamie“ aus Deutschland stammten, aber auch kein Thema.

Kein Wunder, dass Deutschland auch in der französischen Familie, in der ich in den 1980er-Jahren geboren bin, kein Thema war. Auch kein Thema, als ich nach Berlin gezogen bin – wie alle Franzosen und Französinnen zog mich die gelassene Atmosphäre und die Kunstszene an. Ich bin die Erste aus der Familie nach dem Krieg, die die deutsche Sprache wirklich gelernt hat. Das Leben hier hat mir sofort gefallen. Eines Tages sagte mir eine neue Freundin, sie sei aus Nürnberg. „Nürnberg? Mein Opa war auch aus Nürnberg“, sagte ich. „Weißt Du, wo er gewohnt hat?“ – „Keine Ahnung“. – „Schreib doch ans Stadtarchiv“.

Darauf wäre ich nie gekommen, aber tatsachlich, nach weniger als 24 Stunden kam die Antwort: „Rollnerstr. 35“.

Also es ist wahr, Raoul war wirklich in Nürnberg. Die Stadt tauchte auf meiner inneren Landkarte auf. Ein paar Jahre vergingen noch, bis ich mich für die Reise entschied.

Im ersten Kapitel wird das Ankommen in Nürnberg, zusammen mit meinen Eltern, erzählt, und der erste Spaziergang in der Stadt, der mit der Suche nach der Rollnerstr. 35 beginnt. Rückblenden aus der Familiengeschichte, die darauf verweisen, dass „Deutschland“ in meiner Familie ein verdrängtes Thema war, werden nach und nach im Buch auftauchen – nicht alle zwangsläufig in dem ersten Kapitel.

Postkarte 2: Ich hasse Nürnberg! Nürnberg macht mich krank! Ich will wieder nach Nürnberg!!

Frank. Frank. Frank. Mit dem Friedhofsbesuch brechen viele Emotionen gleichzeitig und durcheinander auf. Neben der intensiven Trauer überkommt mich Freude, meinen Namen zu sehen: die Freude des Wiederfindens. Also in dieser Stadt hieß mein Opa noch Rolf und war ein deutscher Junge. Hier spielte er bestimmt Fußball im Stadtpark und war wahrscheinlich auf den Felsen der Burg herumgeklettert. Hier besuchte er noch ein Jahr das Gymnasium, im Jahr 1933.

Nach der Suche des Friedhofs gab es auch eine Kostprobe von Lebkuchen und eine schwer zu ertragende Führung über „Jüdisches Leben in Nürnberg“, die viele Fragen weckte: Warum erzählt uns der „Guide“, der genau weiß, warum wir hier sind, die erste halbe Stunde nur über Antisemitismus und zeigt uns die frisch restaurierte „Judensau“, die unkommentiert an der Fassade der Kirche in der Altstadt zu sehen ist!? Mich verletzt das einfach, ich will etwas über das Leben der Juden hier erfahren, nicht nur über Hass und Tod! Ich frage: „Warum wurde die zerstörte Altstadt nach dem Krieg komplett wiederaufgebaut bis auf die Synagoge?“ „Weil es keine Juden mehr gab“. Warum haben es die anderen Deutschen nicht auch als ein Teil ihrer Geschichte gesehen, warum sollen nur die Juden die Synagoge nachbauen wollen?

Nach der ersten Reise folgt eine Zeit voll innerem Aufruhr, auch eine Zeit voller Wut und Trauer, die plötzlich und unerwartet hochkommen. Dieser Teil des Buches fängt die Ratlosigkeit, die unstillbare Neugier und das Unbehagen ein.

Frank! F-R-A-N-K, dieser Name, den ich seit der Kindheit buchstabieren kann, also von hier kommt er!? Ich will den Namen wechseln, warum soll ich nach einer Region heißen, wo meine Familie so misshandelt wurde? Und einer Stadt, die die Hauptsynagoge nicht wieder aufbaut, aber die Judensau restauriert! Vielleicht soll ich lieber FRANCE heißen – wie eine ewige wandernde Jüdin, die danach heißt, wo sie geboren ist...

Direkt nach Nürnberg geht es mir nicht gut, ich frage mich die ganze Zeit, was ich eigentlich unter diesen Deutschen mache, die den Luxus haben, sich diese Fragen nicht stellen zu müssen? Ich werde neidisch, ich hatte gern eine kontinuierliche Familiengeschichte, ohne Shoah, ohne Heimatverlust, ohne Bitterkeit – oder Verdrängung. Ich hätte gern sichere, sichtbare Wurzeln. „Heimat“ halt. Muss ich um das deutsche Zugehörigkeitsgefühl trauern, das meine bedrohten Vorfahren aufgegeben haben?

(Es ist mir bewusst, dass die Realität viel komplexer ist, und dass „die Deutschen“, die keine homogene Gruppe sind, auch mit der eigenen Geschichte zu kämpfen haben. Bewusst drucke ich trotzdem ungefiltert diese Gedanken aus, weil sie zum Prozess gehören.)

In den folgenden Wochen und Monaten kommen viele weitere Fragen hoch. Warum fällt es so schwer, über diesen sehr speziellen Schmerz zu sprechen, selbst in der eigenen Familie? Was ist noch Deutsch / Jüdisch in mir, heute? Und warum beschäftigt mich das? Darf ich überhaupt diese Trauer empfinden, wenn es nicht meine Geschichte ist, sondern die meiner Vorfahren? Gibt es eine „politisch korrekte“ Art, Nachkomme von Shoah-Überlebenden zu sein? Warum habe ich das Gefühl, meine Erregung sei unangemessen?

Postkarte 3: Wir hatten eine spannende Zeit in Nürnberg

Langsam wird aus der reinen Verwirrung ein getriebenes Forschen. In diesem Zustand reisen wir mit meiner Familie wieder nach Nürnberg: Diesmal ist meine Großmutter dabei, die Stolpersteine werden verlegt.

Wir haben eine schöne Zeit. Ein intensiver Besuch im Stadtarchiv. Und die Verlegung. Dies zu erleben ist so viel intensiver als darüber nachzudenken: Die deutschen Freunde, die mit uns dabei sind, der berührende Künstler, die Presse, die Begegnung mit dem interessanten Mann, der im Haus des ermordeten Onkel Simon sein Büro hat. Meine Oma, wie sie auf Deutsch mit ihm und mit Journalist*innen spricht.

Mit dem netten Archivar verabreden wir, dass ich bald wiederkomme, um mehr über meine Familie zu erfahren: Wo war Rolf in der Schule? Was war mit dem Textilgeschäft von Gerhard Frank? Was stand in den 1920er-Jahren in jüdischen und was in antisemitischen Zeitungen? Gibt es noch Spuren von der Familie Frank in Zeilitzheim, der Geburtsstadt von Gerhard und seinen sechs Geschwistern, die nach dem Krieg in sechs unterschiedliche Länder verteilt wurden? Was war der juristische Konflikt von Onkel Julius Frank mit Julius Streicher, der für die rasche Emigration der Familie 1933 entscheidend war?

Postkarte 4: Ich komme auf jeden Fall wieder nach Nürnberg

Da ich noch im Forschungsprozess bin, wird sich dieser Teil nach und nach klären.

Was wird jetzt? Bisher gab es lieber kein Deutschland in der Familie, als dass man sich mit der schmerzhaften Bindung auseinandersetzen würde. Was passiert, wenn diese Bindung wieder wahrgenommen und aufgenommen wird? Können wir nun ohne Schmerz oder übertriebene Rücksicht die deutsche Vergangenheit der Familie erwähnen? Wie wird diese neue Wahrnehmung meine Präsenz in Deutschland beeinflussen?

Es folgen auf jeden Fall weitere Reisen und Begegnungen. Jetzt, da Nürnberg in eine andere zeitliche Dimension gerutscht ist: die Gegenwart. Ich bin ja um die Ecke, in Berlin. Ist es die Hauptstadt meines Herkunftslandes? Meines Wohnsitzlandes? Eines befreundeten Landes?

Egal was passiert ist, es ist Teil meiner Geschichte. Wie gut Trauer tut! Ich wünsche mir ein gemeinsames, kollektives Trauern auf Augenhöhe, mit allen Beteiligten! Vielleicht würde dies das Unbehagen zwischen Juden und Deutschen besser zerstreuen als die verpflichtete Erinnerungskultur?

 

Die hier gezeigten Seiten wurden von Amcha Deutschland e.V. im Rahmen des Projektes „Hakara – transgenerationalem Trauma begegnen“ finanziert.

Dank an das Stadtarchiv Nürnberg für die freundliche Genehmigung zur Nutzung der Archivbilder.