Kultur trotz Corona: Schullektüre und Junges Lesen (1). Von Leander Steinkopf
Die Corona-Krise hat das Sozialleben gerade junger Menschen stark beeinträchtigt. Darüber hinaus wurde ihre Schulbildung ins Digitale verlagert, wo manches auf der Strecke blieb. Gerade in sozialer Isolation kann Literatur eine Stütze sein, die einem hilft mit den Problemen des Lebens klarzukommen. Somit ist es ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Frage zu befassen, welche Literatur in der Jugend gebraucht wird – und was Schullektüre leisten könnte. Dazu soll diese Interviewreihe einen Beitrag leisten.
Im Interview: Patricia Hempel (*1983) studierte Ur- und Frühgeschichte und Literarisches Schreiben in Berlin und Hildesheim. Sie schreibt für Zeitschriften und Magazine und ist Redaktionsmitglied des queeren Literaturmagazins GLITTER. Zudem setzt sich als Netzwerkerin der Queer Media Society (QMS) für queere Sichtbarkeit und Diversität in Literaturbetrieb und Buchhandel ein. Ihr Roman Metrofolklore erschien 2017 bei Tropen. Zur gerade bei Claassen erschienenen Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation hat sie die Erzählung „Goldfische“ beigesteuert.
Interviewer: Leander Steinkopf (*1985) lebt nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv seit einigen Jahren in München. Von ihm erschienen verschiedene Bücher, u.a. der Roman Stadt der Feen und Wünsche bei Hanser Berlin. Er ist Herausgeber der Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation bei Claassen.
Mit der folgenden zehnteiligen Interviewreihe beteiligt sich Leander Steinkopf an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
*
Patricia, wie kamst Du zum Schreiben?
Abgesehen von der Selbstreflexion durch Tagebücher, war das tatsächlich durch Farben und Landschafts- bzw. Stadtbilder. Mich faszinierten als Kind die Altbaustraßenzüge in Berlin-Friedenau mit ihren Stuckfassaden und alten Gaslaternen. Aus jedem der Kassettenfenster strömte ein anderes Licht in die Gassen. Mal warm, mal kalt, ins Rötliche oder Orange gehend – ich fing an diese Motive malerisch einzufangen, aber eben auch mit Worten in Form von Gedichten. Ich kaufte mir zum Ende meiner Grundschulzeit kleine Bücher, in denen ich meine Gedanken, Verse und Skizzen sammelte. Häufig saß ich mit Stiften auf einer Mauer und malte diese abendlichen Szenen ab. Dann dachte ich mir dazu fiktive Geschichten und Figuren aus, die hinter diesen Fenstern passierten bzw. lebten. Dazu hörte ich immer Marlene Dietrich, Edith Piaf oder Klaviermusik. Später, mit 14 oder 15, schrieb ich Gedichte per Hand auf Büttenpapier und verkaufte sie auf der Straße an Passanten. Das klingt komisch, aber so habe ich mir mein Taschengeld aufgebessert.
Was kann Literatur, was Serien und Filme nicht können?
Ich persönlich liebe Serien und Filme, aber das Schöne an Literatur ist das geschriebene Wort, das sich so sehr vom Gesprochenen unterscheidet. Durch diese Abstraktion entsteht auch erst dieser „Film“, in den man als Leser*in eintauchen kann und eingesogen wird. Außerdem überlässt einem Literatur Raum für die eigene Fantasie. Wie sehen die Figuren aus? Wie wirken Landschaft und Umgebung? Häufig war ich deshalb enttäuscht, wenn ich einen Film sah, zu dem ich vorher das Buch gelesen hatte. Es war meistens überhaupt nicht so wie in meiner Vorstellung! Andersherum fand ich es schade, wenn ich zuerst den Film sah und mir dann bei der Lektüre nichts Eigenes mehr vorstellen konnte. Die Figuren wurden in meinem „Kopfkino“ dann sofort von den jeweiligen Schauspielern ersetzt.
Wenn Du Deutschlehrerin wärst, welches Buch würdest Du Deine Schüler lesen lassen? Und warum?
Das kann man so nicht pauschalisieren. Möchte ich meinen Schüler*innen mögliche Umgangsweisen mit der deutschen Sprache näherbringen, würde ich auf moderne Lyrik setzen. Geht es mir aber um Vermittlung von Kultur und Gesellschaft, würde ich Lektüre wählen, die den Kindern die Diversität und Vielfalt unseres Zusammenlebens vermittelt. Das wären vor allem Stimmen von PoC, aber auch queere Geschichten, die mit Dingen wie Homosexualität und Geschlechtsidentitäten völlig unproblematisch umgehen (oder auch gerade nicht!?). Als Lehrperson wäre mir in jedem Fall Sichtbarkeit und Inklusion ein wichtiges Anliegen! Auch spannend fände ich einen Klassiker wie z.B. Die Leiden des jungen Werther einem zeitgenössischen Roman gegenüberzustellen und Gemeinsamkeiten/Unterschiede im aktiven Dialog mit den Schüler*innen zu erarbeiten.
Warst Du eine gute Schülerin?
Jein. Ich hatte eine 1 in Deutsch, Französisch und Geschichte, aber dafür eine 5 in Mathe und eine „pädagogische“ 4- in Physik. Das muss bei den Lehrerkonferenzen schwierig gewesen sein in meinem Fall zu einem Konsens zu finden. Manche Lehrer waren von meinem Drive und meiner Impulsivität für manche Dinge begeistert, andere haben mich schlichtweg gehasst und später dann auch aufgegeben.
Welches Buch würdest Du heute deinem jugendlichen Ich empfehlen?
Thilo Bode – Die Diktatur der Konzerne. Das Buch erklärt sachlich und spannend, wie Politik und Wirtschaft miteinander zusammenhängen. Viele politische Entscheidungen werden nämlich nicht von Politikern getroffen, sondern stammen aus den Forderungskatalogen großer Konzerne. Das Buch hätte mir als junger Mensch sicher geholfen die aktuelle Politik zu hinterfragen und unter einem ganz anderen Licht zu sehen. Außerdem zeigt es das Spannungsfeld auf, in welchem sich die innerdeutsche Politik vor allem auch global bewegt.
Hat Dir Literatur im Leben weitergeholfen?
Auf jeden Fall – vor allem als junger Mensch. Früher, also in einer Zeit vor Netflix und Co., waren Romane die perfekte Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag. Das konnte ein klassischer Roman wie Anna Karenina oder Der Spieler sein, aber auch U-Literatur wie die Bücher von Stephen King oder Tolkien's Herr der Ringe. Ich habe alles verschlungen, was mir unter die Finger kam. Auch habe ich von Büchern manchmal mehr (oder für mich persönlich Wichtigeres) gelernt, als der Lehrplan meiner Schule das vorsah. Aimée & Jaguar von Erica Fischer hat mir sowohl dabei geholfen mich mit der Geschichte Deutschlands auseinandersetzen als auch meine eigene Sexualität besser zu verstehen.
Patricia, danke Dir für das Interview!
Kultur trotz Corona: Schullektüre und Junges Lesen (1). Von Leander Steinkopf>
Die Corona-Krise hat das Sozialleben gerade junger Menschen stark beeinträchtigt. Darüber hinaus wurde ihre Schulbildung ins Digitale verlagert, wo manches auf der Strecke blieb. Gerade in sozialer Isolation kann Literatur eine Stütze sein, die einem hilft mit den Problemen des Lebens klarzukommen. Somit ist es ein guter Zeitpunkt, um sich mit der Frage zu befassen, welche Literatur in der Jugend gebraucht wird – und was Schullektüre leisten könnte. Dazu soll diese Interviewreihe einen Beitrag leisten.
Im Interview: Patricia Hempel (*1983) studierte Ur- und Frühgeschichte und Literarisches Schreiben in Berlin und Hildesheim. Sie schreibt für Zeitschriften und Magazine und ist Redaktionsmitglied des queeren Literaturmagazins GLITTER. Zudem setzt sich als Netzwerkerin der Queer Media Society (QMS) für queere Sichtbarkeit und Diversität in Literaturbetrieb und Buchhandel ein. Ihr Roman Metrofolklore erschien 2017 bei Tropen. Zur gerade bei Claassen erschienenen Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation hat sie die Erzählung „Goldfische“ beigesteuert.
Interviewer: Leander Steinkopf (*1985) lebt nach Stationen in Mannheim, Berlin, Sarajevo und Plovdiv seit einigen Jahren in München. Von ihm erschienen verschiedene Bücher, u.a. der Roman Stadt der Feen und Wünsche bei Hanser Berlin. Er ist Herausgeber der Anthologie Neue Schule: Prosa für die nächste Generation bei Claassen.
Mit der folgenden zehnteiligen Interviewreihe beteiligt sich Leander Steinkopf an der Fortsetzung von „Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.
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Patricia, wie kamst Du zum Schreiben?
Abgesehen von der Selbstreflexion durch Tagebücher, war das tatsächlich durch Farben und Landschafts- bzw. Stadtbilder. Mich faszinierten als Kind die Altbaustraßenzüge in Berlin-Friedenau mit ihren Stuckfassaden und alten Gaslaternen. Aus jedem der Kassettenfenster strömte ein anderes Licht in die Gassen. Mal warm, mal kalt, ins Rötliche oder Orange gehend – ich fing an diese Motive malerisch einzufangen, aber eben auch mit Worten in Form von Gedichten. Ich kaufte mir zum Ende meiner Grundschulzeit kleine Bücher, in denen ich meine Gedanken, Verse und Skizzen sammelte. Häufig saß ich mit Stiften auf einer Mauer und malte diese abendlichen Szenen ab. Dann dachte ich mir dazu fiktive Geschichten und Figuren aus, die hinter diesen Fenstern passierten bzw. lebten. Dazu hörte ich immer Marlene Dietrich, Edith Piaf oder Klaviermusik. Später, mit 14 oder 15, schrieb ich Gedichte per Hand auf Büttenpapier und verkaufte sie auf der Straße an Passanten. Das klingt komisch, aber so habe ich mir mein Taschengeld aufgebessert.
Was kann Literatur, was Serien und Filme nicht können?
Ich persönlich liebe Serien und Filme, aber das Schöne an Literatur ist das geschriebene Wort, das sich so sehr vom Gesprochenen unterscheidet. Durch diese Abstraktion entsteht auch erst dieser „Film“, in den man als Leser*in eintauchen kann und eingesogen wird. Außerdem überlässt einem Literatur Raum für die eigene Fantasie. Wie sehen die Figuren aus? Wie wirken Landschaft und Umgebung? Häufig war ich deshalb enttäuscht, wenn ich einen Film sah, zu dem ich vorher das Buch gelesen hatte. Es war meistens überhaupt nicht so wie in meiner Vorstellung! Andersherum fand ich es schade, wenn ich zuerst den Film sah und mir dann bei der Lektüre nichts Eigenes mehr vorstellen konnte. Die Figuren wurden in meinem „Kopfkino“ dann sofort von den jeweiligen Schauspielern ersetzt.
Wenn Du Deutschlehrerin wärst, welches Buch würdest Du Deine Schüler lesen lassen? Und warum?
Das kann man so nicht pauschalisieren. Möchte ich meinen Schüler*innen mögliche Umgangsweisen mit der deutschen Sprache näherbringen, würde ich auf moderne Lyrik setzen. Geht es mir aber um Vermittlung von Kultur und Gesellschaft, würde ich Lektüre wählen, die den Kindern die Diversität und Vielfalt unseres Zusammenlebens vermittelt. Das wären vor allem Stimmen von PoC, aber auch queere Geschichten, die mit Dingen wie Homosexualität und Geschlechtsidentitäten völlig unproblematisch umgehen (oder auch gerade nicht!?). Als Lehrperson wäre mir in jedem Fall Sichtbarkeit und Inklusion ein wichtiges Anliegen! Auch spannend fände ich einen Klassiker wie z.B. Die Leiden des jungen Werther einem zeitgenössischen Roman gegenüberzustellen und Gemeinsamkeiten/Unterschiede im aktiven Dialog mit den Schüler*innen zu erarbeiten.
Warst Du eine gute Schülerin?
Jein. Ich hatte eine 1 in Deutsch, Französisch und Geschichte, aber dafür eine 5 in Mathe und eine „pädagogische“ 4- in Physik. Das muss bei den Lehrerkonferenzen schwierig gewesen sein in meinem Fall zu einem Konsens zu finden. Manche Lehrer waren von meinem Drive und meiner Impulsivität für manche Dinge begeistert, andere haben mich schlichtweg gehasst und später dann auch aufgegeben.
Welches Buch würdest Du heute deinem jugendlichen Ich empfehlen?
Thilo Bode – Die Diktatur der Konzerne. Das Buch erklärt sachlich und spannend, wie Politik und Wirtschaft miteinander zusammenhängen. Viele politische Entscheidungen werden nämlich nicht von Politikern getroffen, sondern stammen aus den Forderungskatalogen großer Konzerne. Das Buch hätte mir als junger Mensch sicher geholfen die aktuelle Politik zu hinterfragen und unter einem ganz anderen Licht zu sehen. Außerdem zeigt es das Spannungsfeld auf, in welchem sich die innerdeutsche Politik vor allem auch global bewegt.
Hat Dir Literatur im Leben weitergeholfen?
Auf jeden Fall – vor allem als junger Mensch. Früher, also in einer Zeit vor Netflix und Co., waren Romane die perfekte Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag. Das konnte ein klassischer Roman wie Anna Karenina oder Der Spieler sein, aber auch U-Literatur wie die Bücher von Stephen King oder Tolkien's Herr der Ringe. Ich habe alles verschlungen, was mir unter die Finger kam. Auch habe ich von Büchern manchmal mehr (oder für mich persönlich Wichtigeres) gelernt, als der Lehrplan meiner Schule das vorsah. Aimée & Jaguar von Erica Fischer hat mir sowohl dabei geholfen mich mit der Geschichte Deutschlands auseinandersetzen als auch meine eigene Sexualität besser zu verstehen.
Patricia, danke Dir für das Interview!