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Kultur trotz Corona: „EinSatzRaum“. Von Katrin Diehl

Katrin Diehl (*1961 in Mannheim) ist freie Journalistin und Autorin und lebt in München. Nach dem Studium in Heidelberg wechselte sie an die Deutsche Journalistenschule in München und schloss dort mit der Promotion ab. Zum dramatischen Schreiben kam sie über ein Praktikum in der Hörspiel-Abteilung des BR2012 gründete Katrin Diehl die Theatergruppe „Stegreif“, die mit Stücken von ihr – für die Schüler*innen überraschend – in den Schulunterricht „einbrach“, 2018 dann die Kinder- und Jugendtheatergruppe „Die Czaks“. Zwei Jahre später wurde Diehl mit ihrem Stück Bronstein wartet Stipendiatin des Netzwerks Münchner Theatertexter*innen.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Romanauszug beteiligt sich Katrin Diehl an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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EinSatzRaum

 

Wenn man sich seiner Sache sicher ist, dann spürt man das. Das All nickt einem zu. Ja, das tut es!

Vornübergebeugt sahen ihr ihre Zehen entgegen. Krumm. Gerade. Und irgendwie bemüht. Sie war gerührt. Füße waren ein Kapitel für sich und Gedanken, die sich in Worte fassen ließen, etwas absolut, absolut Neues. Nicht, dass sie sich wunderte. Eher fiel ihr gerade jetzt auf, dass sie sich in einem der wenigen Räume befand, in dem um sie herum kein einziges gedrucktes Wort existierte. Das musste es sein, was sie bereit machte und unglaublich gut. Wenn ein Kind aus dem Bauch seiner Mutter kriecht, hört es schnell auf, sich zu wundern und dabei bleibt es. Blieb es bei ihr auf ewig. Seit einiger Zeit sammelte sie Bewegungen, Faltenwürfe und Gedanken, die sich durch Adern schlängelten.

Kleinigkeiten interessierten sie, unbeobachtete wie ungenaue Zuckungen. Sie rollte konzentriert die Augen – mein Geheimnis ist dein Geheimnis, ach wie gut, dass niemand weiß, wie ich heiß'! –, lehnte sich zurück. Wenn sie das mit einer gewissen Ahnung tat, kam ihrem Rücken ganz sicher ein kaltes, dünnes, altehrwürdiges Rohr entgegen, legte sich sanft, senkrecht, rechts entlang ihres Rückgrades und gab ihr Bewusstsein. Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich so oder so heiß, dass ich eine ewig sitzende Göttin bin, von unsichtbaren, bunten Stoffen umgeben, hergerichtet, aufgefaltet fürs nächste, unabwendbare Gemälde.

Dieses Mal schwangen sich ihre Lippen zu Schmetterlingen auf, Teil ihres geliebten, lautlosen Inventars. Bis auf die zählbaren Geräusche, mit denen man da draußen rechnete, durfte nichts aus dem Raum dringen. Meins, meins, meins, und alles hat seinen Preis.

„Solange Geheimnisse neben Sandkörnern die Jackentaschen füllen, geht man der Welt nicht verloren.“ Sie ließ diesen Satz ihren Hals hinunter wie ein Stück fettes Brot. So wie alles schön war, so war es auch jeder Satz. „Ich besitze einen Perlenohrring und drei gelbe Bleistifte.“ Nicht schlecht. Nicht schlecht. Manchmal reichten auch Satzanfänge. „Die Enten am Kanalufer...“ Sie schlug ihre Augen auf und nieder, schmückte ihre Lider traumsicher mit weißen Wimpern. Ein luftiges Empfinden. Über Sätze ging es hinaus in die Welt, die sie von hier aus regierte. „Der Fluss, auf den ich nicht schaue, ändert minütlich seine Farbe.“

Wahrscheinlich kündigte sich eine Ära an. Vielleicht, und das war doch sehr naheliegend, die der Sätze. Das konnte jedenfalls nicht schaden. Sie wird anfangen, sich zu offenbaren. Jesus, noch grün hinter den Ohren, saß ja mitten unter ihnen. Ihm schwebten offene Münder und Ohren entgegen, während draußen Maria durchs Heilige Land hetzte, der brave Josef hinterher. Sie dagegen änderte jetzt ihre Blickrichtung. Streckte ihre Arme aus und ließ die Fingerspitzen über die grobkörnige, kühle Wand fahren. Meine Wand. Meine Haut. Meine, meine, meine.

Alles, was sie brauchte, stand ihr zur Verfügung. Der Tür hatte sie den Riegel vorgeschoben. Eine selige Zufriedenheit machte für Sekunden Halt auf ihrem Gesicht. Gut gemacht. Gut gemacht. Zeige- und Mittelfinger der einen Hand erstatteten ihr Meldung. Sie hatten eines dieser seltenen Exemplare aufgespürt, die sich wegduckten wie junge Igel, eine dieser zugespachtelten Luftblasen, die sich um ihr Leben tarnten oder freundlich taten wie ein zuckriger Teig. Eine Prachtausgabe.
Genussvoll drückten die Finger an dem Ding herum. Jeder durfte mal. Der Nagel ihres Zeigefingers – auch ein Kapitel für sich – leistete Vorarbeit.

Maria trat in die feuchtwarme Dunkelheit. Später würde man ihr wahnsinnige Sorge um ihren Halbwüchsigen andichten. Erschöpft war sie. Das vor allem. Erschöpft und überhaupt schon lange müde. Und sie spürte, wie der Stoff ihres dunkelblauen, knielangen Kleids an ihr zu kleben begann. Kleider kleben am Leib. Das war ihr nicht neu. Ein wenig neuer war das Pochen rechts unten in ihrem Bauch. Er war 13, ein hübscher Jüngling, und es hatte am Ende seine heilige Ordnung, dass er nichts mehr von ihr wissen wollte, und das war ja auch gar nicht der Punkt. Was sie bei lebendigem Körper abtötete, einen scharfen Dolch unter ihr blaues Kleid zauberte, war die Tatsache, dass er all das tat, weil und damit es so geschrieben stand. Nichts als eine Show im großen Stil war das hier. Mit ihr als angebeteter Statistin.

Ich bin nicht auf der Suche nach etwas, das war. Ich will nicht verstanden werden, sondern tief atmen können. Das ist doch das Schlimmste: auf Gleichgesinnte zu stoßen. Das ist doch das Ende aller Möglichkeiten, ist überhaupt das Ende. Dagegen dieser Ort, dieses Glück hier. Die Gewissheit, nicht gefunden zu werden. Und wenn mich wer findet, weiß er nicht, dass ich es bin.

Mit brennenden Augen ging sie die dunklen Ecken und Winkel nach wachenden Wächtern ab. Maria stemmte sich gegen den Lauf der Dinge. Im Schweiße ihres Angesichts. Sie dagegen ließ sich sehr bewusst treiben. Das Leben das waren die anderen. Sie selbst bereit für den großen Film. Das Abseits deklarierte sie zu ihrem Zuhause, ernannte sich zur Beobachterin der kleinen Spuren, einer Archivarin mit dem Gedächtnis eines gerade geborenen Elefanten. Sie war Ohr, Auge, Nase, Mund, eine Sammlerin aus Leidenschaft am Leben. Fand alles unterschiedslos brauchbar, bemerkenswert, am Ende so etwas wie schön. Alles, was ich sehe, sehe ich, alles, was ich höre, höre ich, lautete ihre Zauberformel. Es kam ihr völlig falsch und unpassend vor, Stellung zu beziehen, eine Meinung zu den Dingen zu haben. Jetzt noch nicht! Jetzt doch noch nicht! In ihrem Hirn lag das feinste aller Gespinste. Richtig, falsch, gut, böse..., keine Ahnung, keine Richtung. Im Grunde wusste sie nichts. Ihr Blick, der für Verwirrung sorgte und mit dem sie Kontakte abblitzen ließ, funktionierte, wenn auch nicht immer. Dann folgten Momente, die sie aufs Äußerte hasste. Erspart es euch und mir, warnte sie bis zur letzten Sekunde. Fragen empfand sie immer als äußerst persönlich, als per se indiskret, nahe, nahe, nahe. „Ich habe wirklich absolut keine Ahnung“, hätte sie sagen können. Sie ließ es, stapelte Geheimnis auf Geheimnis und richtete sich oben ein im verzwirbelten Turmzimmerchen. Voilà, das Leben bietet für jeden einen Platz, das kannst du, kann ich mir glauben. Alles in ihrem Blick. Alles in ihrer Gewalt. Mit Gott war die Berechtigung zu beobachten auf die Erde gekommen. Und sie beobachtete, dass alle fürs Leben geschaffen waren. Außer sie selbst.

Eingesperrt galten ja andere Gesetze. Je kleiner der Raum, umso mehr ging es um Leben und Tod. Sie wollte leben, also entschied sie sich gegen den Tod. Ein gutes, ein sehr gutes Gefühl. Links von ihr rieselte ein fadendünnes Rinnsal hinab, ließ auf dem melierten Steinboden ein zartes Zuckerbergchen aus Sand entstehen. Winzig und schön. Die Enge schärfte ihre Sinne wie eine starke Tasse schwarzen Kaffees. Um sie herum begann eine Landschaft zu wachsen und sie war die ewige Indianerin. Woanders war die Landschaft zu allen Zeiten da, wartete darauf, entdeckt und erweckt zu werden. Sie war Indianerin und Kolumbus zugleich. Sie war alles, hatte alles.

Sie hatte Wasser. Sie hatte Kalk. Damit kann man überleben.

Sie hatte Halt. Die Armmuskeln ließen sich ganz einfach trainieren, indem sich ihre beiden Hände an den geschwungenen Blechrand vor sich klammerten, sich ihre Finger zwischen das Gestänge, das einen Abstellplatz für den blechernen Eimer bot, schoben. Dort zog sie sich immer wieder langsam nach vorne. Eine Glühbirne oben an der fernen Decke machte Licht nach Bedarf. Der Lichtschalter war ja hier drinnen und nicht draußen vor der Tür. Was für ein Glück! Was für eine Freiheit! Am Tag kam Licht durchs Fenster, das sich öffnen ließ, klein, wie es war, winzig, gerade groß genug, um von außen wie ein unauffälliges Bild in der Wand zu wirken.

In dem Haus, dessen Stück Grün gleich neben den knorrigen Birnbaumschwestern und ein paar Rhabarberstauden mit nichts als einer leeren Wäschespinne nebst einem schräg liegenden Schiff auf dem Trockenen an ihren Spielkameraden, ihren Garten, grenzte, gab es keinen Bewohner unterm Dach. Und doch saß da heute einer. Ein kahler, runder Kopf beugte sich tief über ein Buch, das von Briefmarken nur so gespickt war. Sie mochte Männer. Diesen vielleicht weniger, aber darum ging es hier nicht, das wusste sie sofort. Der Mann trug ein kariertes Hemd aus staubigem Wollstoff. Breite Hosenträger zogen sich über seinen Bauch, die Schultern, den Rücken, hielten alles zusammen und gaben der Gestalt ihre Unabhängigkeit zurück. Hinter der runden, dünndrähtigen Brille lagen kleine Augen, die nichts als entdeckten, ihren Blick durch die dicke Scheibe eines Vergrößerungsglases schickten. Die Hand hielt er überraschend ruhig. Bei diesem Mann hat alles, alles, alles seine Richtigkeit, dachte sie und staunte und wusste, dass das nicht stimmte. Über den bleichgewischten Holztisch beugte sich ja auch noch diese orangefarbene Lampe, beugte sich über den Gebeugten und leuchtete inmitten allen Dunkels Möglichkeiten aus. Der Mann fuhr mit dem Glas die Seiten ab, von oben nach unten, von rechts nach links. Wie ein Nachtzug, dachte sie, und verschob Ziel und Zeit auf Morgen. An der Wand tickte eine Küchenuhr, manchmal gab ein kleines Radio mit hagerer Antenne die Auslasszeiten von Brieftauben durch. Der Raum könnte so etwas wie die Küche sein, dachte sie, sommers wie winters mit Sofa, Spülbecken, Herd, einem alten Brotkasten. Die heimliche Küche. Er ist einer wie ich, dachte sie, aber er riecht anders. Ganz anders. Nach verbrannter Milch und alten Kissen. Seine Brillengläser sind beschlagen, dichtete sie ihm an, und dass er hinter diesem dreieckigen Dachfenster selbst wie eine dieser seltenen Briefmarken wirkte, umgeben von einem Meer aus kaminroten Ziegeln. Manchmal fliegen weißgraue Vögel vorbei, die unsere sind. Er ist wie ich, nur dass er statt Wörter einen Tisch, einen Stuhl und Briefmarken besitzt.