#SiXHOURSLATER. Bericht aus Québec (2)
Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Die diesjährige Stipendiatin ist die aus Regensburg stammende Autorin Ulrike Anna Bleier. Im Literaturportal Bayern berichtet sie regelmäßig über ihren Aufenthalt. Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.
*
Da. Ich bin da. Je suis ici, je suis lá-bas, im Québecer Französisch ist hier und da dasselbe, wie mir Juliette, die Programmleiterin des Maison de la Littérature erklärt hat. Sie hat mich letzten Montag vom Flughafen abgeholt, sie saß da auf einer Bank und wartete auf mich, mit einer großen Gewissheit, dass ich ankommen würde. Der Anschlussflieger von Montreal nach Québec-City hatte fast zwei Stunden Verspätung. Grund waren ich und noch ein paar andere Passagiere, die für den Stichproben-Corona-Test ausgewählt worden waren.
Geschichte eines Apartmenthauses
Das Apartment, das für mich angemietet wurde, ist speziell: sehr modern, mit einem sensationellen Blick auf Québec, auf die Kirche St. Jean-Baptiste, inmitten des gleichnamigen sehr urbanen Viertels, vergleichbar vielleicht mit der Au in München oder Ehrenfeld in Köln – leider auch, was die Gentrifizierung angeht.
St. Jean-Baptiste
Das weiße, sechsstöckige Apartmenthaus wirkt wie ein Fremdkörper inmitten der historischen Gebäude, viele aus dem 17. und 18. Jahrhundert, und ich fragte mich schon, welch schönes altes Haus dafür sterben musste. Aber weit gefehlt. Tatsächlich ist das Gebäude schon älter und diente als Mietshaus, bis es vor ein paar Jahren durch einen Schwelbrand unbewohnbar geworden war, die Wände schwarz, alles von einer dicken Rußschicht überzogen, wie mir der junge Mann von der Verwaltung erzählte, mit dem ich wegen des röhrenden Ventilators im Bad gesprochen habe. Zwei Jahre habe das Gebäude leer gestanden, bevor es von einem Investor gekauft und renoviert worden ist, und ich fragte mich, ob die einstmals schwarze Rußschicht im Inneren in irgendeinem Zusammenhang zur blütendweißen Fassade des heutigen Gebäudes steht. Offenbar hat mich mein Gefühl aber nicht getrogen, denn der Bibliothekar des Literaturhauses erzählte mir, die Anwohner seien nicht gut auf die Eigentümer zu sprechen, weil die Wohnungen mittlerweile nur an Airbnb-Gäste vermietet würden. Ich schäme mich also immer ein bisschen, wenn ich das Gebäude betrete. Andererseits fällt es mir schwer, das Schwimmbad, die Sauna, die Dachterrasse, die schöne Küche und das sehr gemütliche Schlafzimmer zu verachten.
Denkmal für den ersten Highway Kanadas
Jetzt aber zur Stadt selbst. In der ersten Woche bin ich viel herumgelaufen, habe fotographiert, habe die vielen Inschriften an Denkmälern, Skulpturen, Plätzen gelesen, viele zweisprachig in Englisch und Französisch, die jüngeren nur noch in Französisch, denn seit 1977 ist Französisch die alleinige Amtssprache in Québec. Es geht bei den Denkmälern um Québecer Geschichte und Kultur. Die nationale Identität ist ein alles beherrschendes Thema. (Québec ist innerhalb Kanadas offiziell als Nation anerkannt.) Dazu dann nächste Woche mehr.
Zwei Geschichten haben mich bei meinen Streifzügen besonders beschäftigt. Am Portal St. Jean hat der erste kanadische Highway ein eigenes Denkmal bekommen. Na gut, es war noch keine Autobahn damals, aber der Chemin du Roy, der am 5. August 1734 eingeweiht (inaugurated wie bei einer Präsidentenvereidigung) wurde, war tatsächlich die erste Verbindungsstraße von Québec nach Montreal. Ich bin seit jeher fasziniert von Autobahnen als Orten des Dazwischen, ephemeren Orten, nicht hier, nicht da. Der französische Soziologe Marc Augé hat diesen non-lieux bereits in den 1990er-Jahren ein Buch gewidmet. Sie spielen in unserem Leben eine große Rolle, wir wissen es nur nicht. Für meine persönliche Geschichte aber waren Autobahnen eine wichtige Möglichkeit, der Provinz und allem, was damit zusammenhing, zu entkommen.
Trotzige Gesänge wider den Tod
Die zweite Geschichte spielte sich am Cape Diamond auf den Plaines d'Abraham ab, einem ehemaligen Schlachtfeld im Siebenjährigen Krieg, im Verlaufe dessen die Franzosen Québec an die Briten verloren. Der Cape Diamond wurde im 17. Jahrhundert Schauplatz einer fürchterlichen Racheaktion der Wyandat, die sich mit den Kanadiern verbündet hatten. Sie verbrannten an diesem Ort Krieger eines verfeindeten Irokesenstammes bei lebendigem Leib. But every burning iroquois sang his defiant death-song quite unflinchingly till his last dying breath, so steht es auf der Gedenktafel. Laut Gedenktafel sei die Rache übrigens „gerechtfertigt“ gewesen, eine Bemerkung, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Plaines d'Abraham
Cabinets d'Ecriture in der Kirche
Am Donnerstag und Freitag habe ich meine Gastgeber*innen vom Maison de la Littérature besucht. Bereits seit den 1940er-Jahren ist in der ehemaligen Methodistenkirche eine Bibliothek untergebracht, die seit jeher gut genutzt wurde; seit der Renovierung vor sechs Jahren aber haben sich die Besucherzahlen verdoppelt. Es ist einfach ein Ort, an dem man sich gerne aufhält. Draußen kann man – wie übrigens an vielen Orten in der Stadt – sitzen, lesen, Selbstmitgebrachtes essen und trinken, Leute treffen, in der Sonne chillen. Verwaltet wird das Haus vom L'Institut Canadien de Québec (L'ICQ), das neben dem Haus der Literatur für 25 weitere Bibliotheken in der Stadt zuständig ist. La Maison de la Littérature ist aber nicht nur eine Bibliothek, sondern auch ein Ort, an dem man arbeiten (in den sogenannten Cabinets d'Écriture, die auch ich zum Schreiben nutzen darf, juchuu!) und sogar wohnen kann. Im Oktober richtet das L'ICQ dann das jährliche Literaturfestival Québec en lettres aus, das an verschiedenen Orten in der Stadt stattfinden wird, vergleichbar mit der Kölner Literaturnacht, und aus diesem Grund habe ich gleich mal unauffällig eine Tasche der Kölner Literaturnacht auf diesem gemütlichen Sessel trapiert.
Maison de la Littérature
Und zum Schluss kommt noch eine Bilderstrecke von den vielen Sitzgelegenheiten in der Stadt, die individuell und liebevoll gestaltet sind und an denen kein Konsumierzwang herrscht. Sie bestimmen die Atmosphäre, die Ruhe und Freundlichkeit der Stadt entscheidend mit. Übrigens werden sie ebenfalls lieux ephemères genannt, flüchtige Orte. Sie sind die Autobahnraststätten der Stadt, nur schöner und ohne Tanken.
Sitzen in Québec
Bonne journée (und setzt euch hin, wenn ihr müde seid)!
#SiXHOURSLATER. Bericht aus Québec (2)>
Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Die diesjährige Stipendiatin ist die aus Regensburg stammende Autorin Ulrike Anna Bleier. Im Literaturportal Bayern berichtet sie regelmäßig über ihren Aufenthalt. Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.
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Da. Ich bin da. Je suis ici, je suis lá-bas, im Québecer Französisch ist hier und da dasselbe, wie mir Juliette, die Programmleiterin des Maison de la Littérature erklärt hat. Sie hat mich letzten Montag vom Flughafen abgeholt, sie saß da auf einer Bank und wartete auf mich, mit einer großen Gewissheit, dass ich ankommen würde. Der Anschlussflieger von Montreal nach Québec-City hatte fast zwei Stunden Verspätung. Grund waren ich und noch ein paar andere Passagiere, die für den Stichproben-Corona-Test ausgewählt worden waren.
Geschichte eines Apartmenthauses
Das Apartment, das für mich angemietet wurde, ist speziell: sehr modern, mit einem sensationellen Blick auf Québec, auf die Kirche St. Jean-Baptiste, inmitten des gleichnamigen sehr urbanen Viertels, vergleichbar vielleicht mit der Au in München oder Ehrenfeld in Köln – leider auch, was die Gentrifizierung angeht.
St. Jean-Baptiste
Das weiße, sechsstöckige Apartmenthaus wirkt wie ein Fremdkörper inmitten der historischen Gebäude, viele aus dem 17. und 18. Jahrhundert, und ich fragte mich schon, welch schönes altes Haus dafür sterben musste. Aber weit gefehlt. Tatsächlich ist das Gebäude schon älter und diente als Mietshaus, bis es vor ein paar Jahren durch einen Schwelbrand unbewohnbar geworden war, die Wände schwarz, alles von einer dicken Rußschicht überzogen, wie mir der junge Mann von der Verwaltung erzählte, mit dem ich wegen des röhrenden Ventilators im Bad gesprochen habe. Zwei Jahre habe das Gebäude leer gestanden, bevor es von einem Investor gekauft und renoviert worden ist, und ich fragte mich, ob die einstmals schwarze Rußschicht im Inneren in irgendeinem Zusammenhang zur blütendweißen Fassade des heutigen Gebäudes steht. Offenbar hat mich mein Gefühl aber nicht getrogen, denn der Bibliothekar des Literaturhauses erzählte mir, die Anwohner seien nicht gut auf die Eigentümer zu sprechen, weil die Wohnungen mittlerweile nur an Airbnb-Gäste vermietet würden. Ich schäme mich also immer ein bisschen, wenn ich das Gebäude betrete. Andererseits fällt es mir schwer, das Schwimmbad, die Sauna, die Dachterrasse, die schöne Küche und das sehr gemütliche Schlafzimmer zu verachten.
Denkmal für den ersten Highway Kanadas
Jetzt aber zur Stadt selbst. In der ersten Woche bin ich viel herumgelaufen, habe fotographiert, habe die vielen Inschriften an Denkmälern, Skulpturen, Plätzen gelesen, viele zweisprachig in Englisch und Französisch, die jüngeren nur noch in Französisch, denn seit 1977 ist Französisch die alleinige Amtssprache in Québec. Es geht bei den Denkmälern um Québecer Geschichte und Kultur. Die nationale Identität ist ein alles beherrschendes Thema. (Québec ist innerhalb Kanadas offiziell als Nation anerkannt.) Dazu dann nächste Woche mehr.
Zwei Geschichten haben mich bei meinen Streifzügen besonders beschäftigt. Am Portal St. Jean hat der erste kanadische Highway ein eigenes Denkmal bekommen. Na gut, es war noch keine Autobahn damals, aber der Chemin du Roy, der am 5. August 1734 eingeweiht (inaugurated wie bei einer Präsidentenvereidigung) wurde, war tatsächlich die erste Verbindungsstraße von Québec nach Montreal. Ich bin seit jeher fasziniert von Autobahnen als Orten des Dazwischen, ephemeren Orten, nicht hier, nicht da. Der französische Soziologe Marc Augé hat diesen non-lieux bereits in den 1990er-Jahren ein Buch gewidmet. Sie spielen in unserem Leben eine große Rolle, wir wissen es nur nicht. Für meine persönliche Geschichte aber waren Autobahnen eine wichtige Möglichkeit, der Provinz und allem, was damit zusammenhing, zu entkommen.
Trotzige Gesänge wider den Tod
Die zweite Geschichte spielte sich am Cape Diamond auf den Plaines d'Abraham ab, einem ehemaligen Schlachtfeld im Siebenjährigen Krieg, im Verlaufe dessen die Franzosen Québec an die Briten verloren. Der Cape Diamond wurde im 17. Jahrhundert Schauplatz einer fürchterlichen Racheaktion der Wyandat, die sich mit den Kanadiern verbündet hatten. Sie verbrannten an diesem Ort Krieger eines verfeindeten Irokesenstammes bei lebendigem Leib. But every burning iroquois sang his defiant death-song quite unflinchingly till his last dying breath, so steht es auf der Gedenktafel. Laut Gedenktafel sei die Rache übrigens „gerechtfertigt“ gewesen, eine Bemerkung, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Plaines d'Abraham
Cabinets d'Ecriture in der Kirche
Am Donnerstag und Freitag habe ich meine Gastgeber*innen vom Maison de la Littérature besucht. Bereits seit den 1940er-Jahren ist in der ehemaligen Methodistenkirche eine Bibliothek untergebracht, die seit jeher gut genutzt wurde; seit der Renovierung vor sechs Jahren aber haben sich die Besucherzahlen verdoppelt. Es ist einfach ein Ort, an dem man sich gerne aufhält. Draußen kann man – wie übrigens an vielen Orten in der Stadt – sitzen, lesen, Selbstmitgebrachtes essen und trinken, Leute treffen, in der Sonne chillen. Verwaltet wird das Haus vom L'Institut Canadien de Québec (L'ICQ), das neben dem Haus der Literatur für 25 weitere Bibliotheken in der Stadt zuständig ist. La Maison de la Littérature ist aber nicht nur eine Bibliothek, sondern auch ein Ort, an dem man arbeiten (in den sogenannten Cabinets d'Écriture, die auch ich zum Schreiben nutzen darf, juchuu!) und sogar wohnen kann. Im Oktober richtet das L'ICQ dann das jährliche Literaturfestival Québec en lettres aus, das an verschiedenen Orten in der Stadt stattfinden wird, vergleichbar mit der Kölner Literaturnacht, und aus diesem Grund habe ich gleich mal unauffällig eine Tasche der Kölner Literaturnacht auf diesem gemütlichen Sessel trapiert.
Maison de la Littérature
Und zum Schluss kommt noch eine Bilderstrecke von den vielen Sitzgelegenheiten in der Stadt, die individuell und liebevoll gestaltet sind und an denen kein Konsumierzwang herrscht. Sie bestimmen die Atmosphäre, die Ruhe und Freundlichkeit der Stadt entscheidend mit. Übrigens werden sie ebenfalls lieux ephemères genannt, flüchtige Orte. Sie sind die Autobahnraststätten der Stadt, nur schöner und ohne Tanken.
Sitzen in Québec
Bonne journée (und setzt euch hin, wenn ihr müde seid)!