Info

#SiXHOURSLATER. Bericht aus Québec (1)

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2021/klein/Tunnel_Bleier_500.jpg
Winter 2021. Licht im Tunnel, aber was kommt danach? © Bleier

Im Rahmen der seit 1989 bestehenden Partnerschaft zwischen Bayern und Québec vergibt der Freistaat Bayern jedes Jahr ein Aufenthaltsstipendium für Schriftsteller*innen, Comic/Graphic Novel-Künstler*innen sowie literarische Übersetzer*innen. Die bayerische Stipendiatin bzw. den bayerischen Stipendiaten erwartet ein Aufenthalt von Mitte September bis Mitte November in der kanadischen Stadt Québec, bekannt für ihre dynamische Kreativ- und Literaturszene. Die diesjährige Stipendiatin ist die aus Regensburg stammende Autorin Ulrike Anna Bleier. Im Literaturportal Bayern wird sie regelmäßig über ihren Aufenthalt hier berichten.

*

Mai 2020: Im Display meines Handys taucht eine Telefonnumer mit einer mir unbekannten Vorwahl auf. Es ist die Zeit, in der alles, was nicht auf den ersten Blick erklärbar ist, mit Corona zusammenhängen muss. Ich rufe panisch zurück, aber es ist kein Krankenhaus, es ist das Oberpfälzer Künstlerhaus in Schwandorf. Glückwunsch, Sie haben das Kanadastipendium gewonnen. Ich muss mich erstmal setzen.

Am nächsten Tag wache ich auf mit Kanada, Kanada im Ohr. Es hätte auch Québec, Québec summen können, aber drei Silben mit einem mütterlichen A am Ende hören sich melodischer an, zumindest für den Erstkontakt mit der anderen Seite der Welt.

Aber Québec und Kanada, das ist nicht dasselbe, non, non, pas du tout!

Im kalten langen Winter

Im Herbst sollte es schon los gehen, der Plan ist, in Québec einen Roman namens „Spukhafte Fernwirkung“ zu Ende zu bringen, aber noch immer ist Corona allgegenwärtig, also sind wir uns schnell einig, den Aufenthalt auf Frühling 2021 zu verschieben, once that uncommon adventure will be behind us, wie Dominique Lemieux, der Leiter des Québecer Maison de la Littérature, schreibt, in diesem zuversichtlichen Tonfall, in dem wir im Frühjahr 2020 alle einander schreiben.

Der Sommer vergeht, der Herbst kommt, in der Zeitung erscheint mein Artikel über die nicht stattgefundende Reise, in dem ich vom Sankt-Lorenz-Strom träume, von weißen Treppen, von Crepes in Québec, von grünen Wiesen und Wäldern in Labrador. In Kanada kann man zu diesem Zeitpunkt nicht einreisen, zumindest nicht als nicht-systemrelevantes europäisches Ich. Das wird nun so bleiben bis zum 7. September 2021. Zu diesem Zeitpunkt kann sich das niemand vorstellen. Im kalten langen Winter hält mich nichts bei Laune, außer dem Summen in meinem Ohr, wenn ich aufwache, und das ist jetzt schon drängender geworden: Québec, Québec.

Kubistisches Kunstwerk, hintereinander geschnitten

Kebec heißt in der Sprache der Algonkin da wo der Fluss enger wird. Die Algonkin (auch: Algonquin) sind ein Stamm nordamerikanischer Ureinwohner*innen, die zu den First Nations of Canada gehören, die Algonkin-Sprachfamilie ist eine der weitestverbreiteten Nordamerikas. Kebec ist aber nicht nur eine poetische Bezeichnung für einen realen Ort, es ist auch eine zutreffende Beschreibung. Denn da, wo der Sankt-Lorenz-Strom, von Montréal und den Großen Seen her kommend, ganz eng wird und an seiner engsten Stelle nur noch 640 Meter misst und unmittelbar danach drei sehr überraschende Dinge tut: 1. sich zu teilen und um eine Insel – die Ile D'Orleans – herumzufließen und 2. sich nach seiner Wiedervereinigung trichterförmig zu verbreitern, um 3. auf 660 Kilometern als sogenannter Ästuar* dem Atlantik entgegenzuströmen – genau da liegt Québec-City. Zwischen Montreal und Québec-City sieht der Fluss aus wie ein Geburtskanal und das Herumfließen um die Insel hat etwas von einer Vulva und beide Ereignisse als kubistisches Kunstwerk hintereinander geschnitten weisen meiner Meinung nach klar daraufhin, dass hier eine Geburtstunde stattfindet. Und das permanent. Nur wissen wir nicht von was.

* Versuch, den Unterschied zwischen einem Flußdelta und einem Ästuar zu erklären: Im Delta ist der Fluss Fluss, bis sein Lauf ins Meer mündet. Sein Pegel liegt teilweise unter dem Meeresspiegel, wodurch der Fluss zum Meer hin immer flacher wird. Es entstehen Sandbänke, die die Strömung verlangsamen, der Fluss legt sich sozusagen seine eigenen Steine in den Weg. Ästuare dagegen werden unter dem Einfluss der Gezeiten gebildet. Die Flut schwemmt Salzwasser, das schwerer ist als Süßwasser, in den Ästuar und unterspült den Fluss mit Meer. Die Pendelbewegungen der Tiden sorgen für eine starke Strömung. Ästuare sind Hybride, sie fließen wie Flüsse und schmecken wie Ozean.

Verzögerung oder Gleichzeitigkeit

Dieser Text sollte eigentlich nur ein Intro werden, aber jetzt sind wir schon mittendrin. Ich mache es kurz: Der dritte Versuch startet am 13. September. Das ist heute. Die Einreisebedingungen habe ich alle erfüllt, und ich hoffe, die kanadischen Behörden in Montréal sehen das genauso.

Der Québec-Blog hätte auch ONEyEARLATER heißen können. Als hätte dieses letzte Jahr einen Ästuar gebildet, der nach Salzwasser schmeckt. Doch „Spukhafte Fernwirkung“ ist mittlerweile zu Ende geschrieben und ich will am Sankt-Lorenz-Strom über ganz Konkretes schreiben, ich will über die engen Stellen schreiben, über die Inseln, die Geburtskanäle. Und so nenne ich den Blog für die nächsten zwei Monate doch lieber SiXHOURSLATER, denn das beschreibt keine Verzögerung, sondern eine Gleichzeitigkeit; alles wird – hier wie da – zur selben Zeit passieren und dennoch wird es hier sechs Stunden später sein. Da ist dann, wo ich bin. Auf den Sankt-Lorenz-Strom umgerechnet bedeutet diese Differenz vielleicht genau die 640 Meter, die er an der engsten Stelle, am Kebec misst. Es ist eine Gleichzeitigkeit, die ein Dazwischen hat, zwischen Fluss und Meer, zwischen hier und da, zwischen dann und wann.