Destruktion des Porträteffekts. Bildpolitik in Oskar Panizzas „Imperjalja“
Oskar Panizza (1853-1921) war einer der kontroversesten Autoren seiner Generation. Bereits zu seinen Lebzeiten ebenso bewundert wie umkämpft, provozierten Panizzas Schriften über seinen Tod hinaus; die breite öffentliche Anerkennung blieb jedoch aus. 2021 jährt sich der Todestag des bayerischen Provokateurs zum 100. Mal. Der folgende Beitrag wird im Kontext einer von Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs und Dr. Nike Thurn kuratierten digitalen Ringvorlesung zu Panizzas 100. Todestag herausgegeben in der Oskar Panizza-Reihe des Literaturportals Bayern.
In ihrer 2021 erschienenen Studie Paranoia und technisches Bild. Fallstudien zu einer Medienpathologie (de Gruyter) untersucht die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Elena Meilicke Panizzas wenig erforschtes Imperjalja-Fragment, das dieser in den Jahren 1903/4 in Paris niederschrieb – kurz vor seiner Einweisung in eine Irrenanstalt und anschließender Entmündigung. Panizza entwickelt hier ein Verschwörungsnarrativ, in dessen Mittelpunkt der deutsche Kaiser Wilhelm II. steht. Dem Text hat er eine Reihe fotografischer Abbildungen vom Kaiser beigefügt, die Meilicke auf ihre medienreflexive und macht-analytische Dimension hin befragt. Wir präsentieren einen Auszug aus dem Buch.
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Des Kaisers neue Kleider
Abb. 1 und 2: Doppelseiten aus Panizzas Imperjalja-Manuskript mit eingeklebten Abbildungen von Wilhelm II. im Kostüm. Alle Abbildungen stammen aus dem Manuskript Ms. germ. qu. 1838 der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin / Stiftung Preußischer Kulturbesitz und werden hier mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin veröffentlicht.
Zu sehen ist der Kaiser in Verkleidung, mit kniehohen Stulpenstiefeln, lockiger Langhaarperücke und blendend weißem Spitzenkragen. Er posiert, so lautet der knappe Kommentar, mit dem Panizzas Text auf die Bilderserie Bezug nimmt, „im Kostüm Karl’s X“ – also als jener schwedische König Karl X., der zwischen 1654 und 1660 geherrscht hat und vor allem für seine militärischen Erfolge während des Dreißigjährigen Krieges bekannt ist. Um die Taille hat Wilhelm als Karl eine Schärpe aus hellem, gemusterten Stoff geschlungen; ein dunkler, breitkrämpiger Hut mit großer Feder, weiße Handschuhe und ein Degen dienen als weitere Accessoires. […]
Die Bilder vom kostümierten Kaiser, der in gerüschter Bluse und fluffigem Spitzenkragen posiert, greifen einen um 1900 weit verbreiteten Topos anti-monarchischer Kritik auf, der sich an Wilhelms notorischer Prunksucht und Theatralität entzündet. Diese Kritik findet auch an anderen Stellen der Imperjalja ihren Widerhall, etwa wenn Panizza einen Vorfall kolportiert, der sich auf einer Schiffsreise nach Schottland ereignet haben soll:
Während dieser Nachtfahrt wechselte der Kaiser, obwol kein Mensch anwesend war, vor dem ein solcher Garderobewechsel angebracht gewesen wäre, ca 5–6 mal die Uniform, und zwar legte er die sämtlichen fremdherlichen Admiralsscharschen, deren Inhaber er war – italjenischer Admiral, rußischer Admiral, englischer Admiral etc – nacheinander an, und komandirte dann, während der Nacht, entsprechende Ewolozjonen der auf dem Kane postirten Mannschaften.[1]
Für die Dauer einer Nacht nimmt die vom Kaiser heiß ersehnte eigene Flotte hier Gestalt an, weil Uniformen erlauben, den Flottenkommandeur zu mimen. Die kolportierte Begebenheit stellt die Imperjalja in die lange Tradition jener Erzählungen, die sich um das Motiv „Des Kaisers neue Kleider“ mit Fragen von Macht und Herrschaft auseinandersetzen – und genau das tun auch die Fotografien vom verkleideten Kaiser.
Hans Christian Andersens gleichnamiges Märchen von 1837 ist nur das bekannteste Beispiel einer reichen Stofftradition, die bis in die mittelalterliche Schwankliteratur zurückreicht. Diese Erzählungen verknüpfen die Frage nach der Souveränität und Macht des Herrschers mit der nach seinem Gewand und lenken so den Blick auf die materiellen und vestimentären Facetten von Herrschaft, die auch im Begriff Investitur anklingen. In der Investitur, die das Ritual der Amtseinsetzung bezeichnet, stecken das Kleid (lat. vestis) und der Akt der Einkleidung. Bei Andersen fehlt das Kleid, der Kaiser ist nackt, und sein Ansehen verdankt sich allein dem kollektiven und entschlossenen Als-ob seiner Untertanen. Damit richtet Des Kaisers neue Kleider „den Blick auf den leeren Grund politischer Herrschaft“ und legt „das Imaginäre politischer Herrschaft“ offen.[2]
Mit Derrida lässt sich Andersens Märchen vorwerfen, dass es dem Idol der „nackten Wahrheit“, der „Wahrheit als Nacktheit“ anhängt: „Exhibition, Bloßlegung, Entkleidung, Entschleierung, man kennt die Gymnastik: Das ist die Metapher der Wahrheit.“[3] Panizzas Bildpolitik geht anders vor. Zwar rücken die Imperjalja, wie Andersens Märchen, des Kaisers Kleider in den Blick und weisen diese dezidiert als Ver-Kleidungen aus; aber sie werfen dabei, anders als das Märchen, nicht das Gewicht der Nacktheit in die Waagschale und vollführen keinen „political striptease“.[4] Stattdessen zelebriert Panizzas Bildauswahl ein rüschenhaftes Zuviel an Kleidung, einen vestimentären Exzess, der sich in den Vordergrund spielt und zur Hauptsache macht. Ein Gewölk aus weißer Spitze umschmeichelt das Gesicht des Kaisers, aus den weiten, geschlitzten Ärmeln blitzt keck noch mehr weiße Spitze hervor, um die kaiserlichen Lenden ist dramatisch eine üppige Stoffbahn geschlungen – Panizzas Bildauswahl feiert fetischistisch-fröhliche Zurschaustellung, ein Hauch von Queering liegt in der Luft: „Der Fetischismus hat den Hang zum augenzwinkernden Tun-als-ob, zu Verkleidungen, Maskeraden, Scharaden.“[5] Statt auf aggressive Bloßstellung und Zergliederung setzen die Bilder vom verkleideten Kaiser auf „das Element des Komödiantischen im Fetischismus“[6] und mobilisieren dabei die urfetischistische Erkenntnis, dass unter Umständen nichts so sehr enthüllt wie eine schöne Verhüllung.[7]
Panizzas Bilder setzen Rüschiges und Plüschiges in Szene, Sprengkraft haben sie trotzdem. Die Bilder, die Panizza ausgewählt hat, lassen, indem sie Wilhelm II. in Kostüm und Pose eines Schwedenkönigs aus dem siebzehnten Jahrhundert zeigen, den deutschen Kaiser als absolutistischen Herrscher auftreten. Damit überblenden sie nicht nur unterschiedliche Epochen zu einer anachronistischen Zeitschichtung.[8] Sie setzen sich darüber hinaus zur Bildgattung des absolutistischen Herrscherporträts in Beziehung. Für den Kunsthistoriker Louis Marin, der zur politischen Repräsentation im französischen Absolutismus geforscht hat, ist das absolutistische Herrscherporträt eine gewichtige Angelegenheit: „Was also ist ein König? Er ist ein Königsporträt, allein das macht ihn zum König. [...] Das Porträt des Königs produziert den König als absoluten Monarchen.“[9] Das Porträt des absolutistischen Königs ist demnach – an diesem Punkt stellt Marin das klassische Bildverständnis der Mimesis auf den Kopf – kein Abbild, das irgendeiner vorausliegenden Realität oder einem außerbildlichen Referenten nachgeordnet wäre. Vielmehr werden dieser Referent, der absolutistische Monarch, und diese Realität, die absolute Macht, erst im und durch das Bild geschaffen. Politische Macht ist Marin zufolge ein Repräsentationseffekt und der König in letzter Instanz ein „Porträteffekt“.[10] Die Funktionsweise dieses Porträteffekts beschreibt Marin, der seine Überlegungen anhand des bekannten Porträts Louis XIV von Hyacinthe Rigaud (1701/02) entwickelt, analog zur eucharistischen Szene: „Wahrhaft König, will sagen Monarch, ist der König nur in Bildern. Sie sind seine reale Präsenz: ein Glaube an die Wirksamkeit und Operativität seiner ikonischen Zeichen ist obligatorisch, oder der Monarch entleert sich mangels Transsubstantiation all seiner Substanz“.[11] Das eucharistische Modell erscheint demnach als ein auch juridisch und politisch wirksames, während umgekehrt die politische Repräsentation einer Art Bildtheologie unterworfen gedacht wird.
Abb. 3: Doppelseite aus Panizzas Imperjalja-Manuskript mit eingeklebter Abbildung von Wilhelm II. im Kostüm.
Vor dem Hintergrund von Marins Überlegungen zu einer monarchischen Macht, die in letzter Konsequenz nichts anderes als ein Bildeffekt ist, kann Panizzas karnevaleske Bildauswahl als Intervention begriffen werden, der es um die Destruktion des Porträteffekts zu tun ist. Als verkleideter wird der kaiserliche Körper zum Schauplatz einer Travestie, die am bildtheologischen Kern des Herrscherporträts kratzt. Weil in Panizzas Bildern die königlichen Insignien – Degen und Hut, Kragen und Handschuhe – weniger von Macht als vielmehr von Maskierung zeugen, durchkreuzen und entkräften sie den Glauben an die Wirksamkeit der ikonischen Zeichen des Souveräns. Es geht darum, mit der Wirkmächtigkeit des kaiserlichen Bildes auch dessen politische Macht in Frage zu stellen.
Marins Überlegungen zum absolutistischen Herrscherbild mögen sich nicht umstandslos auf die herrschaftsikonografischen Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich und auf Darstellungen des letzten deutschen Kaisers übertragen lassen: Fotografien sind keine Ölgemälde, eine konstitutionelle Monarchie ist kein absolutistischer Staat, und es bleibt eine offene Frage, inwieweit das eucharistische Modell auch im protestantischen Preußen bildtheologisch wirksam gewesen sein mag. Dass das Herrscherbild auch im Deutschen Kaiserreich von eminenter politischer Bedeutung gewesen ist, lässt sich jedoch an einer Stellungnahme des Ministeriums des Innern vom 17. September 1908 ablesen:
Der Erwerb von Bildnissen Eurer Majestät [...] bildet eines der hauptsächlichen Mittel, durch welche auch der kleine Mann vaterländische und königliche Gesinnung zum Ausdruck bringen kann und zu bringen pflegt. Es ist deshalb politisch von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass gute Bildnisse [...] in möglichst großer Zahl hergestellt und möglichst billig vertrieben und verbreitet werden.[12]
Die Stellungnahme rückt mit der von oben angeordneten, massenhaften Zirkulation kaiserlicher Bilder nicht nur die Bedingungen der Möglichkeit von Panizzas Schneide- und Klebearbeiten in den Fokus, sondern deutet darüber hinaus an, warum Monarchiegegner wie Panizza so zielsicher den Porträteffekt ins Visier nehmen, warum die Destruktion dieses Porträteffekts so leicht und elegant von der Hand gehen kann; sie liegt schlicht in der Luft, oder genauer: sie liegt in den gewandelten technologischen und medialen Bedingungen des Herrscherbilds um 1900 mitbegründet.
Während Marin für den Absolutismus noch das theologisch aufgeladene „Mysterium“ eines „Porträt-Sakrament[s]“[13] in Anschlag bringen kann, dominiert 200 Jahre später in Preußen das „industrialisierte[ ] Herrscherbild“,[14] hergestellt in möglichst großer Zahl und möglichst billig – viele kleine Abbilder an Stelle des einen, überlebensgroßen und kostbaren Herrscherbildes. „[U]nverkennbar unterscheidet sich das Abbild, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau es in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jenem“,[15] schreibt Benjamin und bestimmt die Reproduktion von Bildern darüber hinaus als „Verkleinerungstechnik“.[16] Dass der von Marin beschriebene Porträteffekt unter den Bedingungen von Flüchtigkeit, Wiederholbarkeit und Verkleinerung ins Schleudern gerät, verwundert nicht.
Indem die Imperjalja den Porträteffekt als nicht mehr funktionstüchtigen ausstellen, indem sie seine Erosion weitertreiben und sichtbar machen, beweisen sie ein Gespür für die politico-theologischen Konsequenzen der massenhaften Reproduktion und Zirkulation von technischen Herrscherbildern. Wilhelm, so bemerken die Imperjalja, ist der „Monarch, der nicht mehr das ist, was er früher war“ – und sie führen dies zurück auf die Frage nach dem Bild des Herrschers, das um 1900 ein technisch hergestelltes und reproduziertes ist.[17]
Wilhelm-Ubu
Panizzas Fotografien vom kostümierten Kaiser erinnern an eine Bemerkung Benjamins über alte Familienfotoalben, „auf denen närrisch drapierte oder verschnürte Figuren [...] verteilt waren“, aufgenommen in Studioinszenierungen, „die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal schwankten“.[18] Die Verkleidungsbildchen fügen sich nicht zu einem Bild strahlender, erotischer, viriler und potenter Herrschaft und Herrlichkeit – mit diesen schönen Attributen hatte Marin den absolutistischen Herrscher geschmückt. Panizzas Wilhelm ist von geringerem Zuschnitt. An einer Stelle nimmt der Text auf die Fotografien vom kostümierten Kaiser Bezug, um die Aufmerksamkeit auf ein kleines Detail, ein „fisjonomische[s] Kennzeichen“, zu lenken: Wilhelms Unterlippe. Panizza deutet sie als Ausdruck von geistigem Hochmut und identifiziert, mit Verweis auf Darwins Ausdruck der Gemütsbewegungen (1872), das „Anspuken“ als „räsonablen Urakt“, in dessen Folge sich die hochmütige und menschenverachtende Unterlippe herausgebildet habe:
Durch die fortwährende Innervazjon vom Zentrum des Gemütslebens aus, im Sinne von „Spuk den an!“ oder „Du bist nicht mehr wert, als daß ich dich anspuke!“, fixirte sich dann dieße Unterlippe-Stellung. Wir finden sie beim Kaiser auf fast allen seinen Fotografien. Hier z.B. auch tipisch auf der kleinen Fotografie auf S. 99, wo er im Kostüm Karl’s X abgebildet ist.[19]
Es geht bei den Fotografien vom kostümierten Kaiser mit der brutalen Unterlippe nicht nur um eine verschmitzte Abdrift ins Karnevaleske, sondern darüber hinaus um die Erfassung und Darstellung eines bestimmten Machttypus, den man mit Foucault als ubuesk bezeichnen kann.
Abb. 4: Doppelseite aus Panizzas Imperjalja-Manuskript mit eingeklebter Abbildung von Wilhelm II. im Kostüm.
Foucault entwickelt den Begriff am Anfang seiner Vorlesung Die Anormalen: „Das Groteske oder [...] das ‚Ubueske‘ ist nicht einfach eine Kategorie der Verunglimpfung“, sondern „eine präzise Kategorie [...] historisch-politischer Analyse“, die sich dem Problem der unwürdigen Macht, der lächerlichen Autorität und grotesken Souveränität widmet.[20] Gemeint sind Formen von Macht und Souveränität, die zwar „durch Hassenswertes, Gemeines und Lächerliches disqualifiziert“ erscheinen, aber dennoch oder vielmehr gerade deshalb unbedingte Wirksamkeit entfalten. Denn für Foucault stellen ubuesker Terror und groteske Souveränität weniger einen Unfall oder eine Ausnahme dar, sondern sie sind als innerer Bestandteil von Machtmechanismen zu begreifen:
Wenn man die Macht ausdrücklich als abstoßend, gemein, ubuesk oder einfach lächerlich vorführt, geht es, wie ich denke, nicht darum, deren Wirkungen zu begrenzen [...]. Mir scheint es im Gegenteil darum zu gehen, eindeutig die Unumgänglichkeit und Unvermeidbarkeit der Macht vorzuführen, die auch dann noch in aller Strenge und in einer äußerst zugespitzten gewaltsamen Rationalität funktioniert, selbst wenn sie in den Händen von jemandem liegt, der tatsächlich disqualifiziert wird.[21]
Es liegt also eine gewisse Logik in der Figur des lächerlichen Herrschers. Sie übt eine Funktion aus, die auf die Maximierung von Machteffekten zielt: „Die Macht verlieh sich selbst dieses Bild, von jemandem auszugehen, der theatralisch gekleidet war und wie ein Clown, wie ein Hanswurst aussah“, schreibt Foucault über das Groteske bei Mussolini, das „absolut Teil der Mechanik der Macht“ gewesen sei.[22] Die theatralisch gekleidete Macht, der Souverän, der wie ein Clown oder Hanswurst aussieht – genau darum geht es in Panizzas Bildern vom verkleideten Wilhelm. In ihnen verkörpert und manifestiert sich die Souveränität im Modus des Theatralen, Hanswurstigen und Clownesken, und man kann die Imperjalja insofern als Analytik der Macht begreifen, die sich am Problem des Ubuesken entzündet. […]
Fragen lächerlicher Souveränität und ubuesker Macht haben Panizza schon vor den Imperjalja beschäftigt. Bereits 1898 legt er mit dem Drama Nero einen Text vor, der sich just jenem römischen Kaiser widmet, der als „erste große Figur infamer Souveränität“ gelten kann; das Stück entfaltet damit Urszenen eines Ubuesken, das Foucaults Einschätzung nach seine Ursprünge in der römischen Kaiserzeit hat: „Von Nero bis Heliogabal wurde [...] dieses Räderwerk grotesker Macht und infamer Souveränität im Römischen Reich dauerhaft ins Werk gesetzt“; es gehört gewissermaßen „zum Funktionieren der kaiserlichen Macht in Rom [...], in den Händen eines verrückten Histrionen zu liegen“.[23] Panizzas Regieanweisungen charakterisieren den römischen Kaiser als „jung, fett, als abgelebte[n] Dandy“, dessen Schlossgarten zwar von menschlichen Fackeln erleuchtet wird, der aber gleichzeitig wie ein verzogenes Kind auftritt, anspruchsvoll, ängstlich und näppisch: „Wischi-waschi! – Kling-Klang!“, fährt er seinem Philosophen Seneca über den Mund.[24] Panizzas Nero kann als eine Parodie auf Wilhelm II. gelesen werden, die sich am Vorbild von Ludwig Quiddes Caligula. Eine Studie über den römischen Cäsarenwahnsinn von 1894 orientiert, einer ebenfalls kaum verhüllten Satire über Wilhelm II., in der es unter anderem heißt: „Das Grausige und das Lächerliche grenzen hier hart aneinander“ und schlagen „gar leicht ins Kindlich-Komische um“[25] – eine treffende Umschreibung infamer Souveränität und grotesker, ubuesker Macht.
Es ist also ein ganzes Diskursnetz, das sich in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts um die Figur des ubuesken Souveräns spannt und in dem die Monarchiekritik der Imperjalja verortet werden muss.
Abb. 5: Auftaktdoppelseite aus Panizzas Imperjalja-Manuskript mit eingeklebter Abbildung von Wilhelm II.
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Elena Meilicke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medientheorie an der Universität der Künste Berlin und arbeitet als Redaktionsassistenz für die Zeitschrift für Medienwissenschaft. Sie schreibt regelmäßig zu Film- und Medienthemen für die Zeitschriften Cargo,Texte zur Kunst und Merkur.
[1] Oskar Panizza: Imperjalja. In Textübertragung herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Jürgen Müller. Hürtgenwald 1993, S. 43. Alle folgenden Zitate aus den Imperjalja beziehen sich auf diese Ausgabe. Panizza hat eine eigene, phonetische Schreibweise entwickelt, die in allen Zitaten unverändert übernommen wird.
[2] Thomas Frank, Albrecht Koschorke und Susanne Lüdemann (Hg.): Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte. Bilder. Lektüren. Frankfurt a. M. 2002, S. 9.
[3] Jacques Derrida: Verstohlene Prätexte. In: ders.: Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits. 2. Lieferung. Berlin 1980, S. 185–192, hier S. 187.
[4] Louis Marin: The Portrait of the King’s Glorious Body. In: ders.: Food for Thought. Baltimore 1997, S. 189–217, hier S. 216.
[5] Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg 2006, S. 408.
[6] Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 408.
[7] Dieser Zusammenhang spielt in mehreren Texten Panizzas eine Rolle. Vgl. Oskar Panizza: Die Kleidung der Frau, ein erotisches Problem. In: ders.: Mama Venus. Texte zu Religion, Sexus und Wahn, hg. von Michael Bauer. Hamburg 1992, S. 157–172. Für weitere literarische Auseinandersetzungen mit kleidungsfixierten Fetischismen vgl. Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz sowie ders.: Ein scandalöser Fall. In: ders.: Der Korsettenfritz. Gesammelte Erzählungen, München 1981, S. 203–222 sowie 230–264. Vgl. Renate Werner: Geschnürte Welt. Zu einer Fallgeschichte von Oskar Panizza. In: Bettina Gruber und Gerhard Plumpe (Hg.): Romantik und Ästhetizismus: Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Würzburg 1999, S. 213–233.
[8] Hinzu kommt ein weiterer Anachronismus: Wie eine Signatur in der unteren rechten Bildecke verrät, sind diese Bilder 1886 aufgenommen worden, zwei Jahre vor Wilhelms Thronbesteigung im Jahr 1888; sie zeigen den Kaiser also als Kronprinzen und Noch-nicht-Kaiser.
[9] Louis Marin: Das Porträt des Königs. Berlin/Zürich 2005, S. 352 und 344. Für eine gute Einführung zu Marin vgl. Vera Beyer, Anselm Haverkamp und Jutta Voorhoeve (Hg.): Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin. München 2006.
[10] Marin: Das Porträt des Königs, S. 24.
[11] Marin: Das Porträt des Königs, S. 15, kursiv im Original.
[12] Zit. nach Franziska Windt: Majestätische Bilderflut. Die Kaiser in der Photographie. In: Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hg.): Die Kaiser und die Macht der Medien. Berlin 2005, S. 67–97. Vgl. auch Matthias Bruhn: Bildwirtschaft. Verwaltung und Verwertung der Sichtbarkeit. Weimar 2003, insbesondere das Kapitel: Im Kostüm der Sichtbarkeit. Der Kaiser geht ins Fotostudio, S. 113–118.
[13] Marin: Das Porträt des Königs, S. 338.
[14] Klaus-D. Pohl: Der Kaiser im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Wilhelm II. in Fotografie und Film. In: Hans Wilderotter und Klaus-D. Pohl (Hg.): Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil. München 1991, S. 9–18, hier S. 14.
[15] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: ders.: Medienästhetische Schriften, hg. von Detlev Schöttker. Frankfurt a. M. 2002, S. 351–383, hier S. 357.
[16] Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: ders.: Medienästhetische Schrif- ten, hg. von Detlev Schöttker. Frankfurt a. M. 2002, S. 300–324, hier S. 312.
[17] Panizza: Imperjalja, S. 77.
[18] Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, S. 306.
[19] Panizza: Imperjalja, S. 97.
[20] Foucault: Die Anormalen. Frankfurt a. M. 2007, S. 28.
[21] Foucault: Die Anormalen, S. 30.
[22] Foucault: Die Anormalen, S. 29.
[23] Foucault: Die Anormalen, S. 28 und 29.
[24] Oskar Panizza: Nero. Tragödie in fünf Aufzügen. Zürich 1898, S. 6 und 59.
[25] Ludwig Quidde: Caligula. Eine Studie über den römischen Cäsarenwahnsinn. In: ders.: Caligula. Schriften über Militarismus und Pazifismus, hg. von Hans-Ulrich Wehler. Frankfurt a. M. 1977, S. 61–80, hier S. 70. Panizza erwähnt Quidde explizit, siehe Panizza: Imperjalja, S. 56.
Destruktion des Porträteffekts. Bildpolitik in Oskar Panizzas „Imperjalja“>
Oskar Panizza (1853-1921) war einer der kontroversesten Autoren seiner Generation. Bereits zu seinen Lebzeiten ebenso bewundert wie umkämpft, provozierten Panizzas Schriften über seinen Tod hinaus; die breite öffentliche Anerkennung blieb jedoch aus. 2021 jährt sich der Todestag des bayerischen Provokateurs zum 100. Mal. Der folgende Beitrag wird im Kontext einer von Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs und Dr. Nike Thurn kuratierten digitalen Ringvorlesung zu Panizzas 100. Todestag herausgegeben in der Oskar Panizza-Reihe des Literaturportals Bayern.
In ihrer 2021 erschienenen Studie Paranoia und technisches Bild. Fallstudien zu einer Medienpathologie (de Gruyter) untersucht die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Elena Meilicke Panizzas wenig erforschtes Imperjalja-Fragment, das dieser in den Jahren 1903/4 in Paris niederschrieb – kurz vor seiner Einweisung in eine Irrenanstalt und anschließender Entmündigung. Panizza entwickelt hier ein Verschwörungsnarrativ, in dessen Mittelpunkt der deutsche Kaiser Wilhelm II. steht. Dem Text hat er eine Reihe fotografischer Abbildungen vom Kaiser beigefügt, die Meilicke auf ihre medienreflexive und macht-analytische Dimension hin befragt. Wir präsentieren einen Auszug aus dem Buch.
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Des Kaisers neue Kleider
Abb. 1 und 2: Doppelseiten aus Panizzas Imperjalja-Manuskript mit eingeklebten Abbildungen von Wilhelm II. im Kostüm. Alle Abbildungen stammen aus dem Manuskript Ms. germ. qu. 1838 der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin / Stiftung Preußischer Kulturbesitz und werden hier mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin veröffentlicht.
Zu sehen ist der Kaiser in Verkleidung, mit kniehohen Stulpenstiefeln, lockiger Langhaarperücke und blendend weißem Spitzenkragen. Er posiert, so lautet der knappe Kommentar, mit dem Panizzas Text auf die Bilderserie Bezug nimmt, „im Kostüm Karl’s X“ – also als jener schwedische König Karl X., der zwischen 1654 und 1660 geherrscht hat und vor allem für seine militärischen Erfolge während des Dreißigjährigen Krieges bekannt ist. Um die Taille hat Wilhelm als Karl eine Schärpe aus hellem, gemusterten Stoff geschlungen; ein dunkler, breitkrämpiger Hut mit großer Feder, weiße Handschuhe und ein Degen dienen als weitere Accessoires. […]
Die Bilder vom kostümierten Kaiser, der in gerüschter Bluse und fluffigem Spitzenkragen posiert, greifen einen um 1900 weit verbreiteten Topos anti-monarchischer Kritik auf, der sich an Wilhelms notorischer Prunksucht und Theatralität entzündet. Diese Kritik findet auch an anderen Stellen der Imperjalja ihren Widerhall, etwa wenn Panizza einen Vorfall kolportiert, der sich auf einer Schiffsreise nach Schottland ereignet haben soll:
Während dieser Nachtfahrt wechselte der Kaiser, obwol kein Mensch anwesend war, vor dem ein solcher Garderobewechsel angebracht gewesen wäre, ca 5–6 mal die Uniform, und zwar legte er die sämtlichen fremdherlichen Admiralsscharschen, deren Inhaber er war – italjenischer Admiral, rußischer Admiral, englischer Admiral etc – nacheinander an, und komandirte dann, während der Nacht, entsprechende Ewolozjonen der auf dem Kane postirten Mannschaften.[1]
Für die Dauer einer Nacht nimmt die vom Kaiser heiß ersehnte eigene Flotte hier Gestalt an, weil Uniformen erlauben, den Flottenkommandeur zu mimen. Die kolportierte Begebenheit stellt die Imperjalja in die lange Tradition jener Erzählungen, die sich um das Motiv „Des Kaisers neue Kleider“ mit Fragen von Macht und Herrschaft auseinandersetzen – und genau das tun auch die Fotografien vom verkleideten Kaiser.
Hans Christian Andersens gleichnamiges Märchen von 1837 ist nur das bekannteste Beispiel einer reichen Stofftradition, die bis in die mittelalterliche Schwankliteratur zurückreicht. Diese Erzählungen verknüpfen die Frage nach der Souveränität und Macht des Herrschers mit der nach seinem Gewand und lenken so den Blick auf die materiellen und vestimentären Facetten von Herrschaft, die auch im Begriff Investitur anklingen. In der Investitur, die das Ritual der Amtseinsetzung bezeichnet, stecken das Kleid (lat. vestis) und der Akt der Einkleidung. Bei Andersen fehlt das Kleid, der Kaiser ist nackt, und sein Ansehen verdankt sich allein dem kollektiven und entschlossenen Als-ob seiner Untertanen. Damit richtet Des Kaisers neue Kleider „den Blick auf den leeren Grund politischer Herrschaft“ und legt „das Imaginäre politischer Herrschaft“ offen.[2]
Mit Derrida lässt sich Andersens Märchen vorwerfen, dass es dem Idol der „nackten Wahrheit“, der „Wahrheit als Nacktheit“ anhängt: „Exhibition, Bloßlegung, Entkleidung, Entschleierung, man kennt die Gymnastik: Das ist die Metapher der Wahrheit.“[3] Panizzas Bildpolitik geht anders vor. Zwar rücken die Imperjalja, wie Andersens Märchen, des Kaisers Kleider in den Blick und weisen diese dezidiert als Ver-Kleidungen aus; aber sie werfen dabei, anders als das Märchen, nicht das Gewicht der Nacktheit in die Waagschale und vollführen keinen „political striptease“.[4] Stattdessen zelebriert Panizzas Bildauswahl ein rüschenhaftes Zuviel an Kleidung, einen vestimentären Exzess, der sich in den Vordergrund spielt und zur Hauptsache macht. Ein Gewölk aus weißer Spitze umschmeichelt das Gesicht des Kaisers, aus den weiten, geschlitzten Ärmeln blitzt keck noch mehr weiße Spitze hervor, um die kaiserlichen Lenden ist dramatisch eine üppige Stoffbahn geschlungen – Panizzas Bildauswahl feiert fetischistisch-fröhliche Zurschaustellung, ein Hauch von Queering liegt in der Luft: „Der Fetischismus hat den Hang zum augenzwinkernden Tun-als-ob, zu Verkleidungen, Maskeraden, Scharaden.“[5] Statt auf aggressive Bloßstellung und Zergliederung setzen die Bilder vom verkleideten Kaiser auf „das Element des Komödiantischen im Fetischismus“[6] und mobilisieren dabei die urfetischistische Erkenntnis, dass unter Umständen nichts so sehr enthüllt wie eine schöne Verhüllung.[7]
Panizzas Bilder setzen Rüschiges und Plüschiges in Szene, Sprengkraft haben sie trotzdem. Die Bilder, die Panizza ausgewählt hat, lassen, indem sie Wilhelm II. in Kostüm und Pose eines Schwedenkönigs aus dem siebzehnten Jahrhundert zeigen, den deutschen Kaiser als absolutistischen Herrscher auftreten. Damit überblenden sie nicht nur unterschiedliche Epochen zu einer anachronistischen Zeitschichtung.[8] Sie setzen sich darüber hinaus zur Bildgattung des absolutistischen Herrscherporträts in Beziehung. Für den Kunsthistoriker Louis Marin, der zur politischen Repräsentation im französischen Absolutismus geforscht hat, ist das absolutistische Herrscherporträt eine gewichtige Angelegenheit: „Was also ist ein König? Er ist ein Königsporträt, allein das macht ihn zum König. [...] Das Porträt des Königs produziert den König als absoluten Monarchen.“[9] Das Porträt des absolutistischen Königs ist demnach – an diesem Punkt stellt Marin das klassische Bildverständnis der Mimesis auf den Kopf – kein Abbild, das irgendeiner vorausliegenden Realität oder einem außerbildlichen Referenten nachgeordnet wäre. Vielmehr werden dieser Referent, der absolutistische Monarch, und diese Realität, die absolute Macht, erst im und durch das Bild geschaffen. Politische Macht ist Marin zufolge ein Repräsentationseffekt und der König in letzter Instanz ein „Porträteffekt“.[10] Die Funktionsweise dieses Porträteffekts beschreibt Marin, der seine Überlegungen anhand des bekannten Porträts Louis XIV von Hyacinthe Rigaud (1701/02) entwickelt, analog zur eucharistischen Szene: „Wahrhaft König, will sagen Monarch, ist der König nur in Bildern. Sie sind seine reale Präsenz: ein Glaube an die Wirksamkeit und Operativität seiner ikonischen Zeichen ist obligatorisch, oder der Monarch entleert sich mangels Transsubstantiation all seiner Substanz“.[11] Das eucharistische Modell erscheint demnach als ein auch juridisch und politisch wirksames, während umgekehrt die politische Repräsentation einer Art Bildtheologie unterworfen gedacht wird.
Abb. 3: Doppelseite aus Panizzas Imperjalja-Manuskript mit eingeklebter Abbildung von Wilhelm II. im Kostüm.
Vor dem Hintergrund von Marins Überlegungen zu einer monarchischen Macht, die in letzter Konsequenz nichts anderes als ein Bildeffekt ist, kann Panizzas karnevaleske Bildauswahl als Intervention begriffen werden, der es um die Destruktion des Porträteffekts zu tun ist. Als verkleideter wird der kaiserliche Körper zum Schauplatz einer Travestie, die am bildtheologischen Kern des Herrscherporträts kratzt. Weil in Panizzas Bildern die königlichen Insignien – Degen und Hut, Kragen und Handschuhe – weniger von Macht als vielmehr von Maskierung zeugen, durchkreuzen und entkräften sie den Glauben an die Wirksamkeit der ikonischen Zeichen des Souveräns. Es geht darum, mit der Wirkmächtigkeit des kaiserlichen Bildes auch dessen politische Macht in Frage zu stellen.
Marins Überlegungen zum absolutistischen Herrscherbild mögen sich nicht umstandslos auf die herrschaftsikonografischen Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich und auf Darstellungen des letzten deutschen Kaisers übertragen lassen: Fotografien sind keine Ölgemälde, eine konstitutionelle Monarchie ist kein absolutistischer Staat, und es bleibt eine offene Frage, inwieweit das eucharistische Modell auch im protestantischen Preußen bildtheologisch wirksam gewesen sein mag. Dass das Herrscherbild auch im Deutschen Kaiserreich von eminenter politischer Bedeutung gewesen ist, lässt sich jedoch an einer Stellungnahme des Ministeriums des Innern vom 17. September 1908 ablesen:
Der Erwerb von Bildnissen Eurer Majestät [...] bildet eines der hauptsächlichen Mittel, durch welche auch der kleine Mann vaterländische und königliche Gesinnung zum Ausdruck bringen kann und zu bringen pflegt. Es ist deshalb politisch von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass gute Bildnisse [...] in möglichst großer Zahl hergestellt und möglichst billig vertrieben und verbreitet werden.[12]
Die Stellungnahme rückt mit der von oben angeordneten, massenhaften Zirkulation kaiserlicher Bilder nicht nur die Bedingungen der Möglichkeit von Panizzas Schneide- und Klebearbeiten in den Fokus, sondern deutet darüber hinaus an, warum Monarchiegegner wie Panizza so zielsicher den Porträteffekt ins Visier nehmen, warum die Destruktion dieses Porträteffekts so leicht und elegant von der Hand gehen kann; sie liegt schlicht in der Luft, oder genauer: sie liegt in den gewandelten technologischen und medialen Bedingungen des Herrscherbilds um 1900 mitbegründet.
Während Marin für den Absolutismus noch das theologisch aufgeladene „Mysterium“ eines „Porträt-Sakrament[s]“[13] in Anschlag bringen kann, dominiert 200 Jahre später in Preußen das „industrialisierte[ ] Herrscherbild“,[14] hergestellt in möglichst großer Zahl und möglichst billig – viele kleine Abbilder an Stelle des einen, überlebensgroßen und kostbaren Herrscherbildes. „[U]nverkennbar unterscheidet sich das Abbild, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau es in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jenem“,[15] schreibt Benjamin und bestimmt die Reproduktion von Bildern darüber hinaus als „Verkleinerungstechnik“.[16] Dass der von Marin beschriebene Porträteffekt unter den Bedingungen von Flüchtigkeit, Wiederholbarkeit und Verkleinerung ins Schleudern gerät, verwundert nicht.
Indem die Imperjalja den Porträteffekt als nicht mehr funktionstüchtigen ausstellen, indem sie seine Erosion weitertreiben und sichtbar machen, beweisen sie ein Gespür für die politico-theologischen Konsequenzen der massenhaften Reproduktion und Zirkulation von technischen Herrscherbildern. Wilhelm, so bemerken die Imperjalja, ist der „Monarch, der nicht mehr das ist, was er früher war“ – und sie führen dies zurück auf die Frage nach dem Bild des Herrschers, das um 1900 ein technisch hergestelltes und reproduziertes ist.[17]
Wilhelm-Ubu
Panizzas Fotografien vom kostümierten Kaiser erinnern an eine Bemerkung Benjamins über alte Familienfotoalben, „auf denen närrisch drapierte oder verschnürte Figuren [...] verteilt waren“, aufgenommen in Studioinszenierungen, „die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal schwankten“.[18] Die Verkleidungsbildchen fügen sich nicht zu einem Bild strahlender, erotischer, viriler und potenter Herrschaft und Herrlichkeit – mit diesen schönen Attributen hatte Marin den absolutistischen Herrscher geschmückt. Panizzas Wilhelm ist von geringerem Zuschnitt. An einer Stelle nimmt der Text auf die Fotografien vom kostümierten Kaiser Bezug, um die Aufmerksamkeit auf ein kleines Detail, ein „fisjonomische[s] Kennzeichen“, zu lenken: Wilhelms Unterlippe. Panizza deutet sie als Ausdruck von geistigem Hochmut und identifiziert, mit Verweis auf Darwins Ausdruck der Gemütsbewegungen (1872), das „Anspuken“ als „räsonablen Urakt“, in dessen Folge sich die hochmütige und menschenverachtende Unterlippe herausgebildet habe:
Durch die fortwährende Innervazjon vom Zentrum des Gemütslebens aus, im Sinne von „Spuk den an!“ oder „Du bist nicht mehr wert, als daß ich dich anspuke!“, fixirte sich dann dieße Unterlippe-Stellung. Wir finden sie beim Kaiser auf fast allen seinen Fotografien. Hier z.B. auch tipisch auf der kleinen Fotografie auf S. 99, wo er im Kostüm Karl’s X abgebildet ist.[19]
Es geht bei den Fotografien vom kostümierten Kaiser mit der brutalen Unterlippe nicht nur um eine verschmitzte Abdrift ins Karnevaleske, sondern darüber hinaus um die Erfassung und Darstellung eines bestimmten Machttypus, den man mit Foucault als ubuesk bezeichnen kann.
Abb. 4: Doppelseite aus Panizzas Imperjalja-Manuskript mit eingeklebter Abbildung von Wilhelm II. im Kostüm.
Foucault entwickelt den Begriff am Anfang seiner Vorlesung Die Anormalen: „Das Groteske oder [...] das ‚Ubueske‘ ist nicht einfach eine Kategorie der Verunglimpfung“, sondern „eine präzise Kategorie [...] historisch-politischer Analyse“, die sich dem Problem der unwürdigen Macht, der lächerlichen Autorität und grotesken Souveränität widmet.[20] Gemeint sind Formen von Macht und Souveränität, die zwar „durch Hassenswertes, Gemeines und Lächerliches disqualifiziert“ erscheinen, aber dennoch oder vielmehr gerade deshalb unbedingte Wirksamkeit entfalten. Denn für Foucault stellen ubuesker Terror und groteske Souveränität weniger einen Unfall oder eine Ausnahme dar, sondern sie sind als innerer Bestandteil von Machtmechanismen zu begreifen:
Wenn man die Macht ausdrücklich als abstoßend, gemein, ubuesk oder einfach lächerlich vorführt, geht es, wie ich denke, nicht darum, deren Wirkungen zu begrenzen [...]. Mir scheint es im Gegenteil darum zu gehen, eindeutig die Unumgänglichkeit und Unvermeidbarkeit der Macht vorzuführen, die auch dann noch in aller Strenge und in einer äußerst zugespitzten gewaltsamen Rationalität funktioniert, selbst wenn sie in den Händen von jemandem liegt, der tatsächlich disqualifiziert wird.[21]
Es liegt also eine gewisse Logik in der Figur des lächerlichen Herrschers. Sie übt eine Funktion aus, die auf die Maximierung von Machteffekten zielt: „Die Macht verlieh sich selbst dieses Bild, von jemandem auszugehen, der theatralisch gekleidet war und wie ein Clown, wie ein Hanswurst aussah“, schreibt Foucault über das Groteske bei Mussolini, das „absolut Teil der Mechanik der Macht“ gewesen sei.[22] Die theatralisch gekleidete Macht, der Souverän, der wie ein Clown oder Hanswurst aussieht – genau darum geht es in Panizzas Bildern vom verkleideten Wilhelm. In ihnen verkörpert und manifestiert sich die Souveränität im Modus des Theatralen, Hanswurstigen und Clownesken, und man kann die Imperjalja insofern als Analytik der Macht begreifen, die sich am Problem des Ubuesken entzündet. […]
Fragen lächerlicher Souveränität und ubuesker Macht haben Panizza schon vor den Imperjalja beschäftigt. Bereits 1898 legt er mit dem Drama Nero einen Text vor, der sich just jenem römischen Kaiser widmet, der als „erste große Figur infamer Souveränität“ gelten kann; das Stück entfaltet damit Urszenen eines Ubuesken, das Foucaults Einschätzung nach seine Ursprünge in der römischen Kaiserzeit hat: „Von Nero bis Heliogabal wurde [...] dieses Räderwerk grotesker Macht und infamer Souveränität im Römischen Reich dauerhaft ins Werk gesetzt“; es gehört gewissermaßen „zum Funktionieren der kaiserlichen Macht in Rom [...], in den Händen eines verrückten Histrionen zu liegen“.[23] Panizzas Regieanweisungen charakterisieren den römischen Kaiser als „jung, fett, als abgelebte[n] Dandy“, dessen Schlossgarten zwar von menschlichen Fackeln erleuchtet wird, der aber gleichzeitig wie ein verzogenes Kind auftritt, anspruchsvoll, ängstlich und näppisch: „Wischi-waschi! – Kling-Klang!“, fährt er seinem Philosophen Seneca über den Mund.[24] Panizzas Nero kann als eine Parodie auf Wilhelm II. gelesen werden, die sich am Vorbild von Ludwig Quiddes Caligula. Eine Studie über den römischen Cäsarenwahnsinn von 1894 orientiert, einer ebenfalls kaum verhüllten Satire über Wilhelm II., in der es unter anderem heißt: „Das Grausige und das Lächerliche grenzen hier hart aneinander“ und schlagen „gar leicht ins Kindlich-Komische um“[25] – eine treffende Umschreibung infamer Souveränität und grotesker, ubuesker Macht.
Es ist also ein ganzes Diskursnetz, das sich in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts um die Figur des ubuesken Souveräns spannt und in dem die Monarchiekritik der Imperjalja verortet werden muss.
Abb. 5: Auftaktdoppelseite aus Panizzas Imperjalja-Manuskript mit eingeklebter Abbildung von Wilhelm II.
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Elena Meilicke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medientheorie an der Universität der Künste Berlin und arbeitet als Redaktionsassistenz für die Zeitschrift für Medienwissenschaft. Sie schreibt regelmäßig zu Film- und Medienthemen für die Zeitschriften Cargo,Texte zur Kunst und Merkur.
[1] Oskar Panizza: Imperjalja. In Textübertragung herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Jürgen Müller. Hürtgenwald 1993, S. 43. Alle folgenden Zitate aus den Imperjalja beziehen sich auf diese Ausgabe. Panizza hat eine eigene, phonetische Schreibweise entwickelt, die in allen Zitaten unverändert übernommen wird.
[2] Thomas Frank, Albrecht Koschorke und Susanne Lüdemann (Hg.): Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte. Bilder. Lektüren. Frankfurt a. M. 2002, S. 9.
[3] Jacques Derrida: Verstohlene Prätexte. In: ders.: Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits. 2. Lieferung. Berlin 1980, S. 185–192, hier S. 187.
[4] Louis Marin: The Portrait of the King’s Glorious Body. In: ders.: Food for Thought. Baltimore 1997, S. 189–217, hier S. 216.
[5] Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg 2006, S. 408.
[6] Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 408.
[7] Dieser Zusammenhang spielt in mehreren Texten Panizzas eine Rolle. Vgl. Oskar Panizza: Die Kleidung der Frau, ein erotisches Problem. In: ders.: Mama Venus. Texte zu Religion, Sexus und Wahn, hg. von Michael Bauer. Hamburg 1992, S. 157–172. Für weitere literarische Auseinandersetzungen mit kleidungsfixierten Fetischismen vgl. Oskar Panizza: Der Corsetten-Fritz sowie ders.: Ein scandalöser Fall. In: ders.: Der Korsettenfritz. Gesammelte Erzählungen, München 1981, S. 203–222 sowie 230–264. Vgl. Renate Werner: Geschnürte Welt. Zu einer Fallgeschichte von Oskar Panizza. In: Bettina Gruber und Gerhard Plumpe (Hg.): Romantik und Ästhetizismus: Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Würzburg 1999, S. 213–233.
[8] Hinzu kommt ein weiterer Anachronismus: Wie eine Signatur in der unteren rechten Bildecke verrät, sind diese Bilder 1886 aufgenommen worden, zwei Jahre vor Wilhelms Thronbesteigung im Jahr 1888; sie zeigen den Kaiser also als Kronprinzen und Noch-nicht-Kaiser.
[9] Louis Marin: Das Porträt des Königs. Berlin/Zürich 2005, S. 352 und 344. Für eine gute Einführung zu Marin vgl. Vera Beyer, Anselm Haverkamp und Jutta Voorhoeve (Hg.): Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin. München 2006.
[10] Marin: Das Porträt des Königs, S. 24.
[11] Marin: Das Porträt des Königs, S. 15, kursiv im Original.
[12] Zit. nach Franziska Windt: Majestätische Bilderflut. Die Kaiser in der Photographie. In: Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hg.): Die Kaiser und die Macht der Medien. Berlin 2005, S. 67–97. Vgl. auch Matthias Bruhn: Bildwirtschaft. Verwaltung und Verwertung der Sichtbarkeit. Weimar 2003, insbesondere das Kapitel: Im Kostüm der Sichtbarkeit. Der Kaiser geht ins Fotostudio, S. 113–118.
[13] Marin: Das Porträt des Königs, S. 338.
[14] Klaus-D. Pohl: Der Kaiser im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Wilhelm II. in Fotografie und Film. In: Hans Wilderotter und Klaus-D. Pohl (Hg.): Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil. München 1991, S. 9–18, hier S. 14.
[15] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: ders.: Medienästhetische Schriften, hg. von Detlev Schöttker. Frankfurt a. M. 2002, S. 351–383, hier S. 357.
[16] Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: ders.: Medienästhetische Schrif- ten, hg. von Detlev Schöttker. Frankfurt a. M. 2002, S. 300–324, hier S. 312.
[17] Panizza: Imperjalja, S. 77.
[18] Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, S. 306.
[19] Panizza: Imperjalja, S. 97.
[20] Foucault: Die Anormalen. Frankfurt a. M. 2007, S. 28.
[21] Foucault: Die Anormalen, S. 30.
[22] Foucault: Die Anormalen, S. 29.
[23] Foucault: Die Anormalen, S. 28 und 29.
[24] Oskar Panizza: Nero. Tragödie in fünf Aufzügen. Zürich 1898, S. 6 und 59.
[25] Ludwig Quidde: Caligula. Eine Studie über den römischen Cäsarenwahnsinn. In: ders.: Caligula. Schriften über Militarismus und Pazifismus, hg. von Hans-Ulrich Wehler. Frankfurt a. M. 1977, S. 61–80, hier S. 70. Panizza erwähnt Quidde explizit, siehe Panizza: Imperjalja, S. 56.