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Kultur trotz Corona: „Die Trauermücken“. Von Suzanne Fischer

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Mandevilla sanderi

Suzanne Fischer wurde 1965 geboren. Sie lebt und arbeitet als Übersetzerin für Italienisch und Englisch in München. 2012 begann sie eigene Texte zu schreiben: Treatments für Drehbücher, Kurzgeschichten, Gedichte. 2017 wurde ein Text von ihr im Rahmen der literarischen Ausschreibung „Science meets fiction“ der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg prämiert. 2018 war sie im Rahmen der Feiern zum 100-jährigen Bestehen des Freistaats Bayern mit einem gerahmten Textbeitrag in der Gemeinschaftsausstellung des ver.di Kulturforums im Münchener Rathaus vertreten. 

Mit dem folgenden unveröffentlichten Text, der 2021 im Rahmen und inspiriert durch die Teilnahme an der virtuellen Nature writing-Schreibwerkstatt der Stiftung Kunst und Kultur (vormals Nantesbuch) entstand, beteiligt sich Suzanne Fischer an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einer Aktion des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Die Trauermücken

Seit einem Jahr umschwirren mich Trauermücken. Der Befall meiner Dipladenia begann zeitgleich mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Bis in den Spätherbst 2019 hatte die Tropenpflanze Mandevilla, wie ihr botanischer Name lautet, mittlerweile im zehnten Jahr samtig purpurrot auf dem Balkon geblüht. Alle Jahre wieder nahm ich sie vor dem ersten Frost in Schutz und stellte sie an das Fenster neben den Heizkörper in mein Büro. Und wie jedes Jahr wiederholte sich das gleiche Schauspiel: Ihre glänzenden, dunkelgrünen Laubblätter verfärbten sich zunächst gelb, bewahrten jedoch ihre saftige Konsistenz und fielen dann noch semi-welk ab. Die restlichen Blüten verdorrten und blieben hängen. Spitz um die eigene Achse verdrillt ragten sie wie die Stacheln auf der Außenhülle des Sars-CoV-2-Virus kerzengerade in den Raum, als wollten sie mir die Überwinterung in Innenräumen zum Vorwurf machen, waren sie doch für die freie Natur und wärmeren Gefilde ihrer Heimat Südamerika bestimmt. Ich streichelte dann immer sanft über ihre Blätter und redete ihnen gut zu. Anschließend goß ich sie und schaltete die Heizung für ihre und meine Überwinterung ein. Auf diese Weise hatten die Mandevilla und ich gemeinsam zehn Winter überstanden.

Die Gattung Mandevilla gehört zur Unterfamilie Apocynoidea, die Familie der Hundsgiftgewächse. Vor zehn Jahren setzte in Deutschland ein regelrechter Massenvertrieb dieser Tropenpflanze mit der in Rosa, Weiß und Rot leuchtenden Blütenvielfalt ein. Inzwischen beträgt der Absatz deutschlandweit 20 Millionen Topfpflanzen pro Jahr. Die Kultivierung der Pflanze dauert insgesamt 35 Wochen, ehe sie zumeist aus Spanien und Italien importiert, im deutschen Handel landet. Anbau und Import sind häufig dem Schädlingsbefall ausgesetzt: Insbesondere die Weiße Fliege und das Feuerbakterium (Xylella fastidiosa) setzen den Pflanzen zu. Das Feuerbakterium hat in der süditalienischen Region Apulien ganze Olivenhaine erfasst und dahingerafft. Der Krankheitserreger mit dem Adjektiv fastidioso – lästig – wird durch Zikaden übertragen, die mit ihrem Saugrüssel in die Pflanzengefäße eindringen und als Vektoren fungieren. Der Vektor transportiert einen Erreger vom Wirt auf einen anderen Organismus. Vektorimpfstoffe wie Astra Zeneca beruhen auf diesem Prinzip: Allerdings können sich Olivenbäume noch nicht gegen Xylella fastidioso impfen lassen.

Die Weiße Fliege ist nicht wie in der italienischen Sprache eine positiv konnotierte Ausnahme, sondern bezeichnet im Allgemeinen die Gewächshausmottenschildlaus (Trialeurodes vaporium). Sie schädigt, indem sie die Lymphe der Pflanze aussaugt und als Honigtau (Meltau ohne h) ausscheidet: eine klebrige, stark zuckerhaltige und transparente Substanz.

Ursprünglich in Mittelamerika beheimatet, wurde sie um 1848 nach Europa eingeschleppt. Außerhalb von Wohnungen und Gewächshäusern ist sie kaum überlebensfähig, da sie gegen Temperaturen um den Nullpunkt nicht resistent ist. Xylella fastidiosa und Trialeurodes vaporium sind also die natürlichen Feinde der Mandevilla. Benannt ist die Gattung nach dem britischen Gesandten Henry John Mandeville (1773-1861), der sie in Argentinien entdeckte. Hierzulande ist sie bekannter unter ihrem Handelsnamen Dipladenia, der sich aus dem Griechischen δίπλόος (diplóos = doppelt) und αδήν (aden = Drüse) nach den zwei Drüsen am Rand des Narbenkopfs herleitet.

In Deutschland blüht das Geschäft mit den diversen Sorten der Dipladenia. Fast jede Pflanzenfirma hat eine Diamantina, Sundaville oder Tropidenia im Sortiment. Die beiden letzten Sorten wurden auf Mandevilla sanderi gezüchtet und sind eingetragene Marken: Sundaville gehört der japanischen Firma Suntory Flowers Limited und die Marke Tropidenia dem Schweizer Jörg Meyer. Meine Dipladenia ist eine Agathe Robin mit gelbem Auge, die zur Diamantina-Sorte gehört und sich durch einen aufrechten kerzenförmigen Wuchs auszeichnet. 2020 erkrankte sie.

Zunächst vermutete ich in den kleinen schwarzen Fliegen, die täglich meinen Orbit störten, Frucht- oder sogenannte Obstfliegen. Mitten im Februar, da kein Obst auf dem Teller lag. Doch bald bemerkte ich, dass diese lästigen Mücken größer waren und zur Plage wurden. Tagsüber durchkreuzten sie meine Zoom-Konferenzen am Bildschirm, nachts surrten sie in meinen Ohren. Ich ertappte mich dabei, wie ich an Fensterscheiben und Spiegelflächen einige Exemplare genüsslich zerdrückte und dabei an die Worte des Dalai Lama dachte, der einmal einräumte, dass selbst er nicht allen Lebewesen mit der gleich Liebe und Gelassenheit begegnete. Mücken, beispielsweise, seien eine ganz besondere Herausforderung für ihn.

Die Fliegen vermehrten sich. Ich begriff nicht, wo sich ihr Ursprung befand. Die Blätter der Dipladenia trockneten aus und zerbröselten rispenweise. Ich vermutete Wassermangel und goss reichlich. Die Zweiflügler legten indessen feuchtfröhlich ihre Eier in das Wurzelwerk der anderen Kübelpflanzen ab. Nach und nach färbten sich die Blätter des Olivenbaums braun, rollten sich ein und fielen einfach ab. Der Zitronenbaum verwelkte. Die Passionsblume trieb keine Blüten mehr. Die Orchidee verkümmerte. Der Klee vertrocknete. Stattdessen bewegte sich das Erdreich in den Blumentöpfen und Pflanzenkübeln in unablässigem Auf und Ab. Ich nahm die Schädlingsbekämpfung mit chemischen Mitteln auf. Vergeblich. Waren die Pflanzen erst einmal überwässert, hatten sich bereits so viele Nymphen gebildet, dass die Erde komplett ausgetauscht werden musste. Doch auch das half nicht.

Erst Quarzsand und SF-Nematoden – winzige Fadenwürmer, die sich ausschließlich von den Larven der Trauermücke ernähren – sowie Gelbtafeln, an denen die bereits entpuppten Mücken kleben blieben, konnten das Phänomen eindämmen. Die Fadenwürmer tragen die Initialen SF. Das steht für Steinernema feltiae. Sie bohren sich in die Nymphen der Trauermücken und halten dort ihr Festmahl, so lange bis alle Larven verzehrt sind. Danach verhungern sie. Kurzfristig schien das Phänomen mit dem richtigen Mittel bekämpft worden zu sein: Die Gelbtafeln waren unverzüglich schwarz gepunktet, übersät von verendeten Insekten, ausgerissenen einseitigen Flügelklappen und staksigen Beinchen und Saugrüsseln. In das Erdreich kehrte Ruhe ein. Durch das Zimmer surrten keine Mücken mehr. Nematoden sind sehr temperaturempfindlich. Unter 8 Grad Celsius Außentemperatur werden sie weder versandt noch vergossen. Bestellt hatte ich sie über den Internethandel. Sie wurden kuvertiert in einem dünnen Briefpapier im getrockneten, pulverisierten Aggregatzustand geliefert. Ich ließ sie in fünf Liter Wasser aufquellen und vergoß sie gleichmäßig auf alle Pflanzen.

Ein kurzes Aufatmen, ich wähnte mich und meine Pflanzen in Rekonvaleszenz. Zehn Tage später folgte eine explosionsartige Vermehrung der Plagegeister. Wie vor jedem Sterben ein letztes Aufbäumen, ein letztes Aufblühen und die Illusion des ewigen Lebens entsteht, so schienen auch die Pflanzen sich kurzfristig zu erholen. Vordergründig. Der erneute Befall ließ sich erst an den Wurzeln erkennen, die bereits zu sehr geschädigt waren. Lebenswichtige Gefäße waren verstopft und faulten ab.

Der Ursprung allen Übels lag im Boden des roten Plastikkübels der Dipladenie. Dort hatte sich eine schleimig schlierige Masse aus abgestorbenen Partikeln und Algen als eine Art Stauwehr gebildet. Auf der Unterseite des Kübelbodens befanden sich fünf fingerhutgroße Auskragungen nach innen, doch nur eine war durchbohrt und zur Ableitung überschüssigen Wassers in den Untersatz geeignet. Darüber hinaus hatte ein schwarzer Gittereinsatz am Boden eine weitere Barriere gebildet und dafür gesorgt, dass sich zunächst das Wasser und jetzt ein gräulich inerter Schleim aus Algen und Nematoden am Boden stauen konnte. Eine Fehlkonstruktion des Herstellers oder meine Unachtsamkeit beim Umtopfen. Hätte ich die restlichen vier Auskragungen durchstochen, wäre das Wasser vielleicht abgeflossen. Zu spät. Jetzt blieb nur die endgültige Entsorgung und Trennung von meinen Pflanzen übrig. Schweren Herzens leerte ich die Erden aus den Töpfen mit Fliegen, Schleim und Wurzelwerk in schwarze Plastiksäcke und entsorgte sie fest verzurrt in der Mülltonne.

Die Plastiksäcke waren schwarz und aus extra starker Folie reissfest für schweren Hausrat kalandriert. Nun lagen sie prall gefüllt ordnungswidrig in der grauen Tonne für Restmüll. Ein Sack hatte einen schmalen Riss bekommen. Aus ihm pulten sich scharenweise Trauermücken. Sie krochen über die anderen Müllsäcke und wühlten sich durch den Abfall ans Tageslicht. Durch den Spalt zwischen Deckel und Tonnenbehälter drangen sie nach außen und flogen wie Kampfgeschwader durch die Luft. Im Fadenkreuz der Insektenaugen die Kübelpflanzen in unserem Hinterhof: der Efeu, die vier Lebensbäume – Thujas –, die der Nachbar gerade erst mit seiner Familie gepflanzt hatte, der Rhododendron, der Oleander. Schon setzten sie zum Landeanflug an, um sich durch die Blumenerde zu wühlen und ihre Eier abzulegen. Es war eine Frage der Zeit, wann sämtliche Pflanzen in unserem Hof verwelken und den gefrässigen Nymphen zum Opfer fallen würden. Warum nur hatte ich die Säcke nicht taggleich mit der Tonnenleerung entsorgt? Jetzt hatten die Trauermücken genug Zeit zur ungebremsten Vermehrung. Nach und nach befielen sie alle Pflanzen im Hof. Mitten im Frühjahr fielen die Blätter ab, zurückblieben vertrocknete graue Äste ohne Blattgrün. Zu viel dicht gedrängtes Totholz.

Ich erwachte an dem Quietschen und ruckartigen Klappern der Hebebühne eines Nutzfahrzeugs des Abfallwirtschaftsbetriebs München. Der orangefarbene Müllwagen trug die Aufschrift „Wer wirklich Stil hat, vermeidet Plastik. Für München ist Plastik nicht mehr tragbar“. Über allem thronte eine weiß gekleidete Frau, die vorwurfsvoll mahnend vom Werbeplakat blickte. Wegen der Feiertage war die Müllabfuhr einen Tag später als gewöhnlich gekommen, und riss mich aus meinem Alptraum. Wie erleichtert ich war, als die Müllmänner die geleerte Tonne in den Hof zurückschoben. Alles hat seine Zeit. Die der Trauermücken war nun abgelaufen.