Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (18). Und macht eine Reise vor dem inneren Auge
Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.
Sechs Monate lang schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln.
Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.
*
18
Ich war mit dem Zug unterwegs. Von München aus über das Allgäu an den Bodensee bis ins Schweizer Appenzell. Und wieder zurück.
Und klar, im Zug ist man drinnen. Sitzt so hinter der Scheibe, während draußen schöne Landschaft um schöne Landschaft vorbeizieht, wenn man auf der richtigen Strecke unterwegs ist. Erstens. Aber zweitens, wenn man wirklich hinausschaut, sieht man viel.
Was man ja gar nicht tun muss. Denn der Zug ermöglicht ja vieles. Man kann ausführlich lesen, kann ausführlich arbeiten, kann ausführlich auf seinem Smartphone herummachen. Nur zum Beispiel. Das ist das Schöne am Zugfahren, dass man ihn nicht selbst lenken muss. Nur deshalb kann man: schauen.
Ich halte schauen für eine vollkommen unterschätzte Beschäftigung. Alle reden über gehen und wandern und essen und trinken und heimwerken und (maximal) fernsehen. Aber einfach mal schauen, was draußen in der Landschaft passiert, einfach mal still halten am Zugfenster und nichts anderes tun, als schauen. Weil schauen eine Beschäftigung ist.
Wo kämen all die guten Filme her, woher kämen all die detailreichen Texte, woher kämen all die impressionistischen und expressionistischen und sogar die abstrakten Kunstwerke, wären da nicht Menschen, die schauten. Ganz genau hinschauten. Auf das, was da draußen passiert.
Beim Schauen nämlich sieht man nicht nur etwas, es geschieht auch etwas vor dem inneren Auge. Es geschieht auch etwas im Kopf. In den Gedanken. Es geschieht auch etwas, dort, wo sich dieser Speicher befindet, den wir Gehirn nennen und der die große Fähigkeit hat, das was wir sehen, aufzubewahren, als Erinnerung, als Form, als Struktur. Und irgendwann wiederzugeben, in welcher Form auch immer. So wie es war oder eben ganz anders.
Ich schreibe das hier hin, obwohl wir das alles wissen. Aber manchmal muss man sich das, was man weiß, auch wieder bewusst machen.
Ich bin also durch Landschaften gefahren, weiche Hügel im Allgäu, kleine Seen, kleine Dörfer, Kühe, ein paar Menschen. Schließlich der Bodensee, Wasser und Segelboote und Wasser und Segelboote und ein Tretboot. Dann Industrie. Und dann, in der Schweiz: andere Hügel und andere Häuser an Hügeln und irgendwann Hügel hinter den Hügeln und schließlich auch noch Berge hinter den Hügeln und so weiter.
Und wenn Sie mich nun fragen, was ich gesehen habe:
Ich habe Bilder gesehen, Schnappschüsse, Langzeitbelichtungen, Überbelichtungen, Stillleben, Licht. Ich habe Strukturen gespeichert, in Formen und Farben, Linien, Flächen.
Ich kann mich an keine Bewegung erinnern. Nur an die des Zuges. Und die meiner Augen, deren ganze Aufmerksamkeit sich darauf richtete, möglichst schnell all das zu sehen, zu scannen, was draußen vorbeizieht. Was bleibt ist eine Reise vor meinem inneren Auge. Was draußen war, ist nach innen gelangt.
Weil ich rausgeschaut habe, nichts weiter.
**
Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.
Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (18). Und macht eine Reise vor dem inneren Auge>
Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.
Sechs Monate lang schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln.
Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.
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18
Ich war mit dem Zug unterwegs. Von München aus über das Allgäu an den Bodensee bis ins Schweizer Appenzell. Und wieder zurück.
Und klar, im Zug ist man drinnen. Sitzt so hinter der Scheibe, während draußen schöne Landschaft um schöne Landschaft vorbeizieht, wenn man auf der richtigen Strecke unterwegs ist. Erstens. Aber zweitens, wenn man wirklich hinausschaut, sieht man viel.
Was man ja gar nicht tun muss. Denn der Zug ermöglicht ja vieles. Man kann ausführlich lesen, kann ausführlich arbeiten, kann ausführlich auf seinem Smartphone herummachen. Nur zum Beispiel. Das ist das Schöne am Zugfahren, dass man ihn nicht selbst lenken muss. Nur deshalb kann man: schauen.
Ich halte schauen für eine vollkommen unterschätzte Beschäftigung. Alle reden über gehen und wandern und essen und trinken und heimwerken und (maximal) fernsehen. Aber einfach mal schauen, was draußen in der Landschaft passiert, einfach mal still halten am Zugfenster und nichts anderes tun, als schauen. Weil schauen eine Beschäftigung ist.
Wo kämen all die guten Filme her, woher kämen all die detailreichen Texte, woher kämen all die impressionistischen und expressionistischen und sogar die abstrakten Kunstwerke, wären da nicht Menschen, die schauten. Ganz genau hinschauten. Auf das, was da draußen passiert.
Beim Schauen nämlich sieht man nicht nur etwas, es geschieht auch etwas vor dem inneren Auge. Es geschieht auch etwas im Kopf. In den Gedanken. Es geschieht auch etwas, dort, wo sich dieser Speicher befindet, den wir Gehirn nennen und der die große Fähigkeit hat, das was wir sehen, aufzubewahren, als Erinnerung, als Form, als Struktur. Und irgendwann wiederzugeben, in welcher Form auch immer. So wie es war oder eben ganz anders.
Ich schreibe das hier hin, obwohl wir das alles wissen. Aber manchmal muss man sich das, was man weiß, auch wieder bewusst machen.
Ich bin also durch Landschaften gefahren, weiche Hügel im Allgäu, kleine Seen, kleine Dörfer, Kühe, ein paar Menschen. Schließlich der Bodensee, Wasser und Segelboote und Wasser und Segelboote und ein Tretboot. Dann Industrie. Und dann, in der Schweiz: andere Hügel und andere Häuser an Hügeln und irgendwann Hügel hinter den Hügeln und schließlich auch noch Berge hinter den Hügeln und so weiter.
Und wenn Sie mich nun fragen, was ich gesehen habe:
Ich habe Bilder gesehen, Schnappschüsse, Langzeitbelichtungen, Überbelichtungen, Stillleben, Licht. Ich habe Strukturen gespeichert, in Formen und Farben, Linien, Flächen.
Ich kann mich an keine Bewegung erinnern. Nur an die des Zuges. Und die meiner Augen, deren ganze Aufmerksamkeit sich darauf richtete, möglichst schnell all das zu sehen, zu scannen, was draußen vorbeizieht. Was bleibt ist eine Reise vor meinem inneren Auge. Was draußen war, ist nach innen gelangt.
Weil ich rausgeschaut habe, nichts weiter.
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