Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (17). Und schaut einem Rehbock in die Augen, was gut geht
Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.
Sechs Monate lang schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln.
Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.
*
Audiolesung von Sandra Hoffmann:
17
Man muss sich das so vorstellen, das Haus liegt auf drei Seiten von Wald und Wiese umschlossen, mitten auf der Straße der Rehe, der jagenden Katzen, der Fasane und wessen auch immer.
Wenn der kleine Bock – der seit diesem Frühling alleine unterwegs ist, weil die Ricke, die seine Mutter ist, zwei neue Kitze durchs Strauchdickicht führt – wenn der kleine Bock also, aus dem Wald herunter kommt, um dort hinüber zu gehen, wo das Gebüsch dicht und artenreich und nahrhaft ist, und keinen Umweg machen will, muss er bei uns über die Wiese gehen. Was er anscheinend gerne macht. Er liebt die nahrhaften gelben Blüten des Löwenzahns.
Mitten im Löwenzahn stehend also, sieht er am Morgen mich, auf die Terrasse kommend. Es ist noch kühl, ich bin im Schlafanzug. Ich sehe ihn erst auf den zweiten Blick, erst nachdem er mich wahrscheinlich längst wahrgenommen hat. Der kleine Bock trägt sein erstes Geweih und seine Decke ist noch scheckig, halb grauer Winterpelz, halb braunes Sommerfell. Und er steht da in der Wiese, fünfzehn Meter von mir entfernt und schaut mich an. Und ich stehe da und schaue ihn an.
Wir stehen also da, Auge in Auge, der Bock und ich. Er ist es, der mich nicht aus dem Blick lässt, still steht er, sieht mich, scannt mich, steht still, ruhig, bleibt ruhig stehen. Eine Minute, zwei Minuten, drei sogar, in denen nichts geschieht.
Nur er ist da und ich.
Und wir sehen uns, wir schauen uns in die Augen. Dann springt der Bock über das Rinnsal, das die Wiese teilt. Und kurz bevor auch ich ihn nicht mehr sehen werde, weil er in den Hang, der seine Mutter und die Kitze schützt, hineinspringt, hält er noch einmal inne. Er wendet sich um. Schaut. Schaut mir in die Augen. Ich ihm. Ich stehe still. Ich tue nichts. Schaue nur. Er verabschiedet sich.
Am Nachmittag als die Sonne sich einmal kurz zeigt, pirscht eine große wild ausschauende schwarze Katze durch die Wiese. Wir haben sie erst wenige Male gesehen, aber sie kennt uns, anscheinend. Mit ihren gelbgrün funkelnden Augen streicht sie die Wiese hinauf, mich auf der Terrasse nicht aus den Augen lassend, bereit zum Angriff, um kurz vor den Holzdielen für einen Augenblick wegzuschauen, um alle Lust einem Falter zuzuwenden. Und um dann abzudrehen. Für einen Augenblick hat mein Herz da höher geschlagen, mehr aus Furcht vor dem wilden schwarzen Wesen, als aus Freude.
Dann fällt mein Blick in den Hang, weil da eine Bewegung war. Und da steht er wieder, weit drüben zwischen den Farnen, den kleinen Buchen, dem wilden Holunder, den sprießenden Brombeeren, jungen Eschen. Der kleine Bock. Und er schaut. Und wir sind jetzt zu zweit auf der Terrasse, und er hört uns reden, sieht uns, und er weiß, wir sehen ihn, so wie wir wissen, dass wir von ihm gesehen werden, gehört werden. Lange steht er da, und erst als wir eine ganze Weile den Blick schon von ihm gelassen haben, äst er ruhig zwischen den Büschen weiter.
Er ist da und wir sind da. Und das geht. Gut.
**
Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.
Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (17). Und schaut einem Rehbock in die Augen, was gut geht>
Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.
Sechs Monate lang schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln.
Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.
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Audiolesung von Sandra Hoffmann:
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Man muss sich das so vorstellen, das Haus liegt auf drei Seiten von Wald und Wiese umschlossen, mitten auf der Straße der Rehe, der jagenden Katzen, der Fasane und wessen auch immer.
Wenn der kleine Bock – der seit diesem Frühling alleine unterwegs ist, weil die Ricke, die seine Mutter ist, zwei neue Kitze durchs Strauchdickicht führt – wenn der kleine Bock also, aus dem Wald herunter kommt, um dort hinüber zu gehen, wo das Gebüsch dicht und artenreich und nahrhaft ist, und keinen Umweg machen will, muss er bei uns über die Wiese gehen. Was er anscheinend gerne macht. Er liebt die nahrhaften gelben Blüten des Löwenzahns.
Mitten im Löwenzahn stehend also, sieht er am Morgen mich, auf die Terrasse kommend. Es ist noch kühl, ich bin im Schlafanzug. Ich sehe ihn erst auf den zweiten Blick, erst nachdem er mich wahrscheinlich längst wahrgenommen hat. Der kleine Bock trägt sein erstes Geweih und seine Decke ist noch scheckig, halb grauer Winterpelz, halb braunes Sommerfell. Und er steht da in der Wiese, fünfzehn Meter von mir entfernt und schaut mich an. Und ich stehe da und schaue ihn an.
Wir stehen also da, Auge in Auge, der Bock und ich. Er ist es, der mich nicht aus dem Blick lässt, still steht er, sieht mich, scannt mich, steht still, ruhig, bleibt ruhig stehen. Eine Minute, zwei Minuten, drei sogar, in denen nichts geschieht.
Nur er ist da und ich.
Und wir sehen uns, wir schauen uns in die Augen. Dann springt der Bock über das Rinnsal, das die Wiese teilt. Und kurz bevor auch ich ihn nicht mehr sehen werde, weil er in den Hang, der seine Mutter und die Kitze schützt, hineinspringt, hält er noch einmal inne. Er wendet sich um. Schaut. Schaut mir in die Augen. Ich ihm. Ich stehe still. Ich tue nichts. Schaue nur. Er verabschiedet sich.
Am Nachmittag als die Sonne sich einmal kurz zeigt, pirscht eine große wild ausschauende schwarze Katze durch die Wiese. Wir haben sie erst wenige Male gesehen, aber sie kennt uns, anscheinend. Mit ihren gelbgrün funkelnden Augen streicht sie die Wiese hinauf, mich auf der Terrasse nicht aus den Augen lassend, bereit zum Angriff, um kurz vor den Holzdielen für einen Augenblick wegzuschauen, um alle Lust einem Falter zuzuwenden. Und um dann abzudrehen. Für einen Augenblick hat mein Herz da höher geschlagen, mehr aus Furcht vor dem wilden schwarzen Wesen, als aus Freude.
Dann fällt mein Blick in den Hang, weil da eine Bewegung war. Und da steht er wieder, weit drüben zwischen den Farnen, den kleinen Buchen, dem wilden Holunder, den sprießenden Brombeeren, jungen Eschen. Der kleine Bock. Und er schaut. Und wir sind jetzt zu zweit auf der Terrasse, und er hört uns reden, sieht uns, und er weiß, wir sehen ihn, so wie wir wissen, dass wir von ihm gesehen werden, gehört werden. Lange steht er da, und erst als wir eine ganze Weile den Blick schon von ihm gelassen haben, äst er ruhig zwischen den Büschen weiter.
Er ist da und wir sind da. Und das geht. Gut.
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