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11.03.2013, 17:00 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [101]: Wo sonst findet man Oasen?

Auch, wenn's absurd anmutet: hier wohnte Jean Paul, als er in Berlin zu Gast war und beim Verleger der Unsichtbaren Loge logierte[1]: An der ehemaligen Stechbahn (Foto: Frank Piontek, 4.3. 2013). Die Graphik eines anonymen Zeichners zeigt die räumliche Situation akkurat in jener Zeit, als der Dichter hier weilte – und eine bedeutend schönere Aussicht auf Schloss und Schlossfreiheit hatte als die traurigen Nachgeborenen, die aufs Freigelände, die Simulation der Schinkelschen Bauakademie und die (in Berlin natürlich übliche) Riesenbaustelle des Schlossneubaus schauen.

Um ein Wort Theodor Fontanes zu variieren: Es war im Mai, im schönen Mai, als die Berliner Blätter grünten... da reiste Jean Paul zu seinem Verleger, in die preußische Hauptstadt. Bei der Spurensuche hilft der gute – nein: der wirklich gute Vornamenvetter des Logen-Verlegers, also Karl Voß, der 1980 den besten Reiseführer für Literaturfreunde: Berlin veröffentlicht hat. 503 Seiten Informationen über Stätten und Menschen. Folgen wir dem Cicerone, so erfahren wir, dass der 37jährige Autor vom 23. Mai bis 24. Juni 1800 bei seinem Verleger Karl Matzdorff wohnte. Dessen Haus lag damals An der Stechbahn, an der Westseite des Schlosses, genauer: zwischen der Brüderstraße und der Schleusenbrücke.

Wer sich heute von Süden nähert, indem er vom Bahnhof Französische Straße – vorbei am dominanten Gendarmenmarkt mit seinen beiden Kirchtürmen und dem nach Jean Pauls Besuch errichteten Schauspielhaus – Richtung Schlossplatz läuft, kann sich kaum noch die damalige Situation vorstellen: nur den leeren Raum sehen, in dem er sich die alten Häuser vergegenwärtigen kann (wenn er denn kann). Kaum möglich, sich die „köstlich-seidenen Stühle, Wachslichter, Erforschen jeden Wunsches“ zu imaginieren, die den Dichter der Loge, des Hesperus, des Siebenkäs und des ersten Titan-Bandes bei Herrn Matzdorff überraschten, der sein Brot nicht allein mit der Literatur verdiente: auch als Kommerzienrat. Jean Paul mochte das nicht so sehr: im Haus Herrn Matzdorffs von einem „Pack Gelehrte“ gefeiert zu werden. Hier traf er den Aufklärer Christoph Friedrich Nicolai, den er „langweilig“ fand (Goethe persiflierte sein Aufklärertum in einem witzigen Vers des Faust). Die Gegend bleibt kahl auch mit dieser Kenntnis, die Stadtwüste hilft der Imagination nicht auf die Sprünge. Ja, „Berlin ist eine Sandwüste, aber wo sonst findet man Oasen?“, sagte schon der Dichter – ein Wort, das in seltsamer Weise an Fontanes Sentenz über Jean Pauls Werke erinnert.

Es gibt in der Gegend sage und schreibe nur noch zwei Gebäude aus der Jean-Paul-Zeit, die uns bei der Fantasiearbeit helfen könnten: in der Brüderstraße 10; drei Häuser weiter residierte Herr Nicolai. Das schöne „Galgenhaus“ könnte allerdings auch „Süßmilchhaus“ heißen, denn hier wohnte Johann Peter Süßmilch, den Jean Paul ein paar Jahre vor der Loge in seinen Grönländischen Prozessen zitiert hatte:

Von dieser scheinbaren Ausschweifung kommen wir auf den Versuch zurück, die zu sehr verschrieene Empfindsamkeit von ihrer verkannten Seite darzustellen; und das schöne Geschlecht zu überreden, dass es auch sein eigner Vorteil sei, so viel wie sonst zu weinen. Das Stärkste, womit man die Empfindsamkeit angepriesen und was wir jetzt wiederholen, ist unstreitig dies, dass sie die Bevölkerung, auf welcher das Wohl eines jeden Staates ruhet, nicht wenig befördere. Wie bei der Beschneidung, so ist es bei ihr nur das kleinere Verdienst, die Seele geheiligt zu haben; wenn man es mit dem zweiten vergleichet, die Fruchtbarkeit des Körpers vernichtet zu haben; wenigstens nützen beide der Erde eben soviel wie dem Himmel. Die arithmetische Fortsetzung unsers Beweises überlassen wir einem zweiten Süßmilch.

So scheint mal wieder, wie Hofmannsthal sagen würde, alles zu allem zu kommen: auch und gerade in Berlin, diesem immerwährenden Schmelztiegel und Verbindungsapparat gelehrter Leute, unter denen sich Jean Paul als temporärer, von den Berlinern gefeierter Berliner Jungautor sehr gut machte.



[1] Entschuldigung, aber dieser Kalauer war zu naheliegend, um ihn nicht zu bringen.