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Kultur trotz Corona: „Die Beethoven-Tracks“. Von Jürgen Bulla

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Joseph Karl Stieler (1781-1858): Proträt von Ludwig van Beethoven beim Komponieren der "Missa Solemnis", 1820

Jürgen Bulla (* 1975 in München) studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie, um zunächst als Deutsch- und Englischlehrer zu arbeiten. Seit 1995 begann er Gedichte und Prosatexte in Zeitschriften und Anthologien zu veröffentlichen. Außerdem liegen Übersetzungen englischsprachiger Lyrik von ihm vor. Bulla ist Kurator der Lesereihe „Season II“ und Mitveranstalter der Lesereihe „Lyrik im Caveau“. Daneben hat er sich als Mitveranstalter des Müchner Poetry Slam im Substanz engagiert und redaktionell bei verschiedenen Ausgaben der Lyrik-Zeitschrift Das Gedicht gearbeitet. 2004 erhielt er das Aufenthaltsstipendium der Staatsregierung Schleswig-Holstein im Künstlerhaus Kloster Cismar.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Text zum heutigen 250. Geburtstag des Komponisten Ludwig van Beethoven (getauft 17.12.1770 in Bonn - gest. 26.3.1827 in Wien) beteiligt sich Jürgen Bulla an Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Die Beethoven-Tracks

 

Track 1: Der Meister erscheint seinen Jüngern im Weinstein

Bei Mayer am Pfarrplatz in Wien-Heiligenstadt fällt sofort auf, dass Beethoven nicht da ist. Ja, wo ist er denn? Schwimmt er im Heurigen? Vermischt er sich mit dem gemischten Satz? Oder reliquiert er als Leib Ludwigs im Pressack und in der Blunzen? Die Tachinierer des Nachmitttags besemmeln einander im Gastgarten und schieben Wurst nach, eingerahmt von niedrigen Wänden mit ockergelbem Putz, Biedermeierfenstern und Dachschindeln, und über uns hangelt sich der Efeu über den Hof. 1817 war er da, nur kurz, viel kürzer, als die Berühmtheit des Ortes vermuten ließe. Die Stiege hoch zu seiner Wohnung, verschlossene Tür. So kanns gehen, wohnhaft im Weingut, und trotzdem nur den schlechten Weißwein, bleizuckerversetzt, Gelbsucht, Leberzirrhose, während wir unsere Heurigenkrügerl zum Mund führen, eins und noch eins, Bratenkruste, Schmalzbrot, und die ungewohnt starke Aprilsonne, die die Akkorde aus der Quetschen des Musikers am Eingangstor nach oben ins Licht zu lenken scheint. Siehst du, am Ende des dritten Krügerls, wie der Weinstein am Glasboden sich allmählich zu einem Gesicht formt? Du blickst in das Porträt des Künstlers, auf dem er, ganz der versoffene Choleriker, stinksauer aussieht, weil sich irgendwas nicht fügt, oder das Frühstück ausblieb. Bist du der Einzige, der es sieht? Auch andere Tachinierer, deren Augenlider schwer zu werden und mit dem Kopf in Richtung des Krügerls zu sinken begannen, schrecken hoch und blicken zurück ins Glas, blinzeln hinauf in die Sonne, sehen sich um, hier und da winkt man sich zu, schauen hinauf zu Beethovens Wohnung, und tatsächlich öffnet sich knarrend die Tür. Heraus rollt ein Holzfass und hinter ihm ein schwitzender Glatzkopf in Tracht, ebenfalls von fässlicher Statur, der sich aufrichtet, so gut es geht, mit einem Taschentuch die hohe Stirn betupft und einen Moment lang zusammenzuckt, als er die vielen, auf sich gerichteten Blicke wahrnimmt. Sekunden der Spannung, dann ruft jemand etwas Wienerisches. Alles lacht, der Fassmann lächelt.

 

Track 2: Kopfunter: Das fünfte Klavierkonzert

Wir rheinischen Frohnaturen, unsere debile Fröhlichkeit, gesellig auch ich, und will meine Ruhe haben, da kommt so ein hinkender Typ mit ausgezehrtem Gesicht und ruft dauernd „fabelhaft, mein Lieber, fabelhaft!“, sieht aus wie einer dieser alten roten Hydranten, der anstatt Wasser Feuer speit, das spüre ich auf den ersten Blick, ich hör schon den Kanonendonner, und dann stellt er sich als gänzlich Linksrheinischer heraus, er explodiert vor wütender Energie, der laufende Meter, ich hab ihn im Kopf, hab alles im Kopf, den ich unter dem Kopfkissen verstecke, der Tinnitus, wie das Weltgeräusch sich meiner bemächtigt, ich will es nicht hören, das Morden und Brandschatzen, die Vergewaltigungen und die Schreie der Verwundeten, Sterbenden, zum Trotz Überlebenden, ich will nicht ihre versehrten Seelen, die um mich schwirren wie ein satanischer Chor, ich muss reagieren, mit einem triumphalen ersten Satz, was kümmert mich Bonaparte, es geht um den Triumph der Kunst über die Unmenschlichkeit, die Ungleichheit, die Ungerechtigkeit, und in meinem Kopf unter meinem Kissen spüre ich, wie sich der Geniestreich anfühlt, das Notenpapier auf dem Nachttisch, blind mit dem Gesicht auf dem Laken schmier ich die Töne hin, lass sie direkt aus dem Kopf aufs Laken, und vom Laken aufs Papier tropfen, und halt mir die Ohren zu, denn wenn das Weltgeräusch sich über meinen Körper hermacht, zerrinnt der Geist der Musik, zerrinnt mein eigener Ton, ach wär ich auf einer einsamen Insel, aber wäre ich auf einer einsamen Insel, dann würde der triumphale Satz nicht erklingen, denn, das spür ich, er entsteht aus Reibung, Reibung mit den Misstönen der Schlacht um Wien, der untergehenden Menschheit, deren Fortbestehen nur die Musik bewirken kann.

Wir brauchen einen melodischen, stillen, verspielten zweiten Satz, wir müssen uns auf dem Schlachtfeld bewegen wie ein Hirte zwischen seinen Schafen, die pastorale Idylle beschwören, während um uns herum gestorben wird, ohne Mut und ohne Angst, in ewig teilnahmslosem Trotz, wie in dem Coppola-Film mit dem Hauptmann, der im Geschützfeuer zum Surfen einlädt, wenn ich sage, dieser Strand ist sicher, dann ist dieser Strand sicher, so müssen wir es machen, hier im Bett unter dem Kissen, der liebreiche, sorglose zweite Satz. Der dritte wird sich von selbst ergeben.

Karl Bauer: Ludwig van Beethoven, Farblithographie 1905. Foto: Bayerische Staatsbibliothek, Porträtsammlung

 

Track 3: Der Soundtrack von Bonn

Es waren nicht die Schlösser und Kirchen von Bonn, die mich die Töne lehrten. Gewiss, ich verkehrte dort und war nicht unglücklich dabei. Ich denke an das Haus, in dem die Pferde standen. Ich denke an die weitere Nutzung dieses Stalls als Werkstatt für einen Steinmetz. Steinsägen schnitten rund um die Uhr, auch sonntags. Ich denke an die Hochzeit in der Rheingasse, bei der die Gäste vier Tage lang sangen und musizierten. Den starken Verkehr auf der Straße. Die Kutschen und die Lastkarren, auf ihrem Weg zum Fluss. Pferde und Ochsen, das unaufhörliche Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster, das macht schon einen Rhythmus, der sich im Innenohr festsetzt als paneuropäisches Lebenstempo.

Was ich auch nicht vergessen kann: das Knattern und Knarren von Segeln und Takelagen. Die Frachtschiffe, die auf dem Rhein vorbeizogen, und der Lärm der Ladestationen, der immer nach äußerer Aufregung und innerer Ordnung klang. Die enge Bebauung der Rheingasse, die Hellhörigkeit der Räume, die tobenden Kinder mit ihrem Geschrei auf dem Steinboden, und immer wieder das musikalische Treiben der Mieter, auch wenn mich das vermutlich am wenigsten geprägt hat, denn trotz einiger Profis, die da auch am Werk waren, war mir damals schon Vieles davon deutlich zu dilettantisch, vor allem, weil zu deutlich. Man sprach oft von der Aggressivität meiner Kompositionen, und dass der Wille zur einer freiheitlichen Ordnung dahinterstehe, ich denke aber, die Trommelwirbel, die Fanfaren und die anderen Exklamationen hängen mehr mit dem Fallen von Zinnsoldaten auf kalten, steinernen Boden, mehr mit dem nachhallenden Aufstampfen gewichtiger Ochsen auf der Straße, und mehr mit den groben Kommandos der Arbeiter auf den Ladestationen zusammen, als mit meiner – zugegeben vorhandenen – Vision von Freiheit und Gleichheit. Es war immer schwierig, diese Vision aufrecht zu erhalten und gleichzeitig in die Knie zu gehen, angewiesen auf adelige Gönner, aber trotz meines unsteten Gemüts habe ich es hinbekommen. Das Wichtigste war die Bewahrung des Bonner Soundtracks. Die ersten Eindrücke des Lebens sind es, die zählen, alles Spätere, ob du es hören kannst oder nicht, vergleichsweise bedeutungslos.